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Koloniale Gewalt und Kolonialkrieg | (Post)kolonialismus und Globalgeschichte | bpb.de

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Koloniale Gewalt und Kolonialkrieg

Dr. Fabian Klose

/ 14 Minuten zu lesen

Vom Eroberungsfeldzug mit überlegenen Waffen über den Handel mit Menschen als Ware bis zur planmäßigen Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen: Entgrenzte Gewalt war nicht nur Mittel imperialer Expansion, sondern diente auch dazu Herrschaft im kolonialen Alltag zu festigen.

Koloniale Gewalt im Zuge der britischen Expansion in Ostindien: Beim Sepoy-Aufstand werden am 10. Mai 1857 Rebellen am Galgen erhängt. (© picture-alliance)

Gewalt war ein prägender, ja geradezu elementarer Bestandteil des europäischen Kolonialismus. Vertreter der kolonialen Idee verschleierten diese Tatsache immer wieder gezielt mit der Betonung der westlichen Zivilisierungsmission zum vermeintlichen Wohl der Bevölkerung auf anderen Kontinenten und versuchten damit, die paternalistische Fremdherrschaft zu legitimieren. Im Gegensatz dazu waren es vor allem führende Intellektuelle der antikolonialen Bewegung, die diesen Mythos von der vermeintlichen „Bürde des weißen Mannes“ schonungslos demaskierten und auf die zentrale Funktion von Gewalt im gesamten kolonialen System hinwiesen. Sowohl Aimé Césaire, einer der bedeutendsten afrokaribischen Lyriker und Mitbegründer der Négritude-Bewegung, als auch der aus Martinique stammende Arzt Frantz Fanon beschrieben in ihren einflussreichen Schriften den Kolonialismus als eine fundamentale Dichotomie zwischen Kolonisator und Kolonisierten, als eine zweigeteilte Welt, die auf dem massiven Gewalteinsatz der europäischen Kolonialherren beruhte. Das Verhältnis zwischen Kolonisator und Kolonisierten war nach Césaire gekennzeichnet von einer brutalen Beziehung der Herrschaft und Unterwerfung:

„I look around and wherever there are colonizers and colonized face to face, I see force, brutality, cruelty, sadism, conflict […] No human contact, but relations of domination and submission which turn the colonizing man into a class-room monitor, an army sergeant, a prison guard, a slave driver.“

Nach Ansicht von Fanon beruhte das koloniale Zusammenleben auf der Macht von Bajonetten und Kanonen, wobei er die „Herrschaft der Gewalt“ in Kolonien mit einem hohen Anteil europäischer Siedler als besonders dramatisch charakterisierte. Demnach war der Einsatz von Gewalt nicht nur auf die Phase der militärischen Eroberung und Expansion beschränkt, sondern bildete vielmehr ein konstitutives Element des alltäglichen Zusammenlebens in der kolonialen Situation. Diese koloniale Herrschaftspraxis kann daher zurecht als eine „Schreckensherrschaft gegenüber der beherrschten Bevölkerung” beschrieben werden. Insgesamt betrachtet war Gewalt somit dem Kolonialismus in seinen verschiedenen Phasen – Eroberung, Etablierung und Aufrechterhaltung sowie Rückzug – inhärent.

