Einleitung
Ukrainischer Rechtsradikalismus war nach der Unabhängigkeitserklärung von 1991 ein weitgehend marginales politisches Phänomen in der Ukraine. Seit 2004 hat die sogenannte Allukrainische Vereinigung »Swoboda« (Freiheit) jedoch eine Entwicklung durchlaufen, die eine signifikante Präsenz von Ultranationalisten im nächsten ukrainischen Parlament möglich erscheinen lässt. Vor diesem Hintergrund behandelt der Beitrag die Vorgeschichte des Aufstiegs der Freiheitspartei und stellt die rechtsradikalen ukrainophonen Grüppchen der 1990er Jahre vor. Dabei wird hier nicht auf die ebenfalls existenten radikalen russophonen Gruppierungen, wie etwa die Progressiv-Sozialistische Partei der Ukraine (PSPU), eingegangen.
Die Ukrainische Nationalversammlung
In der UdSSR der Nachkriegszeit wurde ukrainischer Nationalismus – wie auch andere nichtrussische Nationalismen – von den Staatsorganen unnachgiebig verfolgt. Erst in der Periode der Perestroika ab Mitte der 1980er wurde der sowjetische Staatsapparat weniger repressiv. Das führte dazu, dass bereits vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in einigen nichtrussischen Republiken – wie auch zuvor in der RSFSR – erste offen rechtsextreme Organisationen auftauchten. So wurde 1990 in Lwiw die Vorgängerorganisation einer der wichtigsten postsowjetischen ultranationalistischen Parteien, der Ukrainische Nationalversammlung (UNA), gegründet. Die UNA wurde zunächst von Dmytro Kortschynsky und Jurij Schuchewytsch geleitet. Letzterer ist der Sohn des legendären Anführers der Ukrainischen Aufstandsarmee UPA sowie Schuma-Hauptsturmführers Roman Schuchewytsch. 1991 zog die UNA erstmals Aufsehen auf sich, als sie einen Fackelzug durch die Straßen von Lwiw organisierte. Während des Augustputsches 1991 beschloss die UNA, einen militärischen Flügel der Partei – die Ukrainische Nationale Selbstverteidigung (UNSO) – zu gründen, um sich dem damaligen Restaurationsversuch der Sowjetnomenklatura in Moskau zu widersetzen. Den UNSO-Formierungen gehörten Mitglieder der UNA an, die im Dienst der sowjetischen Armee gestanden hatten. Ihrer ursprünglichen Funktion musste die UNSO allerdings nicht nachkommen, da der Putsch von russischen prodemokratischen Kräften in Moskau niedergeschlagen wurde. Stattdessen fand die paramilitärische Formation andere Aktionsfelder: Von 1992 bis 1994 nahmen Mitglieder der UNA-UNSO an militärischen Konflikten in Transnistrien (auf transnistrischer Seite im Kampf gegen die Moldauer Zentralregierung), in Georgien (auf georgischer Seite im Kampf gegen abchasische Separatisten) und Tschetschenien (auf Seite der tschetschenischen Separatisten im Kampf gegen russische föderalen Truppen) teil. In der Ukraine selbst wurde die UNA-UNSO vor allem zu einem Medienphänomen – nicht zuletzt dank ihrer provokativen Aktionen gegen verschiedene linke oder prorussische Kräfte, aber auch wegen ihrer häufigen Zusammenstöße mit der Polizei. Sie hatte einige Anhänger in der Westukraine, etwa in Galizien. Auf nationaler politischer Bühne hatte die UNA aber weniger Erfolg. Bei den Wahlen 1994 brachte die Partei nur einen Vertreter per Direktmandat ins nationale Parlament, die Werchowna Rada (Oberster Rat). Darüber hinaus wurde der Partei 1995 wegen ihres aggressiven Verhaltens die offizielle Registrierung entzogen. Erst 1997 wurde der UNA erneut der Status einer offiziell registrierten politischen Partei gewährt. Im Vorfeld der Parlamentswahlen von 1998 war eine Reihe besonders radikaler Politiker aus der Parteiführung der UNA ausgeschieden, darunter auch der heute prominente TV-Kommentator Dmytro Kortschynsky. Die teilweise »Säuberung« der Partei hatte jedoch keinen Imagegewinn unter ukrainischen Wählern zur Folge, wie die Parlamentswahlen von 1998 zeigten. Bei diesen Wahlen wurde die Hälfte der Abgeordneten erstmals nach dem Verhältniswahlrecht mit einer 4 %-Hürde gewählt, die andere Hälfte nach dem Mehrheitswahlrecht. Die UNA scheiterte mit einem Ergebnis von 0,39 % der landesweit abgegebenen Stimmen an der Eingangsbarriere und brachte auch keinen Abgeordneten per Direktmandat ins Parlament (vgl. Tabelle 1).
