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Antikolonialismus und kulturelle Selbstbehauptung

Harald Fischer-Tiné

/ 11 Minuten zu lesen

Kolonialherren gelang es nur selten, eine völlige politische und kulturelle Hegemonie zu etablieren. Verschiedene Formen des Widerstandes, der Verweigerung und der Subversion gehören von Anfang an ebenso zur Geschichte der kolonialen Begegnung wie Expansion und Ausbeutung.

Mohandas Karamchand Gandhi (1869 bis 1948) war einer der politischen und ideologischen Führer Indiens während der Unabhängigkeitsbewegung gegen die britische Kolonialherrschaft. (© picture-alliance, picture alliance/CPA Media)

Wenn koloniale Herrschaft auch in den allermeisten Fällen auf asymmetrischen Machtbeziehungen basierte, so gelang es den Kolonialherren nur selten, in den beherrschten Gebieten eine völlige politische und kulturelle Hegemonie zu etablieren. Vielgestaltige Formen des Widerstandes, der Verweigerung und der Subversion gehören deshalb von Anfang an ebenso zur Geschichte der kolonialen Begegnung wie Expansion und Ausbeutung. Widerstand gegen die Fremdherrschaft drückte sich dabei nicht notwendigerweise, ja vielleicht nicht einmal besonders häufig, in direkter physischer Konfrontation aus. Mindestens ebenso bedeutend waren die verschiedenen Strategien der Kolonisierten, sich dem kulturellen und zivilisatorischen Überlegenheitsanspruch der Kolonialmacht auf einer ideologischen Ebene entgegenzustellen. Denn seit dem späten 18. Jahrhundert gründete sich koloniale Herrschaft nicht allein auf politischer und militärischer Dominanz.

Sie schöpfte ihre Legitimation zunehmend aus der Annahme einer grundsätzlichen, auch rassistisch motivierten Ungleichwertigkeit zwischen Herrschern und Beherrschten. Die Aufrechterhaltung des Abstandes zwischen den beiden Kollektiven — der amerikanische Historiker Frederick Cooper prägte dafür den Begriff "the politics of difference" — wurde damit zum wichtigen Bestandteil imperialer Herrschaftssicherung. Paradoxerweise wurde diese Politik der Differenz weiterbetrieben, obwohl häufig im gleichen Atemzug die Beseitigung aller Unterschiede durch "Zivilisierung" oder "Hebung" der Kolonisierten in Aussicht gestellt wurde. Es ist deshalb wenig überraschend, dass zahlreiche Vertreter der kolonisierten Eliten ihren Widerstand gegen imperiale Herrschaftsansprüche über eine Neuverhandlung der vermeintlichen Differenz zwischen Herrschern und Beherrschten artikulierten.

Köpfe der Unabhängigkeitsbewegungen

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Widerstand durch Anpassung: gemässigter Anti-Kolonialismus

Die Herrschaftsstrategien der teilweise sehr unterschiedlichen Imperialmächte bewegten sich in der Regel in einem Spannungsfeld von Versuchen, die beherrschten Eliten zu assimilieren und der klaren Markierung sozialer und kultureller Distanz. Im französischen und japanischen Kolonialreich spielten Pläne einer breit angelegten kulturellen Assimilation dabei eine besonders wichtige Rolle. In Algerien beispielsweise förderten die Kolonialherren im späten 19. Jahrhundert mit großem Aufwand die Verbreitung der französischen Sprache und Kultur unter der einheimischen Bevölkerung, etwa durch französische Literatur und Geschichte in der Schulbildung, sowie Theater und Musikaufführungen. Aber auch im niederländischen und britischen Empire, wo die Machthaber gemeinhin viel lieber mit Formen indirekter Herrschaft experimentierten, d.h. traditionelle Eliten in das koloniale System integrierten und auf "association" statt auf "assimilation" setzten, erwies sich die Heranbildung zumindest einer kleinen, westlich gebildeten indigenen Funktionselite aus Sicht der Kolonialmacht als unerlässlich.