Koloniale Expansion und indigener Widerstand

Die Errichtung und Aufrechterhaltung europäischer Kolonialherrschaft war direkt mit der Anwendung militärischer Gewalt verbunden. Das belegen die zahlreichen und nahezu zu allen Zeiten der Existenz europäischer Imperien geführten Kolonialkriege. Ausgehend von einzelnen Stützpunkten an der Küste expandierten die europäischen Kolonialmächte im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer tiefer ins afrikanische und asiatische Hinterland, wobei in der Anfangsphase häufig bewaffnete Siedler und paramilitärische Milizen eine Vorreiterrolle bei der Ausdehnung kolonialer Grenzen übernahmen. Bei ihrem Vordringen stießen die Europäer auf den Widerstand der indigenen Bevölkerung, die sich wie zum Beispiel unter Emir Abd el-Kader von 1835 bis 1847 gegen die französische Besatzung Algeriens oder die Maori von 1843 bis 1872 gegen die britische Expansion in Neuseeland erbittert zur Wehr setzte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie etwa die erfolgreiche Abwehr der italienischen Invasion Abessiniens durch den Sieg der Truppen von Negus Menelik II. am 1. März 1896 in der Schlacht von Adua, scheiterten die Indigenen bei ihren Versuchen, den Vormarsch der europäischen Kolonialmächte dauerhaft aufzuhalten. Ausschlaggebend für den globalen Siegeszug des Kolonialismus war die große technologische Überlegenheit der europäischen Staaten in Bereichen der Tropenmedizin, des Transport- und Kommunikationswesens sowie vor allem der modernen Waffensysteme. Darüber hinaus bedienten sich die Kolonialmächte Teilen der indigenen Bevölkerung als unerlässliches Rekrutierungsreservoir, um überhaupt das notwendige Heer an Soldaten ausheben zu können. Unter dem Befehl europäischer Offiziere wurden diese Kolonialtruppen dann in allen Teilen des Imperiums eingesetzt und bildeten eine wesentliche Stütze der Kolonialherrschaft.

Die dominierende Form der militärischen Auseinandersetzung in den Kolonien war der „kleine Krieg“. Dabei handelte es sich im Gegensatz zum „großen Krieg“ regulärer Armeen in Europa um ein asymmetrisches Konfliktszenarium, in dem die indigenen Widerstandsbewegungen ihre völlige technische Unterlegenheit gegenüber den europäischen Kolonialmächten durch eine zermürbende Guerillakriegsführung zu kompensieren versuchten. Im Zuge ihrer kolonialen Expansion wurden die europäischen Kolonialmächte im zunehmenden Maß mit der aus ihrer Perspektive völlig unkonventionellen Kriegsführung konfrontiert und gelangten schließlich zu dem Schluss, dass sich Kolonialkonflikte grundsätzlich von den Kriegen zwischen „zivilisierten” Staaten unterscheiden würden. Der führende britische Militärtheoretiker Charles Callwell vertrat in seinem 1896 erstmals publizierten Standardwerk „Small Wars. Their Principle and Practice“ die Auffassung, dass die „kleinen Kriege“ in den Überseegebieten „Expeditionen disziplinierter Soldaten gegen Wilde und halbzivilisierte Rassen” seien. Aus europäischer Perspektive hatten daher die völkerrechtlichen Vereinbarungen zur Kriegsführung in derartigen Konflikten grundsätzlich keine Gültigkeit, weshalb das rücksichtslose Vorgehen gegen die indigene Zivilbevölkerung, um zum Beispiel die Unterstützung und den Nachschub für die Aufständischen zu unterbinden, als völlig legitim erachtet wurde.

Zudem gelang es den Kolonialmächten, die neuen Schutzbestimmungen des entstehenden humanitären Völkerrechts von ihren Überseegebieten fernzuhalten. Während zum Beispiel auf der Haager Friedenskonferenz von 1899 besonders heimtückische Kampfmittel wie Giftgas und die verheerenden Dumdum-Geschosse in Kriegen zwischen „zivilisierten” Staaten geächtet wurden, blieben Kolonialkonflikte von derartigen Verboten unberührt. Vielmehr bedienten sich die verschiedenen Kolonialmächte bei den militärischen Auseinandersetzungen in ihren Überseegebieten immer wieder dieser Waffen, wie der Gaseinsatz Großbritanniens bei der Bekämpfung afghanischer Aufständischer 1920 an der indischen Nordwestgrenze und Spaniens bei der Niederschlagung des Rif-Aufstandes in Marokko von 1921 bis 1927 klar belegt. Vor allem das faschistische Italien setzte bei seiner Invasion Abessiniens von 1935 bis 1936 systematisch Giftgas ein, mit katastrophalen Folgen für die abessinische Bevölkerung, die den Gasangriffen völlig schutzlos ausgeliefert war.

