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Die Türkei im Nahen Osten - vom Rising Star zum Troublemaker | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Die Türkei im Nahen Osten - vom Rising Star zum Troublemaker

Burak Çopur

/ 9 Minuten zu lesen

Für Burak Çopur hat sich die Türkei von einer aufstrebenden Regionalmacht zu einem Problemland entwickelt. Mit dem Wechsel von einer Soft-Power- zu einer Hard-Power-Strategie habe nicht nur der internationale Abstieg der Türkei begonnen. Vielmehr sei auch ihre Außenpolitik zunehmend von einer sunnitisch-islamischen Ausrichtung bestimmt worden.

26.11.2015: Der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu empfängt hohe MIlitärs in Ankara. Zuvor hatte die türkische Armee einen russischen Bomber im syrisch-türkischen Grenzgebiet abgeschossen. (© picture-alliance/dpa)

Anfangs gehörte die Türkei zu den Gewinnern des "Arabischen Frühlings" 2010/2011. Sie ergriff nach kurzem Zögern Partei für die Revolte. Im Fall Ägyptens und Tunesiens empfahl die türkische Regierung den Diktatoren Mubarak und Ben Ali den Rücktritt und schlug sich auf die Seite der Demonstranten. Von Gaddafi in Libyen distanzierte sie sich ebenfalls und übernahm zeitweise eine Vermittlerrolle zwischen Regime und Rebellen. Die Türkei gab schließlich auch ihre Parteinahme für Assad in Syrien auf.

Nach einer 2012 veröffentlichten repräsentativen Studie in 16 Ländern des Nahen Ostens wurde die Türkei von 78% der Befragten zum populärsten Land ernannt. Weiterhin sahen 61% die Türkei als Modell für die arabischen Staaten an. Zu den meistgenannten Gründen zählten die türkische Demokratie (32%), die Wirtschaft (25%) und die muslimische Identität (23%).

Das europäische Soft-Power-Modell als Grundlage des außenpolitischen Erfolgs

Spiritus Rector dieser Politik war Abdullah Gül, der mit seiner Europa-Orientierung als Außenminister (2003-2007) und später mit seinen friedenspolitischen Ansätzen als Staatspräsident (2007-2014) neue Akzente in der türkischen Außenpolitik setzte (z.B. Friedensprotokolle mit Armenien 2009). An diesen Kurs knüpfte sein Nachfolger im Amt des Außenministers (und heutiger Premierminister) Ahmet Davutoğlu an. Der Professor für Internationale Beziehungen setzte zugleich eigene Akzente. Insbesondere sein Soft-Power-Modell beeinflusste die türkische Außenpolitik nachhaltig. Sie ermöglichte beispielsweise freundschaftliche Beziehungen zu den Nachbarn der Türkei und ein konstruktives Engagement bei der Lösung internationaler Konflikte.

Bei der Konzeptentwicklung standen der Zivilmachtsgedanke der EU und die Europäische Nachbarschaftspolitik Pate. Die Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft begünstigte etwa bis 2010 die friedensgerichtete Akzentuierung der türkischen Außenpolitik. So konnte die Türkei im Nahen Osten durch das gute Verhältnis zu Syrien, Jordanien und Libanon ihren Aktionsradius ausbauen. Auch wurde die Visumpflicht für diese Länder aufgehoben. Analog zum EU-Modell sollte sogar ein "Schengen für den Orient" etabliert und ein Binnenmarkt geschaffen werden. Auch mit dem Irak normalisierten sich die Beziehungen. Mit der Kurdischen Autonomiebehörde (KRG) im Nordirak begann ein konstruktiver Dialog. Zudem versuchte die Türkei, im israelisch-palästinensischen und im syrisch-israelischen Konflikt zu vermitteln – wenngleich ohne Erfolg.