Der Kongress Ukrainischer Nationalisten und Nationale Front
Die zweite bedeutende rechte Partei, die in den frühen 1990er Jahren entstand, war der Kongress Ukrainischer Nationalisten (KUN). Der KUN war eine direkte Nachfolgeorganisation des berühmt-berüchtigten Bandera-Flügels der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B), die nach der Spaltung der OUN in einen radikalen und einen gemäßigten Flügel ab 1940 von dem legendären Nationalisten Stepan Bandera geführt wurde. Eine direkte Kontinuität der OUN-B mit dem KUN wurde durch die aus dem Exil in die Ukraine zurückgekehrte OUN-B-Veteranin Jaroslawa Stezko hergestellt. Die inzwischen verstorbene Stezko war Witwe von Jaroslaw Stezko, einst prominenter Führer der OUN-B und der UPA. Bei den 1994er Parlamentswahlen nach Mehrheitswahlrecht wurden fünf KUN-Mitglieder in die Werchowna Rada gewählt. In Folge der Nachwahl in einem Wahlbezirk wurde 1997 auch Jaroslawa Stezko Abgeordnete des ukrainischen Parlaments. (An den Wahlen 1994 hatte Stezko nicht teilnehmen können, da sie damals noch keinen regulären ukrainischen Pass besaß.) Das relativ hohe Alter vieler Führer des KUN war und ist ein Problem der Organisation. Der Partei gelang in den letzten zwei Jahrzehnten weder eine ideologische noch eine organisatorische Modernisierung, welche vor dem Hintergrund der zunehmenden Wandlung der postsowjetischen ukrainischen Gesellschaft immer dringender wurde. Im Jahr 1998 – mit Einführung einer teilweisen Stimmabgabe nach Parteilisten bei Wahlen zum Parlament – wagte die Partei keine eigenständige Teilnahme nach dem Verhältniswahlrecht. Vor der Wahl wurde stattdessen der Block Nationale Front gegründet, zu dem der KUN sowie die Ukrainische Konservative Republikanische Partei (UKRP) unter der Leitung von Stepan Chmara und die Ukrainische Republikanische Partei (URP) unter Führung von Bohdan Jaroschynskyj gehörten. Allerdings scheiterte auch dieser Parteienblock mit einem Ergebnis von 2,71 % an der damaligen 4 %-Hürde und zog damit nicht ins Parlament ein. Die größte Unterstützung erhielt die Nationale Front 1998 in den galizischen Gebieten Iwano-Frankiwsk (23,75 %), Ternopil (20,86 %) und Lwiw (9,72 %), während in der südöstlichen Ukraine die Wahlergebnisse des Blocks unter 1 % lagen (vgl. Tabelle 2). Dieses wahlgeographische Muster der Unterstützung ukrainophoner Ultranationalisten sollte sich bei späteren landesweiten Abstimmungen wiederholen. Es gelang dem KUN immerhin, drei Abgeordnete per Direktmandat ins Parlament zu bringen – darunter auch wieder Jaroslawa Stezko, die als Alterspräsidentin der dritten Werchowna Rada der unabhängigen Ukraine die erste Sitzung des neuen Parlaments 1998 eröffnete.
Die Sozial-Nationale Partei der Ukraine
Eine weitere ursprünglich marginale, aber – wie sich später herausstellte – wichtige ukrainische rechtsradikale Gruppierung der 1990er Jahre war die Vorgängerorganisation der unten beschriebenen Allukrainischen Vereinigung »Swoboda« (Freiheit) – die Sozial-Nationale Partei der Ukraine (SNPU), welche den offiziellen Status einer registrierten politischen Partei 1995 erlangte. Die SNPU war 1991 in Lwiw von Jaroslaw Andruschkiw, Andrij Parubij und Oleh Tjahnybok gegründet worden, wobei die beiden letztgenannten, zunächst wenig bekannten Politiker in den vergangenen Jahren zu prominenten öffentliche Figuren der Ukraine avancierten. 1993 wurde die Organisation bekannt durch ihre Ankündigung einer Bildung von »Volkskameradschaften«, deren Mitglieder, in schwarze Uniformen gekleidet, Krawalle vor dem Parlament inszenierten. Anzumerken ist, dass von den hier vorgestellten ukrainischen nationalistischen Parteien die SNPU sich am wenigsten bemühte, bestimmte neofaschistische Aspekte ihrer Ideologie zu verbergen. Die offizielle Bezeichnung der Partei-Ideologie – »Sozial-Nationalismus« – wird von vielen Interpreten als Anspielung auf den Nationalsozialismus, also die Ideologie der NSDAP, verstanden. Das offizielle Symbol der SNPU war eine modifizierte Wolfsangel, wie sie u. a. von der SS-Division »Das Reich« während des Zweiten Weltkriegs sowie von einer Reihe europäischer neofaschistischer Organisationen nach 1945 verwendet wurde bzw. wird. In den Leitlinien der SNPU wurde die spiegelbildliche Wolfsangel im damaligen Parteiwappen als Kombinationen der Buchstaben »I« und »N« gedeutet und zur Abkürzung der Phrase »Idee der Nation« erklärt. Einer der jüngeren Führer der SNPU-Nachfolgepartei »Freiheit« in Lwiw Jurij Michaltschyschyn verwendet den LiveJournal- und Email-Namen nachtigal88 (nur ein »L«). Diese Formel spielt nicht nur auf das sogenannte Bataillon Ukrainische Gruppe Nachtigall der Wehrmacht von 1941, sondern auch auf den rechtsextremen Geheimcode »88« an – also den achten Buchstaben des Alphabets, d. h. »HH« für »Heil Hitler!