Die Radikalisierung und Entgrenzung von Gewalt in den Kolonialkriegen lag vor allem auch in der Totalität der Kriegsziele begründet. Unter dem Einfluss sozialdarwinistischen Gedankenguts duldeten die europäischen Kolonialmächte nicht die geringste Form des indigenen Aufbegehrens, sondern verfolgten die vollständige und permanente Unterwerfung eines Gegners, den man aufgrund rassistischer Anschauungen zudem als minderwertig wahrnahm. Nur auf diese Weise erachteten die Europäer die Etablierung eines „kolonialen Friedens“ nach ihren Vorstellungen und der damit verbundenen Umsetzung ihrer Zivilisierungsmission als möglich. Die euphemistisch als „Pazifizierung“ und „Strafexpeditionen“ verharmlosten Militäroperationen endeten dabei nicht immer allein mit dem militärischen Sieg der Kolonialmacht, sondern führten in extremen Fällen bis hin zur vollständigen Vernichtung indigener Bevölkerungsteile. Ein besonders prägnantes Beispiel hierfür bildete die Kriegsführung kaiserlicher Schutztruppen gegen die Herero und Nama von 1904 bis 1908 in Deutsch-Südwestafrika, bei dem der Großteil beider Ethnien der gezielten deutschen Vernichtungspolitik zum Opfer fiel. Einige Historiker sprechen in diesem Zusammenhang vom ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. Die vom britischen Schriftsteller Rudyard Kipling in seinem berühmten Gedicht über die vermeintliche zivilisatorische „Bürde des weißen Mannes“ zu „Savage Wars of Peace“ verklärten Kolonialkonflikte waren in der Realität Kriege ohne Regeln und Normen, in denen alle militärischen Maßnahmen erlaubt schienen und es regelmäßig zu einer Entgrenzung von Gewalt kam.

Die „Normalität der Gewalt“ in der kolonialen Situation

Der Kolonialkrieg und die Bekämpfung von offenem indigenen Widerstand förderten sicherlich die radikalsten Formen der kolonialen Gewaltanwendung zu Tage. Allerdings zeichneten sich die Kolonialregime auch nach Abschluss derartiger Militäroperationen durch ein großes Gewaltpotenzial und eine hohe Gewaltbereitschaft aus. Das alltägliche Zusammenleben von europäischen Kolonialherren und indigener Bevölkerung war geradezu gekennzeichnet von einer erschreckenden „Normalität der Gewalt“. Der Hauptgrund dafür lag in einer Belagerungsmentalität der Europäer, die sich selbst als eine „island of white in a sea of black“ charakterisierten. Aufgrund ihrer eigenen Minderheitsposition in den Überseegebieten betrachteten sie die indigene Bevölkerungsmehrheit als Bedrohung ihrer privilegierten Machtstellung. Die tief sitzende Furcht vor einem drohenden Aufstand – als warnende Beispiele galten im französischen Kontext die Haitianische Revolution (1789–1804) und im Britischen Empire der große indische Aufstand von 1857 – mündeten in ein militantes Verhaltensmuster der europäischen Kolonialherren gegenüber ihren kolonialen Untertanen. Demnach befand sich der Kolonialstaat in einem latenten Belagerungs- und Verteidigungszustand, in dem man nur mit drakonischen Maßnahmen seine eigene Herrschaftsposition zu sichern glaubte.