Der "Arabische Frühling" und das Konzept der "Strategischen Tiefe"

Der Beginn des "Arabischen Frühlings" bot der Türkei unter der Führung des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan die Gelegenheit, eine einschneidende Kurskorrektur vorzunehmen. Grundlage ist ein Konzept, das der frühere Außenminister Davutoğlu in seinem Werk "Strategische Tiefe" entwickelt hat. Hierin revidiert Davutoğlu die traditionell kemalistisch geprägte Doktrin der Westorientierung und relativiert die prioritäre Stellung der EU für die türkische Außenpolitik. Das erklärte Ziel dieser geopolitisch inspirierten Außenpolitik, das an das geografische, historische und religiös-kulturelle Erbe des Osmanischen Reiches anknüpft, besteht darin, eine Art Osmanisches Commonwealth zu errichten, um so den Aufstieg der Türkei zur führenden Macht in der Region zu ermöglichen. Davutoğlu sieht die Türkei zugleich als Teil Europas, des Balkans, der Schwarzmeer- und Mittelmeerregion, Nordafrikas, des Nahen Ostens, des Kaukasus, des kaspischen Umfeldes und Zentralasiens.

Davutoğlu definiert die geopolitischen Interessen der Türkei in Anlehnung an die US-amerikanischen Geopolitiker und Militärstrategen Nicholas John Spykman und Alfred Thayer Mahan, den britischen Begründer der Heartland-Theorie Halford John Mackinder sowie den deutschen Geopolitiker Karl Ernst Haushofer, der den Begriff des "Lebensraums" prägte, welcher später den Nationalsozialisten zur Legitimierung ihrer Angriffskriege diente. Mit der systematischen Übertragung des Lebensraum-Konzeptes auf die Außenbeziehungen der Türkei begründet Davutoğlu die Notwendigkeit einer kulturellen und ökonomischen Integration der islamischen Welt, welche die Türkei als Regional- bzw. Großmacht anführen könne.

Als ab 2011 in Tunesien, Ägypten und Libyen die Diktatoren nacheinander stürzten und die Wähler Regierungen an die Macht verhalfen, die durch die sunnitische Muslimbruderschaft geprägt waren, schien die aus der "Strategischen Tiefe" abgeleitete türkische Bestimmung, eine geopolitische Führungsrolle von Tunis bis Kairo zu übernehmen, in Erfüllung zu gehen. Die AKP entstammt als Bewegung des politischen Islams dem Sunnitentum, weshalb eine ideologische Nähe zur Muslimbruderschaft existiert. Ankara unterstützte die durch die Muslimbruderschaft geführten und neu gewählten Regierungen im Nahen Osten und erlangte damit bei den neuen Führungen großes Ansehen. Doch die türkische Hoffnung erwies sich schnell als trügerisch.

Das Ende vom Traum einer türkischen Führungsrolle

Zunächst putschte das ägyptische Militär unter Führung von Abdel Fattah al-Sisi gegen die erste demokratisch legitimierte Regierung Ägyptens unter Präsident Mohammed Mursi. Im Juli 2013 setzte das Militär Mursi ab und die Verfassung außer Kraft. Während die westlichen Regierungen den Militärputsch in Ägypten mehr oder weniger hinnahmen, hielt die Türkei als einer von wenigen Staaten weiter zu Mursi bzw. der gestürzten Muslimbruderschaft und weigerte sich, Ägyptens Militärführung anzuerkennen.

Auch in Syrien schwand die Aussicht, dass die Rebellen, die enge Verbindungen zur Muslimbruderschaft unterhielten, einen schnellen Sturz Assads herbeiführen könnten. Die anfangs starke Rolle der oppositionellen Muslimbruderschaft in Syrien wurde von dschihadistischen Gruppen, wie der al-Nusra-Front und später dem "Islamischen Staat", übernommen. Ankara wurde durch die offene Unterstützung der Rebellen zunehmend zu einer Konfliktpartei im Syrien-Krieg. Der letzte Rückschlag für die türkischen Ambitionen war schließlich die Schwächung der islamistischen Ennahda-Partei in Tunesien – eines Ablegers der tunesischen Muslimbruderschaft – bei den Parlamentswahlen 2014. In der Folge verlor die erhoffte Phalanx der Muslimbruderschaft im Nahen Osten zunehmend an Macht. Das Ansinnen der türkischen Führung, die sunnitisch-islamische Welt unter ihrer Führung neu zu formen, zerschlug sich.

