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Analyse: Ergebnisse der Parlamentswahlen 2014: Nach Europa! | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Ergebnisse der Parlamentswahlen 2014: Nach Europa!

Gerhard Simon Köln Von Gerhard Simon

/ 11 Minuten zu lesen

Die vorgezogenen Parlamentswahlen waren ein weiterer Schritt zur institutionellen Festigung der Demokratie. Die weitgehend störungsfreie Durchführung der Wahlen unter den Bedingungen des fortdauernden Krieges im Donbass war auch ein Test für die demokratische Reife der Gesellschaft. Die Wahlbilanz ergibt einen klaren Mehrheitswillen.

Ein ukrainisches Wahllokal während der Parlamentswahlen 2014: Knapp mehr als die Hälfte der Ukrainer gingen zu den traditionell durchsichtigen Wahlurnen. (© picture-alliance/dpa)

Einleitung

Das am 26. Oktober gewählte Parlament der achten Legislaturperiode seit der Unabhängigkeit wird viele neue Gesichter haben; aber auch zahlreiche Vertreter des politischen Establishments und eine beträchtliche Anzahl von Parlamentariern, die das gestürzte Regime personifizieren, werden in der Werchowna Rada sitzen: An strittigen Themen wird kein Mangel sein. Dennoch: Die pro-westlichen und pro-europäischen Parteien verfügen über eine klare Mehrheit. Insoweit dürfte die Bildung einer Mehrheitskoalition, wie sie von der Verfassung von 2004 vorgeschrieben ist, unproblematisch sein. Die Mehrheitskoalition nominiert den Ministerpräsidenten und die Regierung, die dann vom Parlament gewählt werden. Die Rolle des Präsidenten bei der Regierungsbildung ist begrenzt.

Zwei grundsätzliche Ergebnisse dieser vorgezogenen Parlamentswahl fallen ins Auge: Es gibt derzeit in der Ukraine kein System stabiler, programmatisch deutlich voneinander abgegrenzter etablierter Parteien. Sowohl die Parteien, die 2004/05 die Orange Revolution getragen haben, wie auch ihre Gegner existieren nur noch in Resten oder gar nicht mehr. Ob die im Zuge des revolutionären Umbruchs seit dem Euromaidan entstandenen politischen Parteien, die jetzt in der Werchowna Rada dominieren, Bestand haben werden, muss sich erst noch zeigen. Aber – und das mag paradox klingen – im neuen Parlament besteht in einer zentralen Frage Konsens wie selten zuvor: Die Ukraine muss und wird zu einem vollwertigen Mitglied der EU werden. Dieser Konsens erinnert an die Verhältnisse in den baltischen Staaten zu Beginn der 1990er Jahre, als im Übrigen auch dort ein höchst labiles System politischer Parteien bestand.

Dieser Konsens hängt mit einem zweiten Resultat der Wahlen zusammen: Es hat sich ein weiteres Mal erwiesen, dass extremistische Parteien in der Ukraine keine Massenbasis haben. Das gilt sowohl für extremistische Gruppierungen auf der rechten wie auf der linken Seite des Parteienspektrums. Erstmals ist die kommunistische Partei der Ukraine nicht mehr im Parlament vertreten, sie scheiterte an der Fünfprozenthürde. Sie sprach sich als einzige Partei gegen die Integration in die EU aus.



Die neue Mehrheit: getrennt vereint

Nach der Auswertung von 99,67 % der elektronischen Wahlkreisprotokolle führte bei der Verhältniswahl die Partei Volksfront von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk mit 22,16 % der Stimmen. Beinahe gleichauf folgte mit 21,83 % die Partei des Präsidenten Block Petro Poroschenko (s. Grafik 3). Die Partei Volksfront konstituierte sich erst im März 2014 und knüpft an die Partei Front für den Wechsel an, die Jazenjuk früher gegründet hatte. Das sehr gute Abschneiden der Volksfront, zu der auch der jetzige Parlamentspräsident Oleksandr Turtschynow gehört, war eine der Überraschungen dieser Wahl. Meinungsumfragen vor den Wahlen hatten der Volksfront höchstens die Hälfte des jetzigen Stimmenanteils in Aussicht gestellt.