Die exzessive Anwendung der Prügelstrafe und anderer Formen körperlicher Züchtigung sahen die Kolonialherren daher als völlig „normale“ Methode zur Aufrechterhaltung der kolonialen Ordnung an. Sie gehörten in den Kolonien zur alltäglichen Realität. Gemäß der rassistischen Ansicht vieler europäischer Kolonialherren, verstand die indigene Bevölkerung ausschließlich die Sprache roher körperlicher Gewalt, wie das nachfolgende Beispiel eines weißen Siedlers in Ostafrika zeigt: „Sein primitiver Verstand betrachtet Diskussion als Zeichen der Schwäche […] Überlegene Gewalt ist das einzige Gesetz, das er anerkennt. Ich wandte das Gesetz an, mit der Faust und dem Stiefel.“ Eine derartige „Normalität der Gewalt“ wurde dann häufig mit dem rassistischen Hinweis legitimiert, dass Afrikaner weniger schmerzempfindlich als Europäer und somit entsprechend resistenter gegenüber körperlicher Züchtigung seien. Die Position der Stärke und das damit verbundene Prestige der Weißen mussten aus Perspektive der Kolonialherren immer gewahrt bleiben, wobei man auf jegliche Form der vermeintlichen Provokation oder des Widerstands mit physischer Gewalt reagierte.

Rechtlich manifestierte sich diese diskriminierende Gesellschaftsordnung in einer kolonialen Rassenjustiz. Für die indigene Bevölkerung galten dabei nicht die Rechtsstandards der jeweiligen kolonialen Metropole, sondern sie unterlag den Bestimmungen eines willkürlichen Eingeborenenrechts wie zum Beispiel dem berüchtigten „code de l’indigénat“ im französischen Kolonialreich. Derartige Gesetze legitimierten körperliche Züchtigung, Zwangsarbeit, Kollektivstrafen und die willkürliche Konfiszierung von Besitz. Sie waren daher ein zentrales Instrument der kolonialen Kontrolle und wurden entsprechend aus indigener Perspektive als Symbol für die ungerechte Fremdherrschaft wahrgenommen. Ohne ausreichenden rechtsstaatlichen Schutz bedeutete dies zudem, dass die indigene Bevölkerung jederzeit den willkürlichen Entscheidungen des Kolonialstaates ausgesetzt war. Vor allem in Siedlungskolonien wie zum Beispiel Australien, Algerien und Kenia führte dies dazu, dass die Indigenen zu Gunsten der ankommenden europäischen Siedler gewaltsam aus fruchtbaren Landesteilen in unwirtliche Gebiete vertrieben wurden. Ihrer traditionellen Lebensgrundlage beraubt zwang man sie dann häufig als abhängige Arbeitskräfte ohne eigene Landrechte auf den nun „weißen Ländereien“ für die Kolonialherren zu arbeiten.

Obwohl die europäischen Kolonialmächte ihr Vordringen in Afrika unter anderem mit dem vermeintlich humanitären Ziel der Bekämpfung der Sklaverei zu rechtfertigen versuchten, zwangen sie dann häufig selbst die afrikanische Bevölkerung zur Zwangsarbeit für koloniale Projekte wie zum Beispiel im Eisenbahn- und Straßenbau oder in der Landwirtschaft. Eines der schlimmsten Ausbeutungssysteme etablierte sich dabei im sogenannten „Kongo-Freistaat“. In diesem riesigen Territorium, das sich im Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. befand, wurden Afrikaner mit extremsten Repressionsmaßnahmen zum Sammeln des wertvollen Naturkautschuks gezwungen. Jede Form des Widerstands und das Nichterfüllen der geforderten Sammelquoten beantworteten die Kolonialherren mit brutalster Gewalt, beispielsweise dem Niederbrennen ganzer Dörfer und dem Abhacken von Gliedmaßen der als Geiseln festgehaltenen afrikanischen Frauen und Kinder. Diese Terrorherrschaft Leopold II. nahm ein derartiges Ausmaß an, dass der Kongo „zu einer der großen Vernichtungsstätten der Moderne” und insgesamt zum Symbol exzessiver kolonialer Gewaltanwendung wurde. Öffentliche Kampagnen unter maßgeblicher Führung von Aktivisten wie E. D. Morel und Roger Casement gegen diese „Kongogreuel“ führten schließlich 1908 dazu, dass auf internationalen Druck das Kongo-Gebiet dem Besitz Leopolds entzogen und der offiziellen Aufsicht des belgischen Staats unterstellt wurde.