Von der Soft Power zur Hard Power

Mit dem Wechsel von einer Soft-Power- zu einer militärisch ausgerichteten Hard-Power-Strategie begann der regionale und internationale Abstieg der Türkei. Das Land entwickelte sich zunehmend zu einem problematischen Partner des Westens – zu einem troublemaker. Den Anfang bildete das Zerwürfnis mit den militärischen Machthabern in Ägypten. Die Türkei zog ihren Botschafter aus Kairo ab. Ebenso wenig existieren heute mit Syrien diplomatische Beziehungen. Stattdessen war bis vor kurzem die Türkei ein Transitland für dschihadistische Kämpfer des IS, wovon mittlerweile auch die Sicherheitsinteressen der Türkei – etwa durch die Selbstmordanschläge in Ankara (Oktober 2015) und Istanbul (Januar 2016) – massiv tangiert sind. Die anfängliche Verharmlosung und indirekte Unterstützung dschihadistischer Gruppen in Syrien haben die Glaubwürdigkeit der Türkei stark beschädigt.

Dass die Türkei in ihrer Syrienpolitik nicht den Kampf gegen den IS, sondern den Sturz von Assad und vor allem die Schwächung der syrischen Kurden als Priorität setzt, wurde im Westen mit Befremden zur Kenntnis genommen. So stieß die Türkei als NATO-Mitglied verspätet zur internationalen Anti-IS-Koalition und gab erst auf massives Drängen der USA die Benutzung des türkischen Militärstützpunktes in Incirlik frei. Im Dezember 2015 trat die Türkei nicht nur der obskuren islamisch-sunnitischen Anti-Terror-Koalition unter Saudi-Arabien bei, sondern ging auch eine strategische Partnerschaft mit Riad ein, die hauptsächlich gegen den Einfluss des Iran in der Region gerichtet ist. Ende Januar 2016 wurden auf Druck der Türkei die syrischen Kurden unter der PYD von der Syrien-Konferenz in Genf ausgeschlossen, was die Verhandlungen nicht unbedingt erleichtert hat.

Mit dem Beharren auf der eigenen Agenda in Syrien und im Nahen Osten setzte Ankara nicht zuletzt auch das bisher harmonische Verhältnis zu Russland aufs Spiel. Einen dramatischen Tiefpunkt erreichten die russisch-türkischen Beziehungen infolge des türkischen Abschusses eines russischen Kampfjets Ende November 2015 – ein Akt, der einmal mehr den Kurswechsel hin zu einer Hard-Power-Außenpolitik bestätigte.

Das gilt auch für die türkische Politik gegenüber dem Irak. Der Einmarsch in die nordirakische Region um Baschika im Dezember 2015 hat in Bagdad für erhebliche Verstimmungen gesorgt. Bagdad verurteilte die Truppenverstärkung als eine Verletzung der irakischen Souveränität und schaltete den UN-Sicherheitsrat ein. Durch ihre Militärmaßnahmen will die Türkei u.a. den Einfluss schiitischer Milizen und des Iran im Nordirak begrenzen und sich als Schutzmacht der Turkmenen und sunnitischen Araber im Irak empfehlen. Auch hier versucht die Türkei, die "sunnitische Achse" im Nahen Osten zu stärken, um u.a. die Macht Teherans in der Region auszubalancieren. Gleichzeitig ist Ankara mit seiner Präsenz im Interner Link: Irak bestrebt, den militärischen Korridor zwischen der PKK im Nordirak und ihrem syrischen Ableger PYD in Syrien zu blockieren.

Als Verbündete in der Region bleiben der Türkei Saudi-Arabien und die Golfstaaten sowie paradoxerweise die nordirakischen Kurden. Trotz ihres Widerstands gegen eine staatliche Eigenständigkeit der irakischen Kurden ist die Türkei der wichtigste Handelspartner der Autonomen Region Kurdistan (KRG) (siehe auch den Beitrag von Gülistan Gürbey).