Dagegen waren die Wahlprognosen für den Block Petro Poroschenko deutlich höher. Möglicherweise haben sich viele potentielle Wähler der Partei des Präsidenten kurzfristig für die des Ministerpräsidenten entschieden. Hinzu kommt, dass die Zahl der unentschiedenen Wähler noch kurz vor dem Wahltag sehr hoch war (s. Tabelle 1). Der Block Petro Poroschenko ist ein Zusammenschluss der Partei Udar (Schlag) von Witalij Klitschko mit der kleinen Parlamentsfraktion Solidarität von Poroschenko. Der Kiewer Bürgermeister Klitschko kandidierte auf Platz eins der Liste des Blocks, wird aber nach der Wahl in seinem Amt bleiben und nicht als Abgeordneter ins Parlament zurückkehren.

Nur die Hälfte der Abgeordneten (225) wird aufgrund von Parteilisten bestimmt; die andere Hälfte wird nach dem Mehrheitswahlverfahren in den 225 Wahlkreisen gewählt. Da weder auf der Krim (12 Mehrheitswahlkreise) noch in den besetzten Gebieten im Donbass (15 Mehrheitswahlkreise) Wahlen durchgeführt werden konnten, werden diesmal nur 198 Abgeordnete direkt in Mehrheitswahlkreisen gewählt, so dass dem Parlament maximal 423 Abgeordnete angehören werden.



Weil der Block Petro Poroschenko in den Mehrheitswahlkreisen deutlich erfolgreicher war als die Volksfront, wird er im Parlament über eine größere Fraktion verfügen: Nach Auswertung von 99,67 % der Wahlkreisprotokolle werden zur Fraktion Block Petro Poroschenko 132 Abgeordnete gehören, die Fraktion Volksfront wird 82 Abgeordnete haben (s. Grafik 12). Tatsächlich wird die Zahl der Fraktionsmitglieder noch zunehmen, weil ein Teil der unabhängigen Abgeordneten, die als Selbstbewerber in fast 100 Mehrheitswahlkreisen gewählt worden sind, sich der präsumtiven Regierungskoalition anschließen wird.

Präsident Poroschenko und Ministerpräsident Jazenjuk sind gemeinsam die Sieger des Euromaidan. Sie haben das Land seit Februar 2014 politisch geführt und dabei koordiniert und loyal zusammengearbeitet. Was unterscheidet sie, und warum haben sich am Ende viele Wähler für Jazenjuk entschieden, die wahrscheinlich im Mai Poroschenko bei der Wahl des Präsidenten ihre Stimme gaben? Poroschenko wurde am 25. Mai im ersten Wahlgang mit 54,7 % gewählt; allerdings kandidierte Jazenjuk damals nicht.In den zentralen Politikfeldern Eurointegration und Korruptionsbekämpfung dürfte es keine Unterschiede geben. Aber was Russland anbelangt, dürfte Jazenjuk die härtere Position vertreten, während dem Präsidenten – zu Recht oder Unrecht – in Kommentaren nichtöffentliche Absprachen mit Putin unterstellt werden. Hinzu kommt unterschiedliche Stile der politischen Rhetorik. Während Poroschenko zu harmonisierenden und nicht immer realistischen Versprechungen neigt, bevorzugt Jazenjuk kantige und sarkastische Redensarten und hat keine Scheu, auch schlechte Aussichten beim Namen zu nennen. Der Satz, er werde sich auf dem Maidan eher eine Kugel in den Kopf schießen lassen als in Schande zurückzuweichen, passt ebenso zu ihm, wie die Ankündigung, die Ukrainer müssten den Gürtel noch enger schnallen. Schließlich spricht die Herkunft Poroschenkos aus der oligarchischen Szene in den Augen mancher gegen ihn. Mit hochgezogenen Augenbrauen wurde vermerkt, dass die Fabrik aus dem Firmenimperium von Poroschenko im russischen Lipezk ihren Betrieb wieder aufgenommen hat.

Die Kandidatenlisten aller Parteien und damit die Zusammensetzung der Parlamentsfraktionen wurden weitgehend von den Parteiführern festgelegt. So schreibt es das Gesetz vor. Eine Reform des Wahlgesetzes lehnte die alte Werchowna Rada ab, so dass die Parteibasis bzw. die Organisationen in der Provinz kaum Möglichkeiten der Mitbestimmung bei der Kandidatenauswahl haben. Auch eine Reform der Parteienfinanzierung in Richtung einer größeren Transparenz konnte bislang nicht durchgesetzt werden. Die Parteilisten der beiden staatstragenden Parteien enthalten sowohl die Namen altverdienter Mitstreiter wie auch zahlreiche neue Namen. Dazu gehören Aktivisten vom Maidan, Feldkommandeure aus dem Krieg im Donbass und investigative Journalisten, die seit den großen Demonstrationen dazu beigetragen haben, die Gesellschaft zu verändern und die Zivilgesellschaft in die Verantwortung zu nehmen. Aber Beobachter haben auch ans Licht gebracht, dass in den Parteilisten Geschäftsleute mit zweifelhaftem Ruf und Repräsentanten verschiedener Oligarchen einen Platz gefunden haben.