Zum einen garantierte die Existenz einheimischer Schreiber, Beamter, Lehrer oder Anwälte das reibungslose und kostengünstige Funktionieren des Verwaltungs- und Ausbeutungsapparates der Kolonien. Der Lohn von indischen Post- oder Eisenbahnbeamten betrug nur rund ein Viertel des Lohns von Europäern. Erstere galten zudem als zuverlässiger, da man annahm, dass sie weniger Alkohol konsumieren. Zum anderen hoffte die Kolonialverwaltung aber auch, diese Schicht könnte als Scharnier zwischen der europäischen Kolonialelite und der lokalen Bevölkerung fungieren und damit die koloniale Herrschaft weiter zementieren. Für Indien, das Herzstück des britischen Kolonialimperiums, hatte der prominente britische Verwaltungsbeamte Thomas Babington Macaulay in einer vielzitierten Denkschrift "Minute On Indian Education" bereits 1835 einen entsprechenden Umbau des Bildungssystems postuliert.

Man müsse, so Macaulay, höhere Bildungsinstitutionen nach westlichem Muster für die Ausbildung einer dünnen indigenen Oberschicht zur Verfügung stellen. Nur dadurch sei es möglich, eine Gruppe von loyalen "go-betweens" zu kreieren, deren Existenz für die langfristige Herrschaftssicherung notwendig sei. Das Ziel war also, in seinen Worten: "a class of persons, Indian in blood and colour, but English in taste, in opinions, in morals, and in intellect".

In Indien ebenso wie in Algerien, auf den zunächst von Spanien und später von den USA beherrschten Philippinen und in vielen weiteren Kolonien bildeten sich im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts solche hybriden, mit beiden Kulturen vertrauten Schichten heraus. Nahezu flächendeckend entstanden in kolonisierten Räumen "verwestlichte" Eliten, die im Laufe ihrer Ausbildung (die häufig im Ausland erfolgte) nicht nur den modernen Bildungskanon Euro-Amerikas aufgesogen hatten, sondern zum Teil auch mit den Vertretern liberaler oder linker politischer Theorien in Berührung gekommen waren. Viele von ihnen waren offene Bewunderer der jeweiligen Kolonialmacht und dem was sie ― ganz in der Rhetorik der imperialen Herrscher ― als deren zivilisatorische Errungenschaften ansahen. Sie erachteten den Kontakt mit den Kolonialherrschern als eine historische Chance, ihre Gesellschaften zu reformieren. Aus der Mitte dieser Gruppen rekrutierten sich die allermeisten Vertreter der Strömung eines moderaten, bürgerlichen anti-kolonialen Nationalismus, der sich in nahezu allen Kolonien beobachten lässt.

Ihre politischen Forderungen waren in der Regel sehr langfristig ausgelegt und beinhalteten nur sehr selten einen radikalen Bruch mit der Kolonialmacht. Stattdessen beschränkten sie sich auf die Beseitigung von Missständen und eine graduelle Ausweitung der politischen Beteiligung der indigenen Oberschichten im Rahmen der imperialen Ordnung. Um ihren Führungsanspruch zu legitimieren, verwiesen diese bürgerlichen Nationalisten auf ihre Identität als Einheimische bei gleichzeitiger Betonung ihres "zivilisierten" Status. Mit anderen Worten: die Assimilationsleistung, die sie vollbracht hatten, hatte den zivilisatorischen Abstand zur Kolonialmacht aufgehoben. Wenn die Versprechen der imperialen Zivilisierungsmission ernst gemeint waren, berechtigte sie dies zur Herrschaftsausübung und machte damit – zumindest langfristig – die Präsenz der Fremdherrscher überflüssig.