Blutiger Abschied vom europäischen Kolonialismus

Der europäische Kolonialismus verfügte auch in seiner letzten Phase, seinem weltweiten Rückzug ab 1945, über ein hohes Gewaltpotenzial. Im Zuge der Dekolonisation kam es sogar noch einmal zu einer signifikanten Radikalisierung dieser Gewalt, was sich exemplarisch am Datum des 8. Mai 1945 festmachen lässt. Während dieser Tag das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa bedeutete und das endgültige Ende der NS-Herrschaft in vielen europäischen Staaten entsprechend euphorisch gefeiert wurde, kam es in den algerischen Ortschaften Sétif, Guelma und Kherrata zu gewaltsamen Protesten arabischer Demonstranten gegen die französische Kolonialherrschaft. Frankreich reagierte auf diese Unruhen mit einem massiven Militäreinsatz, dem innerhalb eines Monats nach heutigen Schätzungen zwischen 20.000 und 30.000 Algerier zum Opfer fielen. Die Stunde der Befreiung Europas war aus kolonialer Perspektive eine der blutigsten der europäischen Kolonialgeschichte und markierte den Auftakt zur umkämpften Dekolonisation von 1945 bis 1975.

Die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs hatten auch die Grundfesten der europäischen Kolonialreiche tief erschüttert und den Aufstieg antikolonialer Befreiungsbewegungen maßgeblich gefördert. Vor allem in Asien, wo während des Krieges Großbritannien, Frankreich und die Niederlande große Teile ihres Kolonialreichs an Japan verloren hatten, kam es in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer regelrechten Revolutionswelle. Die verschiedenen Nationalbewegungen leisteten nun erbitterten Widerstand gegen die verschiedenen Rekolonisierungsversuche der europäischen Kolonialmächte und zwangen sie in eine ganze Reihe von langjährigen blutigen Dekolonisierungskriegen. Neben den Niederlanden in Indonesien (1945-1949) und Großbritannien in Malaya (1948-1960) führte Frankreich von 1945 bis 1954 einen verlustreichen Krieg gegen die Nationalbewegung des Viet Minh, um seine Herrschaft über Französisch-Indochina aufrecht zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Erst die Schlacht von Dien Bien Phu im Frühjahr 1954, die zum Symbol für die Niederlage des „weißen Mannes“ schlechthin wurde, besiegelte endgültig das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Südostasien. Der neun Jahre dauernde Konflikt kostete schätzungsweise 500.000 Vietnamesen das Leben und hinterließ ein zerrissenes Land, das schon bald von einem neuen Krieg, dann ganz im Zeichen des Ost-West-Konfliktes, heimgesucht werden sollte.

Noch konfliktreicher als in Asien gestaltete sich der Rückzug aus den „weißen“ Siedlungskolonien in Nord-, Zentral- und Ostafrika. Dort beharrten die europäischen Siedler auf den Fortbestand ihrer rassistischen Minderheitsherrschaft und lehnten jede Form politischer Zugeständnisse gegenüber der afrikanischen Mehrheitsbevölkerung strikt ab. Von ihren Regierungen in den Metropolen forderten sie vielmehr den uneingeschränkten militärischen Beistand gegen die aufkommenden afrikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Als Folge entwickelten sich gerade Siedlungskolonien, wie die britische Kronkolonie Kenia von 1952 bis 1956 und Französisch-Algerien von 1954 bis 1962, zum Schauplatz von zwei mit äußerster Brutalität geführten Dekolonisierungskriegen, die unter der indigenen Bevölkerung Hundertausende von Toten forderten. Großbritannien und Frankreich schufen dabei mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes und damit verbundenen speziellen Notstandsgesetzen die legale Basis für die Radikalisierung des kolonialen Repressionsapparats, was in Phänomenen wie der gewaltsamen Umsiedlung und massenhaften Internierung der indigenen Zivilbevölkerung in Lagern, der systematischen Anwendung von Folter und willkürlichen Massenexekutionen zum Ausdruck kam.