Eine große Überraschung war der Wahlerfolg der neuen Partei Selbsthilfe des Bürgermeisters von Lwiw Andrij Sadowyj, die auf Anhieb 11 % der Stimmen und 33 Abgeordnetensitze im Parlament eroberte. In den Vorwahlumfragen war dieser Partei, die erst 2012 gegründet wurde und erstmals an gesamtukrainischen Wahlen teilnahm, nur ein Bruchteil dieses Ergebnisses zugetraut worden. Unter den Abgeordneten von Selbsthilfe gibt es keinen einzigen ehemaligen Politiker, auch Sadowyj selbst will als Bürgermeister in Lwiw bleiben. Gerade die Tatsache, dass alle Kandidaten in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Manager und erfolgreiche Fachleute sind, hat die Wähler offenbar fasziniert. Daraus spricht ein großes Misstrauen gegenüber dem politischen Establishment bei einem Teil der Wähler, aber auch ein erhebliches Vertrauen zu Galizien und dem politischen Verstand des Bürgermeisters von Lwiw. Selbsthilfe hat neben dem Gebiet Lwiw (19 %) die meisten Stimmen in der Stadt Kiew bekommen (21,4 %) (s. Grafik 7). Der Block Petro Poroschenko erhielt in der Hauptstadt mit 24 % nur geringfügig mehr Stimmen.

Die Partei Vaterland von Julia Timoschenko überwand abgeschlagen mit 5,68 % gerade noch die Fünfprozenthürde und wird mit 19 Abgeordneten ins Parlament einziehen. Es ist Julia Timoschenko nach ihrer Befreiung aus dem Gefängnis im Februar nicht gelungen, politisch wieder Fuß zu fassen. Ihre Mischung aus Radikalismus (die Ukraine muss jetzt der Nato beitreten), Populismus (Platz eins der Liste ihrer Partei wurde der nach Russland entführten und dort inhaftierten ukrainischen Pilotin Nadija Sawtschenko zugesprochen) und Selbstbezogenheit wird von der ukrainischen Gesellschaft nicht mehr honoriert. Nachdem viele begabte politische Talente zusammen mit Jazenjuk die Partei Vaterland verlassen haben, ist nicht zu erwarten, dass Timoschenko in der ukrainischen Politik noch eine größere Rolle spielen wird.

Die Erben und Nachfolger der Partei der Regionen

Die Partei der Regionen – mehr als ein Jahrzehnt, unterbrochen durch das Intermezzo der Orangen Revolution, die regierende Partei des Landes – hat den Sturz ihres Führers Janukowitsch nicht überlebt. Die Reste der Partei konnten sich nicht einmal entschließen, unter diesem Namen bei den Wahlen anzutreten. Stattdessen schlossen sich die Versprengten im September zum Oppositionsblock zusammen, der in der Verhältniswahl 9,40 % der Stimmen erhielt und mit 29 Abgeordneten ins Parlament einziehen wird. Auch hier wird sich die Zahl der Abgeordneten noch erhöhen, denn zahlreiche ehemalige Regionale traten in den östlichen und südlichen Gebieten in Mehrheitswahlkreisen als Selbstbewerber an und wurden dort gewählt. Im neuen Parlament werden nach Recherchen der Volksfront-Abgeordneten Viktoria Siumar mehr als 60 Abgeordnete sitzen, die am 16. Januar für die sogenannten Diktaturgesetze gestimmt haben (Interner Link: s. Ukraine-Analysen 126, Infografik im Kapitel "Zivilgesellschaft"). Diese waren der letzte Versuch von Janukowitsch, durch rigorose neue Gesetze sein autoritäres Regime zu retten – vergeblich.