Der vietnamesische "Nationalrevolutionär" Phan Châu Trinh (1872 – 1926), einer der führenden Köpfe der frühen antikolonialen Bewegung in Französisch-Indochina, ist ein typischer Vertreter dieser Gruppe. Trinh entstammte der vorkolonialen Bildungs- und Verwaltungselite der Mandarine und war bis zum Anfang des 20. Jahrhundert mit dem Hof verschiedener Nguyen Kaiser assoziiert, die als Marionetten der Franzosen ihr Land offiziell weiter regieren durften. 1905 legte Trinh seinen Dienst unter der von ihm zunehmend als morsch und korrupt wahrgenommenen Monarchie nieder und begann seinen jahrzehntelangen Kampf für die Errichtung einer demokratischen Republik. Er kritisierte die verkrusteten konfuzianistischen Strukturen des traditionellen Vietnam radikal und warb daher bei seinen Landsleuten dafür, mit den liberalen Vertretern des Kolonialregimes beim Erreichen des Fernziels Demokratie zusammenzuarbeiten. Die Franzosen wiederum versuchte er unter anderem mit dem Verweis auf die Staatstheoretiker Rousseau und Montesquieu an ihr eigenes demokratisches Gedankengut zu erinnern ― wenn auch nur mit mäßigem Erfolg.

Das Bild zeigt ein Gruppenfoto der Delegierten des First Indian National Congress, Bombay/Mumbai, 1885 (© picture-alliance, CPA Media Co. Ltd)

Auch die erste Generation der Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung besaßen eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber den kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen der Kolonialherren – vor allem in den Bereichen Literatur, Philosophie, Natur- und Staatswissenschaften, und später auch hinsichtlich des Bildungssystems. Entsprechend grenzten sie sich stärker von den Werten und politischen Visionen traditioneller Landsleute ab als von denjenigen der Briten.

Ähnlich wie in Indochina versuchten die moderaten Nationalisten auch in Indien ihre Beherrscher an die eigenen Werte zu erinnern. Sie kritisierten daher zumeist eine mangelnde Umsetzung der zivilisatorischen Normen und nicht etwa das Phänomen des Kolonialismus per se. Paradigmatisch dafür kann der Politiker, Intellektuelle und Geschäftsmann Dadabhai Naoroji (1825-1917) stehen. Naoroji war einer der Gründer de Indischer Nationalkongresses (Indian National Congress/INC) im Jahr 1885. Der INC sollte nicht nur schon bald zur wichtigsten organisatorischen Plattform der indischen Nationalbewegung werden, sondern auch zum Vorbild für viele spätere antikoloniale Sammelbewegungen weltweit. In seinem Buch Poverty and Un-British Rule in India artikulierte Naoroji 1901 eine viel beachtete ökonomische Kritik an der Herrschaft der Briten in Indien. Dabei verurteilte er den einseitigen Abfluss von Profiten aus der kolonialen Wirtschaft nach Großbritannien als "un-britisch". Gleichzeitig betonte er jedoch, dass die indische Bevölkerung die vielfältigen Segnungen des Raj (=britische Herrschaft in Indien) im Falle einer Korrektur der Wirtschaftspolitik und Rückkehr der Kolonialmacht zu ihren eigenen ethischen Standards noch besser zu würdigen wisse. Beispiele für ein vergleichbares Argumentationsmuster lassen sich auch Jahrzehnte später noch finden. Im Westafrika der Zwischenkriegszeit beispielsweise sympathisierte ein beträchtlicher Teil der westlich gebildeten urbanen Jugend in den Küstenregionen mit dem Modernisierungsprojekt des britischen Weltreichs. Doch das Schweigen der Briten und Franzosen zur völkerrechtswidrigen Invasion des faschistischen Italiens in Abessinien (dem heutigen Äthiopien) 1935/36 zeigte ihren Unwillen, die selbstgesetzten moralischen Vorgaben eines "aufgeklärten Kolonialismus" – wie den Colonial Development Act – international durchzusetzen. Der Abessinienkrieg entlarvte für viele die Heuchelei der imperialen Zivilisierungsmission und beförderte die Entstehung radikalerer antikolonialer Strömungen in der Region.

