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Tunesien | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Tunesien

Sarah Mersch

/ 9 Minuten zu lesen

Nach einer Phase relativer Stabilität mit mehr oder weniger funktionierenden demokratischen Strukturen übernahm Präsident Saïed im Sommer 2021 mit einem Putsch von oben die politische Macht. Seitdem baut er den Staat nach und nach in ein autoritäres Regime um.

Der tunesische Präsident Kais Saïed am 18. April 2024 in Tunis. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com)

Aktuelle Situation

Nachdem Präsident Beji Caïd Essebsi am 25. Juli 2019 im Amt verstorben war, wurde der parteilose pensionierte Juradozent Kaïs Saïed im Oktober 2019 im zweiten Wahlgang mit 72,7 % der abgegebenen Stimmen zum neuen Präsidenten gewählt. Er konnte sich gegen den Medienmogul Nabil Karoui durchsetzen. Der hauptsächlich von jungen Wählerinnen und Wählern bevorzugte Saïed galt als ehrlicher Saubermann ohne Verbindungen in politische oder wirtschaftliche Machtnetzwerke. Bei den fast zeitgleich stattgefundenen Parlamentswahlen fiel das Ergebnis weniger eindeutig aus. Im zersplitterten Parlament gab es keine klaren Mehrheiten.

Nach schwieriger und langwieriger Regierungsbildung kurz vor Beginn der Corona-Pandemie blieb Premier Elyes Fakhfakh an der Spitze einer fragilen Koalitionsregierung aus der Ennahda („Wiedergeburt“), der größten Partei des Landes, sowie mehreren liberalen, panarabischen und sozialdemokratischen Parteien nur kurz im Amt. Er trat im Sommer 2020 zurück, nachdem ihm Vorteilsnahme im Amt vorgeworfen worden war. Später wurde er von den Vorwürfen freigesprochen. Sein Amtsnachfolger Hichem Mechichi bewies im Umgang mit der Corona-Pandemie sowie der dadurch verschärften wirtschaftlichen und politischen Krise nicht immer eine glückliche Hand. Gleichzeitig war das Parlament durch zunehmende Fragmentierung und andauernde Grabenkämpfe immer weniger handlungsfähig und hatte seine Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung weitestgehend verloren.

Am 25. Juli 2021 rief Präsident Saïed in einer rechtlich umstrittenen Interpretation der Verfassung nach einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrates den Notstand aus, entließ den Regierungschef, ließ die Arbeit des Parlaments aussetzen und das Gebäude mit militärischer Unterstützung abriegeln. In der Folge regierte er rund anderthalb Jahre lang per Dekret und konzentrierte zunehmend die Macht in seinen Händen. Während zunächst eine Mehrheit der Bevölkerung das Vorgehen des Präsidenten unterstützte, mehren sich mit der Zeit die Stimmen, die darin einen Putsch von oben sehen. Die zunehmend autoritäre Aus- und Umgestaltung des politischen Systems wurde sowohl durch die Schwäche von Regierung und Parlament als auch durch das Fehlen wichtiger Institutionen und Kontrollorgane erleichtert. So verfügte Tunesien sieben Jahre nach Verabschiedung der Verfassung von 2014 noch über kein Verfassungsgericht.

Um seine Macht zu festigen, ließ Saïed in einem Referendum am 25. Juli 2022 über eine neue, mutmaßlich von ihm weitgehend selbst geschriebene Verfassung abstimmen. Diese wurde von fast 95 % der Abstimmenden befürwortet. Allerdings beteiligten sich nur rund 30 % der Wahlberechtigten an dem Referendum. Weite Teile der Opposition, die die Legitimität des Referendums und des ganzen Prozesses der Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten in Frage stellen, hatten zum Boykott aufgerufen. Die neue Verfassung bestätigt die starke Präsidentialisierung des politischen Systems und die Entmachtung des Parlaments. Im Winter 2022/23 sowie im Winter 2023/24 wurde eine neue erste und zweite Kammer des Parlaments gewählt, die jedoch kaum Handlungsspielraum und Kontrollmöglichkeiten haben. An den Wahlen beteiligten sich jeweils nur rund 11 % der Wahlberechtigten.

Gleichzeitig wurden wichtige Kontrollinstanzen, wie zum Beispiel die Anti-Korruptionsbehörde und der Oberste Justizrat, aufgelöst oder de facto kaltgestellt, ebenso wie die 2018 demokratisch gewählten Kommunalräte. Es mehreren sich außerdem Verfahren und Festnahmen gegen Oppositionelle, Anwälte, Teile der Richterschaft, Mitglieder der Zivilgesellschaft und Medienschaffende. Die gesamte Führungsspitze der Ennahda sowie Mitglieder anderer oppositioneller Parteien und Gruppierungen unterschiedlicher politischer Orientierung sitzen seit Anfang 2023 in Haft. Der Handlungsspielraum der Opposition ist auch wegen interner Differenzen und Spaltungen massiv eingeschränkt.