Eine weitere Nachfolgepartei, die Partei Starke Ukraine des Unternehmers Serhij Tihipko, scheiterte mit 3,1 % der Stimmen an der Fünfprozenthürde, Tihipko selbst wird dennoch als siegreicher Bewerber in einem Mehrheitswahlkreis in das Parlament einziehen. Eine Analyse des Wählerverhaltens im Osten der Ukraine zeigt, dass die Partei von Janukowitsch bzw. deren Nachfolgeorganisationen in einigen Gebieten noch immer eine starke bis dominierende Position haben (s. Grafik 8). Im Gebiet Charkiw haben etwa gleichviel Wähler für die Nachfolgeparteien gestimmt wie für die Maidan-Parteien, die in dieser Analyse als neue Mehrheit bezeichnet werden. In den Gebieten Saporishshja, Dnipropetrowsk, Mykolajiw, Cherson und Odesa liegen die Parteien des Maidan vorne. Aber in den Teilen der Gebiete Luhansk und Donezk, die nicht besetzt sind und in denen die ukrainischen Behörden die Wahlen durchführen konnten, stimmte eine deutliche Mehrheit für die Nachfolgeorganisationen.

Allerdings ist dabei folgendes zu bedenken: Bei früheren Wahlen hatte die Partei von Janukowitsch in Donezk und Luhansk Zustimmungsraten um 90 %, hier war ihr politisches Kernland. Jetzt stimmte in den freien Teilen dieser Gebiete etwa ein Viertel der Wähler für die Parteien des Maidan. Bedacht werden muss auch, dass die Zustimmung zum Oppositionsblock keineswegs Separatismus und schon gar nicht Unterstützung für den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine bedeutet. Janukowitsch hat sich, solange er Präsident war, vom Separatismus distanziert, dies gilt umso mehr für die Nachfolgeparteien. Trotz des Stimmverlustes repräsentieren die jetzt als Oppositionsblock auftretenden Regionalen eine ernstzunehmende politische Kraft, die der neuen Mehrheit durchaus gefährlich werden kann, sollte diese die selbst geweckten Erwartungen enttäuschen. Die Opposition artikuliert die Euroskepsis und die prorussische Mentalität in der östlichen Ukraine. Zwar sind die Überbleibsel der Partei der Regionen kein monolithischer Block, sondern in mancher Hinsicht gespalten; das aber gilt für die neue Mehrheit ebenso.

Die politischen Vertreter des Regimes Janukowitsch hätten noch größere Erfolge errungen, wenn die Wahlberechtigten in den besetzten Gebieten und auf der Krim an den Wahlen hätten teilnehmen können. Ihre Zahl in den besetzten Gebieten wird auf 3 Millionen geschätzt; addiert man dazu die etwa 1,7 Millionen Wahlberechtigten auf der Krim, so konnten etwa 12 % der wahlberechtigten Ukrainer ihre Stimme nicht abgeben. Anders gewendet, 88 % der Wahlberechtigten des Landes hatten die Möglichkeit, an den Wahlen teilzunehmen. Insoweit besteht an der Legitimität des Urnenganges kein Zweifel. Die erzwungenen Nichtwähler hätten mit Sicherheit den Stimmenanteil der Opposition erhöht, und die Kommunisten wären nicht an der 5 % Hürde gescheitert.

Die National-Radikalen

Die radikalen Nationalisten sind das Schreckgespenst, das in Russland und im Westen zur Diffamierung der Ukrainer taugt und von dem in großem Umfang Gebrauch gemacht wird. Die Wahlergebnisse zeigen einmal mehr, dass es die rechten radikalen Kräfte durchaus gibt, dass sie aber zahlenmäßig nicht nur der neuen Mehrheit, sondern auch der alten Mehrheit, d. h. den Nachfolgeparteien der Partei der Regionen, unterlegen sind. Was den Grad der organisatorischen Festigkeit angeht, unterscheiden sich die National-Radikalen in nichts von den anderen politischen Gruppierungen: Sie sind institutionell ähnlich zersplittert und volatil.

Größtes Aufsehen erregte im Wahlkampf der – wie es schien – kometenhafte Aufstieg der Radikalen Partei Oleh Ljaschkos, der nicht zuletzt durch seine militante Rhetorik und seine gewalttätigen Auftritte das Publikum unterhielt und faszinierte. Ljaschko positionierte sich als Mann des Krieges und des Kampfes, kompromisslos gegenüber Oligarchen und Russen. Bei der Präsidentenwahl im Mai schaffte er es mit 8 % auf Platz drei. Bei Vorwahlbefragungen erreichte seine Partei Werte bis zu 20 %. Tatsächlich erhielt sie bei den Parlamentswahlen 7,45 % der Stimmen und damit 22 Abgeordnetenmandate.