Diese Radikalisierung kolonialer Gewalt mit schwersten Menschenrechtsverletzungen führte wiederum dazu, dass der Kolonialismus insgesamt, vor allem im Kontext des Algerienkriegs, immer stärker am Pranger der Weltöffentlichkeit stand. Die dadurch ausgelöste internationale Kritik entzog der Idee kolonialer Fremdherrschaft letztlich jegliche Legitimationsgrundlage und beschleunigte den Prozess der Auflösung der europäischen Kolonialreiche bis in die Mitte der 1960er Jahre. Lediglich die Diktatur Portugals verweigerte sich beharrlich dieser internationalen Entwicklung und verteidigte sein Überseereich in Angola, Guinea-Bissau und Mozambique in drei verlustreichen und brutal geführten Kriegen. Die sogenannte Nelkenrevolution am 25. April 1974, deren Ursachen tief verwurzelt in den drei anachronistischen Kolonialkriegen lagen, führte schließlich in Portugal zu einem demokratischen Wandel und beendete 1975 endgültig die gewaltsame Fremdherrschaft der ältesten europäischen Kolonialmacht auf dem afrikanischen Kontinent.

Koloniale Gewalt und Kolonialkrieg in aktuellen Debatten

Das Thema von kolonialer Gewalt und Kolonialkrieg hat in jüngster Zeit prominent Eingang in ganz aktuelle Debatten gefunden. Im Zuge des sogenannten globalen „Krieges gegen den Terror“ begannen Antiterrorexperten aus westlichen Militärkreisen sich intensiv mit den Dekolonisierungskriegen nach 1945 zu beschäftigen. Sie analysierten dabei die historischen Konfliktszenarien in Hinblick auf die von der britischen und französischen Armee bei ihren Einsätzen in Malaya, Kenia und Algerien eingesetzten „Counterinsurgency“-Maßnahmen, um daraus wertvolle strategische Erkenntnisse für heutige Operationen im Irak und Afghanistan zu gewinnen. Eine Reihe von Historikern, die sich in den letzten Jahren verstärkt mit der umkämpften Dekolonisation auseinandersetzten, kritisierte diese Tendenzen wiederum scharf und warnte vor einer unreflektierten Betrachtung der Dekolonisierungskriege unter dem Aspekt eines Vorbilds für heutige Militäreinsätze. Anstelle des vermeintlichen militärstrategischen Mehrwerts betonten die Wissenschaftler vielmehr, dass die britischen und französischen Maßnahmen mit der Missachtung aller Prinzipien des humanitären Völkerrechts, der Schaffung rechtsfreier Räume durch eine weitreichende Notstandsgesetzgebung, der Errichtung völkerrechtswidriger Internierungs- und Umsiedlungslager, der systematischen Anwendung von Folter und schweren Kriegsverbrechen mit Hundertausenden von zivilen Opfern einhergingen. Eindringlich warnten sie vor den fatalen Folgen des Einsatzes derartiger Strategien für demokratische Rechtsstaaten und wiesen vehement auf die historische Verantwortung der ehemaligen Kolonialmächte bei der Aufarbeitung ihrer dunklen kolonialen Vergangenheit hin.

Die juristische Auseinandersetzung mit den Kolonialverbrechen europäischer Staaten auf anderen Kontinenten hat dabei erst begonnen. So gab zum Beispiel im Juli 2011 der oberste britische Gerichtshof einer Klage von vier ehemaligen afrikanischen Häftlingen eines britischen Internierungslagers während des Dekolonisierungskrieges in Kenia statt. Letztlich führte dies dazu, dass die britische Regierung nicht nur den vier ursprünglichen Klägern, sondern über 5.000 Kenianern eine finanzielle Entschädigung für die erlittenen Misshandlungen und schweren Gesundheitsschäden zugestand. Die Schadensersatzsumme belief sich insgesamt auf über 20 Millionen Pfund. Die gerichtliche Entscheidung über weitere 40.000 kenianische Fälle steht in Großbritannien aktuell noch aus, wobei es auch in anderen europäischen Staaten eindeutige Tendenzen zur Aufklärung ihrer Kolonialverbrechen gibt. Die von europäischen Kolonialmächten auf anderen Kontinenten verübte exzessive koloniale Gewalt ist heute somit nicht mehr nur ein Thema der historischen, sondern auch der juristischen Aufarbeitung.