Seit Beginn der 2020er Jahre hat sich Tunesien zunehmend zum wichtigsten Transitland für irreguläre Migration im zentralen Mittelmeerraum entwickelt, vor allem für Menschen aus Afrika südlich der Sahara. Nachdem Präsident Saïed im Februar 2023 vor einem angeblichen Bevölkerungsaustausch gewarnt hatte, mit dem die muslimisch-arabische Identität Tunesiens ausgelöscht werden solle, häuften sich in Tunesien rassistische Übergriffe gegen Migranten und Geflüchtete. Außerdem ist dokumentiert, dass tunesische Sicherheitskräfte aufgegriffene Personen in die Wüstenregionen an den Grenzen zu Algerien und Libyen deportieren. Ein umstrittener Migrations-Deal mit der EU aus dem Sommer 2023 wurde bis jetzt nur in Teilen umgesetzt.

Das Mandat des Präsidenten läuft am 23. Oktober 2024 aus. Die Präsidentschaftswahlen sollen am 6. Oktober stattfinden. Noch ist nicht klar, auf welcher rechtlichen Grundlage die Präsidentschaftswahlen stattfinden sollen, da es Widersprüche zwischen dem Wahlrecht und der neuen Verfassung gibt. Dies betrifft unter anderem die Voraussetzungen, die zu einer Kandidatur für das Präsidentenamt berechtigen.

Ursachen und Hintergründe

Im Januar 2011 begannen mit Massenprotesten in Tunesien eine Reihe von Revolten in arabischen Ländern. Nach der Flucht des damaligen Langzeitmachthabers Zine El Abidine Ben Ali brachen Konflikte auf, die bis dahin weitgehend unterdrückt worden waren. Während sich die Hauptforderungen der Revolte auf wirtschaftliche und soziale Verbesserungen richteten, rückten bald Auseinandersetzungen über das religiöse und sozio-politische Selbstverständnis der tunesischen Gesellschaft und die Ausrichtung des Staates in den Vordergrund.

Der Streit um die staatliche/nationale Identität und das Verhältnis von Staat und Religion wurde in der tunesischen Gesellschaft sehr intensiv und aufgeregt geführt. Insbesondere die gemäßigten islamistischen Kräfte pushten in den Wahlkämpfen 2011 und 2014 das Thema, um ihren politischen Ordnungsvorstellungen möglichst breite gesellschaftliche Akzeptanz zu verschaffen. Sie konnten sich dabei auf die eine gezielte finanzielle Förderung durch die arabischen Golfstaaten stützen. Vor allem bei Jugendlichen hatten die Wirrungen der Umbrüche teils zu einer religiösen und/oder politischen Radikalisierung geführt. Gründe dafür waren und sind politische Orientierungslosigkeit sowie existenzielle soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten, darunter das Ausbleiben einer „Revolutionsrendite“ für diejenigen, die durch ihre Proteste den Umbruch möglich gemacht hatten.

In den Jahren nach der Verabschiedung der Verfassung von 2014 dominierten wirtschaftliche Fragen die öffentliche Debatte. Die weitere demokratische Transition wurde unter anderem von alten Kadern in der staatlichen Verwaltung und den Sicherheitsdiensten gebremst, die dort einen dominierenden Einfluss behaupten konnten. Auch die tunesische Polizei und Justiz, die unter Ben Ali der verlängerte Arm des Regimes waren, wurden seit dem politischen Umbruch nur unzureichend reformiert. Auch Präsident Saïed stützt seine Macht auf diese Organe, insbesondere das Innenministerium. In der Wirtschaft und im staatlichen Sektor bestehen auch mehr als zehn Jahre nach dem politischen Umbruch noch Oligopole und einflussreiche Netzwerke fort, die große Marktanteile in verschiedenen Branchen kontrollieren.

In der Bevölkerung vertieft sich die Polarisierung zwischen Gegnern und Anhängern des Präsidenten. Gewalt gegen afrikanische Migranten nimmt sprunghaft zu. Die niedrige Wahlbeteiligung bei den jüngsten Abstimmungen zeigen, wie hoch das Desinteresse an oder Misstrauen weiter Teile der Bevölkerung gegenüber der gegenwärtigen politischen Führung und ihren Institutionen und den Politikerinnen und Politikern im Allgemeinen ist. Aus Mangel an sozialen und wirtschaftlichen Perspektiven verlassen weiterhin viele Tunesierinnen und Tunesier das Land.

Außerhalb der relativ reichen Küstengegenden bleiben die Hoffnungen auf spürbare sozialpolitische und wirtschaftliche Veränderungen, die 2011 zum politischen Umbruch geführt hatten, in hohem Maße unerfüllt. Die wirtschaftliche Entwicklung im verarmten Landesinneren stockt. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei rund 15 %, unter jungen Hochschulabsolventen ist sie etwa doppelt so hoch.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Präsident Saïed setzt zur Bekämpfung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise seines Landes auf autoritäre und populistische Strategien, gestützt von einem Narrativ der nationalen Souveränität. Zum politischen Repertoire gehören u.a. der Umbau der politischen Institutionen und die Kontrolle der Justiz, die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, die Einschüchterung und Inhaftierung von Kritikern und Oppositionellen und die Beschränkung des Handlungsspielraums zivilgesellschaftlicher Organisationen (vgl. z.B. Thyen/Josua 2023; Knipp 2024).