Die Beziehungen zu Israel waren schon vor Beginn des "Arabischen Frühlings" stark belastet. Der Eklat in Davos 2009, wo Erdoğan den damaligen israelischen Präsidenten Shimon Peres massiv angegriffen hat, ist nicht vergessen. Die israelische Erstürmung des mit Hilfsgütern für den Gaza-Streifen beladenen türkischen Schiffes Mavi Marmara in 2010 veranlasste die Türkei dazu, ihren Botschafter abzuziehen. Noch als Ministerpräsident brandmarkte Erdoğan 2014 die israelische Bodenoffensive im Gaza-Streifen als eine "Barbarei, die Hitler überflügelt". Auf israelischer Seite wiederum beunruhigen die guten Beziehungen der AKP zu der im Gazastreifen herrschenden Hamas. So ließ die AKP 2014 Hamas-Chef Khaled Mashal auf ihrem Kongress auftreten. Die Rede wurde von "Nieder mit Israel"-Rufen begleitet. Aktuell nähern sich die Türkei und Israel wieder an – u.a. bedingt durch den türkisch-russischen Konflikt. Beide Länder wollen, dass ihre Botschaften wieder ihre Arbeit aufnehmen.

Von dem laizistischen und demokratischen Bild, das das Ansehen der Türkei im Nahen Osten einst begründete, ist kaum etwas übriggeblieben. Aus der angehenden Regionalmacht ist ein außenpolitisch unkalkulierbarer Staat geworden. Ankara ist auch im internationalen bzw. regionalen Umfeld abgestiegen. Wurde die Türkei noch 2008 mit 151 Stimmen zu einem nichtständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrats gewählt, so scheiterte sie 2014 bei der erneuten Kandidatur mit nur noch 60 Stimmen. Auch die einstige Vermittlerrolle zwischen der westlichen und der islamischen Welt ging verloren. Die vielzitierte "Allianz der Zivilisationen", die Erdoğan 2005 gemeinsam mit dem damaligen spanischen Ministerpräsidenten Zapatero lancierte, wurde 2015 vom aktuellen Ministerpräsidenten Rajoy auf Eis gelegt.

Beunruhigende Perspektiven

Ankara befindet sich heute mit allen nahöstlichen Nachbarländern im Konflikt. Das Konzept der "Strategischen Tiefe" hat sich in der Praxis als "Strategische Leere" (Prof. Cengiz Aktar, Istanbul Policy Center) erwiesen. Will die Türkei im Nahen Osten künftig eine wichtige Rolle spielen, muss sie zu ihrer Politik der Soft Power und EU-Orientierung zurückkehren.

Im Zuge der gemeinsamen Bearbeitung der Flüchtlingskrise mit den EU-Ländern und dem von Brüssel wiederaufgenommenen EU-Beitrittsprozess sind günstige Bedingungen für eine Neuauflage der Europa- und West-Orientierung der türkischen Außenpolitik gegeben. Doch dazu sind zwei Voraussetzungen notwendig: die Transformation der Türkei hin zu einer liberalen Demokratie und die friedliche Lösung der internen Konflikte, insbesondere des Kurdenkonfliktes.

Das Ziel, eine einflussreiche Regionalmacht zu werden, wird schwerlich erreichbar sein, solange innenpolitische Probleme, wie der Kurdenkonflikt, der Umgang mit Nichtmuslimen, die Diskriminierung von Aleviten und die tiefe Spaltung zwischen Kemalisten und AKP nicht einer Lösung näher gebracht werden. Doch die aktuellen Ereignisse weisen in eine andere Richtung: Die Türkei hat sich von den europäischen Werten verabschiedet – auch gefördert durch eine unglaubwürdige Türkeipolitik der EU. Insbesondere das Vorhaben von Präsident Erdoğan, ein autoritäres Präsidialsystem einzuführen, bedeutet die Abkehr von der Demokratie und eröffnet beunruhigende Perspektiven für die türkische Außenpolitik.

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Dr. Burak Çopur ist promovierter Politikwissenschaftler, Türkei-Experte und Migrationsforscher am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen. Externer Link: www.burak-copur.de