Widerstand durch Abgrenzung: ethno-kultureller Nationalismus und Pan-Bewegungen

Die Widerstandsstrategien der Kolonisierten erschöpften sich beileibe nicht darin, die europäische, US-amerikanische oder japanische Variante der imperialen Zivilisierungsmission durch vorauseilende Assimilation zu unterwandern. Es lassen sich im Gegenteil auch zahlreiche Beispiele dafür finden, dass die Einheimischen es ablehnten, sich dem zivilisatorischen Kriterienkatalog des Gegners zu unterwerfen. Denn so wurden Unterschiede, welche die Beherrschten von den Herrschern trennten, sogar noch stärker akzentuiert, als dies die Vertreter der Kolonialmacht taten. Ethno-kulturelle Nationalisten betonten nicht nur ihre Differenz, sondern auch ihre kulturelle oder moralische Überlegenheit gegenüber den Kolonialmächten.

Die Lebensart des Westens, so die Argumentation, sei weder die einzig vorstellbare Form von Zivilisation, noch eine besonders nachahmenswerte. Sehr viel erstrebenswerter als eine "Nachäffung" Euro-Amerikas sei es, so die Führer der kulturalistisch argumentierenden antikolonialen Gruppen, sich an den eigenen Traditionen und religiösen Idealen zu orientieren. Seit dem späten 19. Jahrhundert zirkulierten unter den kolonisierten Eliten in immer größerer Intensität negative Bilder und Klischees, die "den Westen" zunehmend als materialistische, überindividualisierte kulturelle Entität festschrieben, der im unablässigen Streben nach Macht und Profit jegliche Spiritualität und moralische Autorität eingebüsst hätte. Eine der denkwürdigsten Äußerungen in diesem Sinne stellt Mohandas Karamchand Gandhis berühmte Schrift Hind Swaraj (etwa: '"Indische Selbstherrschaft") aus dem Jahre 1909 dar.

In diesem antimodernen Manifest bezeichnete der spätere INC-Präsident die westliche Zivilisation als eine "finstere" und "satanische" Krankheit, von der man sich unter keinen Umständen anstecken lassen dürfe. Indiens Rettung bestehe folglich nicht etwa im möglichst geschickten Kopieren des Westens und in der Übernahme seiner materiellen Errungenschaften, sondern vielmehr in einer Rückbesinnung auf die eigenen Werte, Traditionen und Institutionen. Während sich die meisten Antikolonialisten für eine zumindest selektive Übernahme westlicher Technologie und Wissenschaft bei gleichzeitiger Selbstvergewisserung der eigenen kulturellen oder religiösen Identität aussprachen, lehnte Gandhi in Hind Swaraj das gesamte Projekt der "westlichen Zivilisation" ab.

Selbst von den meisten seiner Landsleute begrüßte Neuerungen der kolonialen Moderne wie die Eisenbahn, das Telegraphennetz oder die westliche Schulmedizin waren für ihn als Bestandteile eines moralisch heruntergekommenen westlichen way of life genauso zu verurteilen wie offensichtlicher diskriminierende Ideologien, Institutionen und Praktiken der Kolonialmächte. Dabei war Gandhis konsequente Verdammung des Westens freilich zu nicht unwesentlichen Teilen von der Lektüre europäischer und amerikanischer Zivilisationskritiker wie Edward Carpenter, Henry David Thoreau oder Lew Tolstoi inspiriert.

Symbol des Fortschrittes und Symbol des "westlichen Materialismus": Das koloniale Eisenbahnnetz. Hier: Indien, ca. 1900 (© picture-alliance, United Archives/TopFoto)

In vielen Fällen war diese Rückbesinnung auf die angeblich überlegene eigene Kultur bzw. Zivilisation der Kolonisierten religiös unterfüttert. Zu diesem Zweck ließen sich praktisch alle grossen Religionen instrumentalisieren. Zahlreiche indische Nationalisten woben hinduistische Motive in ihre sehr unterschiedlichen antikolonialen Ideologien ein. Die ersten nationalistischen Protestaktionen auf Ceylon und in Burma bedienten sich einer buddhistischen Rhetorik. Es gab besonders viele einflussreiche Imperialismuskritiker, die ihre Inspiration und ihre Symbolik aus dem Islam bezogen. Der iranische Vordenker des Panislam, Dschamal ad-Din al-Afghani (1838–1897), verfasste erste antikoloniale Schriften bereits in den 1880er-Jahren.