Doch bislang ist keine wesentliche Besserung der Situation in Sicht. Die noch kaum bewältigten Folgen der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges stellen für Tunesien die größten Herausforderungen dar. Wirtschaftspolitisch stehen insbesondere folgende Aufgaben auf der Tagesordnung: der Abbau der hohen Arbeitslosigkeit, die Senkung der (Auslands-)Staatsschulden, die Konsolidierung des Finanzsektors und der Wirtschaft, die Eindämmung der Inflation sowie die Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln, Energie und Medikamenten. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Stärkung der öffentlichen Infrastruktur, z.B. im Bildungs-, Verkehrs- und Gesundheitsbereich.

Die regelmäßigen Ankündigungen des Präsidenten, die wirtschaftlichen Oligopole und Netzwerke aufzubrechen, sind bislang weitgehend folgenlos geblieben. Zwar wurden in den vergangenen Jahren durch ein neues Investitionsgesetz und ein Förderprogramm für junge Unternehmen („Start Up Act“) Versuche unternommen, den Marktzugang für neue Firmen zu erleichtern. Doch steht eine umfassende Restrukturierung nach wie vor aus. Zusätzlich schrecken die überbordende Bürokratie sowie fehlende Rechtssicherheit potenzielle in- und ausländische Investoren ab (vgl. z.B. Arafeh/Hamza 2024).

Sowohl in Tunesien als auch international ist umstritten, wie ein Ausweg aus der aktuellen Situation aussehen könnte. Die Annahme einiger Akteure, dass die sich verschärfende wirtschaftliche Krise und ein möglicher drohender Staatsbankrott schnell auch zu politischem Veränderungsdruck führen würde, hat sich bislang nicht bestätigt. Die Haltung der EU und einzelner Mitgliedsstaaten, die Tunesien als Partner in Migrationsfragen sehen und nur vorsichtig Kritik an der politischen Situation äußern, statt finanzielle Hilfen an politische Reformen zu knüpfen, wird nicht nur in Tunesien kritisiert sondern auch vonseiten der Wissenschaft, z.B. in Deutschland, (vgl. z.B. Thyen/Josua).

Wegen ihrer Untätigkeit haben viele europäische Staaten und die USA in oppositionellen Kreisen in Tunesien deutlich an Glaubwürdigkeit verloren. Ihr Handlungsspielraum hat sich dadurch massiv verkleinert, zumal der Diskurs der Ablehnung ausländischer Einmischung des Präsidenten in weiten Teilen der Bevölkerung Rückhalt erfährt. Ihnen wird insbesondere vorgeworfen, sich nicht klar genug gegen die autoritären Bestrebungen der Regierung geäußert haben. Hinzukommt ihre Haltung zum Gaza-Krieg, die als einseitig proisraelisch wahrgenommen wird.

Geschichte des Konflikts

In den 54 Jahren von der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 bis zum Umsturz 2011 kannte Tunesien nur zwei Präsidenten: Habib Bourguiba und Zine El Abidine Ben Ali. Bourguiba, ein Anwalt, der in Frankreich studiert hatte, galt als Vater der Unabhängigkeit und aufgeklärter Machthaber, der den kleinen Mittelmeerstaat in die Moderne führen wollte. Vieles ist gelungen, doch gab es auch zu seiner Amtszeit massive Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen, vor allem gegen Linke, Studierende und Gewerkschaftler, die die Alleinherrschaft Bourguibas kritisierten.

Im November 1987 übernahm Ben Ali in einem unblutigen Staatsstreich die Macht und setzte den altersschwachen Bourguiba ab. Ben Ali verschärfte die Unterdrückung politischer Gegner, insbesondere Islamisten wurden zu teils langen Haftstrafen oder gar zum Tode verurteilt. Darüber hinaus bereicherten sich seine Familie und die Familie seiner Frau über Jahre an den Einnahmen des Staates und brachten nach und nach große Teile der Wirtschaft unter ihre Kontrolle. Am Ende der Herrschaft Ben Alis konzentrierten sie schätzungsweise ein Viertel der Wirtschaft des damals rund 10 Mio. Einwohner umfassenden Landes in ihren Händen.

In Bourguibas Amtszeit hatten sich das Bildungs- und Gesundheitswesen spürbar verbessert. In Bezug auf die wirtschaftliche Lage hatte er jedoch deutlich weniger Erfolg. Seinem Nachfolger Ben Ali gelang es zumindest teilweise, die Wirtschaft auf Vordermann zu bringen. Tunesien galt über lange Jahre als arabisches und afrikanisches Musterland mit stabilem Wachstum. Allerdings blieben beim vermeintlichen tunesischen Wirtschaftswunder weite Teile der Bevölkerung und ganze Landstriche auf der Strecke. Diese Schieflage war neben der massiven politischen Repression eine der wichtigsten Ursachen und Auslöser des Aufstands von 2011, der den sogenannten Arabischen Frühling in der gesamten Region einläutete.

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Sarah Mersch arbeitet als freie Journalistin und Trainerin in Tunesien.