« Das politische Programm der SNPU zeichnete sich durch seinen offen revolutionären Ultranationalismus aus. Es forderte eine Machtübernahme, falls nötig, mit Gewalt, und sah den russischen Staat als Grund für – so wörtlich im Parteiprogramm – »alle Leiden in der Ukraine«. Darüber hinaus war die SNPU eine Partei, die Neonazi-Skinheads und Hooligans für sich zu gewinnen begann. In der breiten Öffentlichkeit blieb die Unterstützung für die Partei in den 1990er Jahren dagegen gering. Im Vorfeld der Parlamentswahlen von 1998 schloss sich die SNPU mit der Allukrainischen Politischen Vereinigung »Staatliche Unabhängigkeit der Ukraine« (SUU) zum rechtsextremen Wählerblock »Weniger Worte« zusammen. Dieser Block erhielt bei der 1998er Wahl zur Werchowna Rada allerdings nur 0,16 % der Stimmen, wobei der Stimmanteil in keinem Wahlkreis höher als 1 % lag. Trotz des Scheiterns des Blocks auf nationaler Ebene wurde einer der Gründer der SNPU, der spätere Parteichef Oleh Tjahnibok, in Lwiw per Direktmandat ins Parlament gewählt. Dieser damals wenig beachtete Erfolg der SNPU erwies sich als schicksalshaft. War es doch Tjahnibok, der im neuen Jahrhundert die nunmehr als Allukrainische Union »Freiheit« auftretende Partei zu bislang ungekannten Wahlerfolgen für die Rechtsextremisten führte. Übersetzung aus dem Russischen von Michael Fiedler Anmerkung: Ausführlichere, frühere Versionen dieses Textes erschienen zuvor in Russisch in der Kasaner Fachzeitschrift »Ab Imperio« (Nr. 2, 2010) sowie in Ukrainisch in dem Kiewer Periodikum »Polityčna krytyka« (Nr. 2, 2011). Wir sprechen hier von »ukrainophonem« Rechtsradikalismus, da es daneben auch noch einen russophonen bzw. panslawistischen Rechtsradikalismus in der Ukraine gibt. Die Quellen, Entwicklungsdynamik und Ideologie des ukrainischen prorussischen Ultranationalismus unterscheiden sich prinzipiell von den hier untersuchten Organisationen, weshalb wir ihn in diesem Beitrag ignorieren.
Über die Autoren:
Dr. Anton Shekhovtsov ist Kreisau-Fellow des George Bell-Instituts, Mitglied der Radicalism and the New Media-Forschungsgruppe der Universität Northampton, England, und Herausgeber der ibidem-Buchreihe »Explorations of the Far Right«. Dr. Andreas Umland ist DAAD-Fachlektor für Politikwissenschaft an der Kiewer Mohyla-Akademie, Ukraine, Mitglied des Valdai Discussion Club sowie ZIMOS Eichstätt und Herausgeber der ibidem-Buchreihe »Soviet and Post-Soviet Politics and Society«.
Lesetipps:
Karel C. Berkhoff, Marco Carynnyk: The Organization of Ukrainian Nationalists and Its Attitude toward Germans and Jews. Iaroslav Stets’ko’s 1941 Zhyttiepys, in: Harvard Ukrainian Studies, Bd. 23, Nr. 3–4, 1999, S. 149–184.
Per Anders Rudling: Organized Anti-Semitism in Contemporary Ukraine. Structure, Influence and Ideology, in: Canadian-Slavonic Papers, Bd. 48, Nr. 1–2, 2006, S. 81–119.
Anton Shekhovtsov: The Creeping Resurgence of the Ukrainian Radical Right? The Case of the Freedom Party, in: Europe-Asia Studies, Bd. 63, Nr. 2, 2011, S. 203–228.
Anton Shekhovtsov: From Para-Militarism to Radical Right-Wing Populism. The Rise of the Ukrainian Far-Right Party Svoboda, in: Ruth Wodak, Brigitte Mral, Majid Khosravinik, Hrsg.: Right-Wing Populism Across Europe. Re/Emergence and Transformation of European Right-Wing Politics and Discourses. London, 2012, im Druck.
Anton Shekhovtsov und Andreas Umland: Der verspätete Aufstieg des ukrainophonen Rechtsradikalismus in der postsowjetischen Ukraine 2002–2012, in: Ost-West. Europäische Perspektiven, 2012, im Druck.
Andreas Umland: Das ukrainische Parteienspektrum vor dem Wandel? Zum Aufstieg der rechtsradikalen Freiheits-Partei, in: Ukraine-Analysen, Nr. 81, 2010, S. 8–12.
Andreas Umland: Ukraine’s Party System in Transition? The Rise of the Radically Right-Wing All-Ukrainian Association »Svoboda«, in: Geopolitika, 5.1.2011, http://www.geopolitika.lt/?artc=4429.