Führende Intellektuelle der Zwischenkriegszeit wie der Dichter Muhammad Iqbal (1877-1938), der als geistiger Vater Pakistans gilt, nutzten bei der Artikulation ihrer Kritik an der imperialen Weltordnung ebenfalls Elemente der islamischen Tradition. Das gleiche gilt für prominente Vertreter der ägyptischen oder indonesischen Nationalbewegung. Die muslimische Händlervereinigung Sarekat Islam auf Java beispielsweise fungierte als erste Plattform für die Auseinandersetzung indonesischer Nationalisten mit der Kolonialmacht. Die oft elitären Mitglieder des Sarekat Islam machten unter anderem durch Petitionen und Demonstrationen auf soziale Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Ausbeutung im kolonialen System aufmerksam.

Sogar das Christentum, das in vielen Teilen der (kolonisierten) Welt als "Komplize des Imperialismus" wahrgenommen wurde, konnte ideologische Schützenhilfe für Antikolonialisten leisten. In Japans wichtigster Kolonie Korea wurde es von Teilen der dortigen Emanzipationseliten als Ressource genutzt, um sich kulturell abzugrenzen und den Assimilationsversuchen der Besatzungsmacht zu widerstehen. Obwohl sie eine relativ kleine religiöse Minderheit darstellten, galten insbesondere koreanische Protestanten als große Patrioten und waren disproportional häufig in nationalistischen Parteien und Gruppierungen vertreten.

In Afrika spielten weniger religiöse Motive eine identitätsstiftende Rolle bei der Formierung antikolonialer Parteien und Organisationen als vielmehr die verschiedenen Spielarten des Panafrikanismus. Diese politisch-kulturelle Bewegung hatte sich in den 1890er-Jahren zunächst unter der Führung afro-amerikanischer und karibischer Intellektueller formiert und erfasste in den ersten drei Jahrzehnten große Teile der Eliten auf dem afrikanischen Kontinent. Ganz nach dem bereits von Gandhi benutzten Muster beschworen prominente Anhänger des Panafrikanismus wie Jomo Kenyatta oder Léopold Senghor – der spätere Ministerpräsident Kenias bzw. der spätere Präsident Senegals – nun die Größe und Einheit der afrikanischen Zivilisation und kontrastierten diese mit den "Defiziten des Westens". Einige andere Vertreter dieser Richtung, wie Kwame Nkrumah oder Julius Nyerere – nach der Unabhängigkeit Präsidenten in Ghana bzw. Tansania – versuchten zudem, panafrikanisches Gedankengut mit sozialistischen Ideologien zu fusionieren.

Der ghanaische Politiker Kwame Nkrumah (1909-1972) führte die Unabhängigkeitsbestrebungen der britischen Kolonie Goldküste an. (© dpa, dpa - Bildarchiv)

Frühe nicht-westliche Theoretiker des Kolonialismus

Neben den oben erwähnten nationalistischen Führern gab es bereits vor dem Ende der imperialen Weltordnung einige einflussreiche akademische Akteure aus Asien und Afrika, die stärker an einer wissenschaftlichen Analyse und intellektuellen Durchdringung des Phänomens Kolonialismus interessiert waren und nicht allein auf Munition für ihren politischen Kampf abzielten. Der bengalische Ökonom Benoy Kumar Sarkar (1887–1949) beispielsweise verstand sich nicht in erster Linie als politischer Aktivist, sondern war ein anerkannter Sozialwissenschaftler, der lange Zeit auch an europäischen und US-amerikanischen Universitäten unterrichtet hatte, bevor er 1925 eine Dozentur in Kalkutta übernahm.