Ljaschko gibt sich als Politiker ohne den Willen zum Kompromiss und die Bereitschaft zur Toleranz. Dies unterscheidet ihn von dem bisherigen Führer der radikalen Nationalisten, dem Chef der Partei Swoboda, Oleh Tjahnybok. Er hatte bei den Parlamentswahlen 2012 einen ähnlichen Aufstieg erlebt wie jetzt Ljaschko oder die Partei Selbsthilfe: Insbesondere in Lwiw und in der Hauptstadt wurde Swoboda 2012 eine der stärkste Parteien. Der Grund war weder damals noch jetzt ein überbordender integraler Nationalismus der Bürgerlichen, sondern ein starkes Protestpotential, das nach Ausdrucksmöglichkeiten suchte (Interner Link: s. Ukraine-Analysen Nr. 109).

Tjahnybok und Swoboda übernahmen 2014 führende Rollen auf dem Maidan und wurden so in die Verantwortung mit eingebunden. Tjahnybok stand neben Klitschko und Jazenjuk als politischer Führer aller Demonstranten auf dem Podium des Maidan. Er überwand die Rolle des kompromisslosen Nationalisten. Aber damit taugte Swoboda nicht mehr als Blitzableiter für alle Protestler. Die Partei verfehlte mit 4,71 % und nur mit sechs in Einerwahlkreisen gewählten Abgeordneten knapp die Fünfprozentbarriere und wird nicht mehr im Parlament vertreten sein. Allerdings eroberten Tjahnybok selbst und einige prominente Swoboda-Aktivisten insgesamt sechs Mehrheitswahlkreise, so dass diese politische Gruppierung in dieser Form auch weiterhin in der Werchowna Rada präsent sein wird.

Die größte Projektionsfläche für die Angst des Auslands vor einem erstarkenden Nationalismus in der Ukraine ist der Rechte Sektor mit seinem Anführer Dmitrij Jarosch. Diese Gruppe bewaffnete sich bereits im Januar zur Verteidigung des Maidan und weigert sich seither, die Waffen abzugeben. Sie akzeptiert das Gewaltmonopol des Staates nicht. Als politische Partei war der Rechte Sektor erfolglos und erhielt nur 1,80 % der Stimmen bei der Verhältniswahl. Allerdings gelang es Jarosch in seiner Heimat Dnipropetrowsk einen Mehrheitswahlkreis zu erobern; er wird also im Parlament sitzen. Seine Weltsicht ist militaristisch und hat faschistische Züge.

Fazit

Die vorgezogenen Parlamentswahlen waren ebenso wie die Präsidentenwahl im Mai die direkte Folge des Euromaidan, des Aufbegehrens der Zivilgesellschaft gegen die korrupte autoritäre Präsidialherrschaft. Die Wahlen haben die Ergebnisse des Maidan sozusagen formalisiert. Sie sind auch das Eingeständnis, dass die Zivilgesellschaft nicht das Land regieren kann und dass demokratische Institutionen unabdingbar sind. Aus beidem – dem zivilgesellschaftlichen Aufbruch und dieser Formalisierung – gewinnt die ukrainische Gesellschaft Selbstbewusstsein; dies ist ein weiterer Baustein der Staats- und Nationsbildung. Auch die russische Aggression fügt die ukrainische Gesellschaft enger zusammen und fördert die Konsensbildung sowie die Überzeugung, dass die Ukraine auf sich selbst gestellt ist und mit eigenen Kräften den Weg in die Zukunft gestalten muss. Das Land braucht aber, wenn es erfolgreich sein will, die Hilfe des Westens. Die Unterstützung der EU und Amerikas für die Ukraine ist keine Politik gegen Russland, sondern folgt der Einsicht, dass Europa für diejenigen einzustehen hat, die sich ihm zugehörig fühlen und nach westlichen politischen Werten leben wollen. Dabei schaffen Visionen natürlich noch nicht neue Wirklichkeiten, aber ohne sie gibt es keinen Aufbruch.

Weitere Infografiken zu den Wahlen

Fussnoten

Prof. Dr. Gerhard Simon ist Historiker und war Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und lehrte an der Universität zu Köln.