Literatur:

  • David Anderson, Histories of the Hanged, The Dirty War in Kenya and the End of Empire, New York / London 2005.

  • Raphaelle Branche, La torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie 1954–1962, Paris 2001.

  • Tanja Bührer, Christian Stachelbeck, und Dierk Walter (Hg.), Imperialkriege von 1500 bis heute: Strukturen – Akteure – Lernprozesse, Paderborn 2011.

  • Andreas Eckert, Kolonialismus, Frankfurt 2006.

  • Frank Füredi, Colonial Wars and the Politics of Third World Nationalism, London 1994.

  • Adam Hochschild, Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines fast vergessenen Menschheitsverbrechens, Reinbek 2002.

  • Thoralf Klein und Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006.

  • Fabian Klose, Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945–1962, München 2009.

  • Michael Mann, Das Gewaltdispositiv des modernen Kolonialismus, in: Mihran Dabag, Horst Gründer und Uwe-K. Ketelsen (Hg.), Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid, München 2004, S. 111 135.

  • Aram Mattioli, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941, Zürich 2005.

  • Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2006.

  • Bruce Vandervort, Wars of Imperial Conquest in Africa 1830–1914, London 1998.

  • Dierk Walter, Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion. Gestalt und Logik des Imperialkrieges, Hamburg 2014.

  • Hendrik L. Wesseling und Jaap A. de Moor (Hg.), Imperialism and War. Essays on Colonial Wars in Asia and Africa, Leiden 1989.

  • Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller (Hg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Aimé Césaire, Discourse on Colonialism, New York 2000, S. 42. Ungefähre Übersetzung: "Ich schaue mich um, und wo immer sich Kolonisierer und Kolonisierte begegnen, sehe ich Zwang, Brutalität, Grausamkeit, Sadismus, Konflikt [...] Kein menschlicher Kontakt, sondern Herrschaftsbeziehungen und Unterwerfung welche den kolonisierenden Mann in den Überwacher eines Klassenzimmers verwandeln, einen Feldwebel, eine Gefängniswache, einen Sklaventreiber."

  2. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt 1966, S. 28 und S. 68.

  3. Michael Mann, Das Gewaltdispositiv des modernen Kolonialismus, in: Mihran Dabag, Horst Gründer und Uwe-K. Ketelsen (Hrsg.), Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid, München 2004, S. 118.

  4. Charles Callwell, Charles, Small Wars. Their Principles and Practice, London 1906, S. 21.

  5. Teilmantelprojektil, dessen Name sich von der Munitionsfabrik im indischen Dum Dum bei Kalkutta ableitet, in der Ende des 19. Jahrhunderts dieser Munitionstyp für die britischen Kolonialtruppen produziert wurde. Der Einsatz von Dumdum-Geschossen verursacht schwere Verletzungen mit hohem Blutverlust und wurde auf Grund seiner hohen „Mannstoppwirkung” eingesetzt.

  6. Vgl. Gedicht „The White’s Man Burden“ von 1899 in: Rudyard Kipling, Rudyard, Rudyard Kiplings Verse. Definitive Edition, London 1949, S. 323-324.

  7. Zitat von 1938 von Godfrey Huggins, Premierminister Süd-Rhodesiens, zitiert in: Dane Kennedy, Islands of White: Settler Society and Culture in Kenya and Southern Rhodesia 1890-1939, Durham 1987, S. 2.

  8. Weißer Siedler in Ostafrika zitiert in: ebd., S. 64.

  9. Adam Hochschild, Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines fast vergessenen Menschheitsverbrechens, Reinbek 2002, S. 10.

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Dr. Fabian Klose ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Universalgeschichte des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte (IEG).