Seine profunde Bildung in der indischen Tradition einerseits und seine Vertrautheit mit europäischen Sprachen und Wissen andererseits ermöglichten es ihm, dem kolonialen Projekt des Westens inhärente "epistemische Gewalt" zu erkennen und anzuprangern. Er betrachtete die globale Überlegenheit Euro-Amerikas seit dem späten 18. Jahrhundert als ein der Verkettung von historischen Zufällen geschuldetes, weltgeschichtlich letztlich wenig bedeutsames Intermezzo. Infolgedessen wehrte er sich auch heftig gegen "albinokratische" (d.h. auf die Herrschaft der Weißen zentrierte) historische Deutungen, welche die geopolitische Dominanz des Westens auf die "rassische" oder kulturelle Unterlegenheit von Afrikanern und Asiaten zurückführen wollten. Mit dem Kampf um die Repräsentationsmacht und akademische Deutungshoheit nichtwestlicher Kulturen und Gesellschaften und Geschichten nahm der Universalgelehrte somit bereits wichtige Themen der Postcolonial Studies, die sich ab den 1980er Jahren an westlichen Universitäten etablieren sollten.

Gelehrte aus den französischen Kolonien in Afrika und der Karibik traten ebenfalls in dieser ersten Welle imperialismuskritischer Theoriebildung hervor. Frantz Fanon (1925–1961) etwa, Psychiater und Philosoph aus Martinique, thematisierte die Problematik der Normalisierung und Internalisierung europäischer Sichtweisen und Wertmaßstäbe, Jahrzehnte bevor postkoloniale Theoretiker sich damit auseinandersetzten. In seinem viel beachteten Buch Peau noire, masques blancs (Deutsch als Schwarze Haut, weiße Masken) aus dem Jahr 1952 beschrieb er das paradoxe Verhalten seiner eigenen Schicht, der kolonisierten Intellektuellen, die permanent "weiße Masken" trügen, um unter den herrschenden Machtverhältnissen Anerkennung von außen zu erfahren und – schlimmer noch – sich selbst respektieren zu können. Fanons Position radikalisierte sich in den folgenden Jahren weiter.

1956, auf dem Höhepunkt des Algerienkrieges, gab er seine lukrative Stellung als Leiter einer psychiatrischen Klinik in Algerien auf und schloss sich stattdessen der militanten Befreiungsbewegung FLN an. Sein letztes, kurz vor seinem Tod 1961 erschienenes Buch Les damnés de la terre (Die Verdammten der Erde) avancierte in kürzester Zeit zum wichtigsten anti-kolonialen Manifest der 1960er- und 1970er-Jahre. Darin kritisierte er gemäßigte "evolutionäre" Formen antikolonialen Widerstands und propagierte Gewalt als den einzigen Weg, auf dem die Kolonisierten zu Befreiung und Versöhnung mit sich selbst gelangen könnten.

Weiterführende Literatur:

  • Adas, Michael: 'Contested Hegemony: The Great War and the Afro-Asian Assault on the Civilizing Mission Ideology', Journal of World History, 15 (1), 2004, pp. 31-63.

  • Aydin, Cemil, The Politics of Anti-Westernism in Asia: Visions of World order in Pan-Islamic and Pan-Asian Thought (New York: Columbia University Press, 2008).

  • Belmessous, Saliha, Assimilation and Empire: Uniformity in French and British Colonies, 1541-1954, (Oxford: Oxford University Press, 2013).

  • Duara, Prasenjit, 'The Discourse of Civilization and Pan-Asianism', Journal of World History, 12 (1), 2001, pp. 99-130.

  • Fischer-Tiné, Harald, 'Postkoloniale Studien', in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego.eu/ fischertineh-2010-de

  • Howe, Stephen, Afrocentrism: Mythical Pasts and Imagined Homes, London and New York: Verso, 1998, pp. 19-58.

  • Mishra, Pankaj, Aus den Ruinen des Empires: Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. S. Fischer, Frankfurt a.M, 2013.

Prof. Harald Fischer-Tiné ist Professor für die Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich.