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Analyse: Schrumpfende Ukraine: Bevölkerungsentwicklung und Dilemmata der Politik | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Schrumpfende Ukraine: Bevölkerungsentwicklung und Dilemmata der Politik

Dr. Vlad Mykhnenko, Myroslava Soldak und Prof. Larysa Kuzmenko Leipzig Donezk und Annegret Haase Myroslava Soldak und Larysa Kuzmenko Birmingham Von Vlad Mykhnenko

/ 17 Minuten zu lesen

Die Ukraine erreichte kürzlich eine der weltweit niedrigsten Geburtenraten: durchschnittlich 1,35 Kinder pro Frau. Seit Beginn der 1990er Jahre befindet sich die Ukraine in einem kontinuierlichen Schrumpfungsprozess.

Junge Mütter in Kiew, Ukraine: Die Geburtenrate in der Ukraine erreichte einen weltweit selten gefundenen Tiefstwert (1,35 Kinder pro Frau). (© picture-alliance/AP, Sergei Chuzavkov)

Zusammenfassung

Die Ukraine befindet sich seit Beginn der 1990er Jahre in einem kontinuierlichen Schrumpfungsprozess. Mittlerweile wird der Bevölkerungsverlust im städtischen sowie im ländlichen Raum als ein Problem für die nationale Sicherheit des Landes eingestuft. Von der Politik wurde Schrumpfung angesichts der Wirtschaftskrise in den 1990er Jahren erst spät auf die Agenda gesetzt. Bislang dominieren historische Narrative und leere Schuldzuweisungen die öffentlichen Debatten über die Ursachen der Bevölkerungskrise. Eine umfassende Strategie als Antwort auf das komplexe Problem, die auch interregionale Unterschiede ernst nimmt, wurde bislang nicht entwickelt.

Eine Nation schrumpft

Das Thema Bevölkerungsschrumpfung und seine Auswirkungen auf Städte und Dörfer sowie die Wirtschaft ist zu einem Trendthema in Europa und weltweit geworden. Die Ukraine ist ein Beispiel für ein schnell schrumpfendes Land, in dem die Politik nur schleppend auf die demographischen Entwicklungen reagiert und mit chaotischen und emotional aufgeladenen nationalen Verlautbarungen über die ethnische und kulturelle »Vernichtung« der Nation antwortet. Die Bevölkerungszahl der Ukraine ist in den letzten zwanzig Jahren wahrhaft eingebrochen, mit einem Verlust von fast sieben Millionen Einwohnern seit dem Erreichen der Unabhängigkeit im Jahre 1991. Die demographischen Perspektiven der Ukraine für die nächsten vier bis neun Jahrzehnte sind als geradezu trostlos zu bezeichnen, wenn man sich unterschiedliche aktuelle Vorausberechnungen anschaut. Der »mittleren Schätzung« durch Bevölkerungsexperten der Vereinten Nationen zufolge wird die Bevölkerung der Ukraine von etwa 52 Millionen in den Jahren 1991–92 auf 36 Millionen im Jahre 2050 und danach weiter auf etwa 30 Millionen am Ende des 21. Jahrhunderts sinken. Im Ergebnis wird die Ukraine um 2100 etwa wieder so viele Bewohner haben wie zwei Jahrhunderte zuvor – um 1900 (Grafik 1). Im Verlauf der dramatischen postsozialistischen Transformation in der Ukraine in den 1990er Jahren erreichte das Land einen Tiefpunkt seiner Entwicklung und Tiefstwerte in Bezug auf Entwicklungsindikatoren wie den Human Development Index (HDI). Während der letzten zwanzig Jahre ist die Sterberate der Ukraine mit 15,43 Sterbefällen pro 1.000 Personen noch hinter die Werte von kriegsgebeutelten Staaten des subsaharischen Afrika (15,03) zurückgefallen. Gleichzeitig erreichte die Geburtenrate in der Ukraine einen weltweit selten gefundenen Tiefstwert (1,35 Kinder pro Frau) (Quelle s. Grafik 1). Darüber hinaus war die Ukraine während der letzten beiden Dekaden das am schnellsten schrumpfende Land weltweit, gemessen an der natürlichen Bevölkerungsentwicklung, noch vor Bulgarien, Lettland, Russland, Ungarn, Belarus, Estland, Litauen, Deutschland und Rumänien, in der Mehrheit also ebenso postsozialistische Länder, die die Liste der Staaten mit dem höchsten natürlichen Schwund an Bevölkerung anführen. Schrumpfung ist zweifelsohne ein Teil der regional betrachtet ungleichen und komplexen Entwicklung der Ukraine im Postsozialismus geworden. Sie beeinflusst 26 der 27 größeren Gebietseinheiten des Landes (Oblasti, im Folgenden Regionen) und alle Typen von Siedlungen vom kleinsten Dorf bis hin zu den größten Agglomerationen. Die Versuche der Politik, dieser demographischen Krise sowie ihrer Auswirkungen auf viele Bereiche der nationalen Entwicklung zu begegnen, bleiben jedoch hinter anderen Prioritäten zurück. Die prekäre Situation der ukrainischen Wirtschaft ist wahrscheinlich die am meisten einleuchtende Erklärung für die offensichtliche Untätigkeit der nationalen Regierung, einen landesweiten Politikansatz gegen die Schrumpfung zu entwickeln und sich für die Erhaltung der sozialen und technischen Infrastrukturen, die Stabilisierung dysfunktionaler lokaler Arbeitsmärkte sowie die Versorgung mit Wohnraum und öffentlichen Dienstleistungen in den am stärksten betroffenen Regionen einzusetzen. In den 1990er Jahren, als die Ukraine durch die tiefste Wirtschaftskrise aller postsozialistischen Staaten, die nicht durch Kriegshandlungen ausgelöst worden war, ging, kam es zu einem BIP-Rückgang von 60 % innerhalb eines Jahrzehnts (!). Der schiere Umfang dieses wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der Deindustrialisierung ließ die Bedeutung aller sozialen Probleme zweitrangig werden – das traf auch auf Fragen der demographischen Schrumpfung zu. Im Jahre 2010 hatte die Wirtschaft der Ukrainer erst 66 % ihres Vortransformations-Niveaus erreicht. Der Bevölkerungsrückgang in dieser Zeit betrug 12 %. Demzufolge überrascht es nicht, dass es die langfristige ökonomische Depression und die hohe Arbeitslosigkeit in der Ukraine – und nicht die Schrumpfung von Städten und ruralen Regionen – waren, welche den politischen Diskurs sowohl der nationalen Politik sowie der nationalen, mehrheitlich in Kiew beheimateten Medien beherrschten.

Ein Land schrumpfender Städte und ländlicher Wüstungen

Diese Haltung der hauptstädtischen Eliten der Ukraine steht jedoch konträr zu einer immer besser empirisch untersetzten Realität, die einen klaren Zusammenhang zwischen ökonomischem Erfolg und Bevölkerungsdynamik zeigt. Die in den letzten 15 Jahren am schnellsten wachsenden urbanen oder regionalen Wirtschaftszentren der Ukraine waren entweder gekennzeichnet durch eine wachsende Bevölkerung (z. B. Kiew) oder zumindest durch sehr langsame Raten eines Rückgangs (z. B. Sewastopol oder die Regionen Odessa, Charkiw oder Transkarpatien). Die Beziehung zwischen Bevölkerungsdynamik und wirtschaftlichem Entwicklungspotenzial wird ebenso deutlich, wenn man sich anschaut, um welche Orte es sich bei den am schnellsten schrumpfenden handelt: Sie liegen in ländlichen und kleinstädtisch geprägten Regionen mit Siedlungsgrößen bis zu 20.000 Bewohnern. Kleinere Großstädte mit 50.00–200.000 Einwohnern bilden die Gruppe der ukrainischen Siedlungen, die am zweitschnellsten schrumpft. Im Gegensatz dazu zeigten die größten Städte der Ukraine (mit mehr als 200.000 Bewohnern) nur im Ausnahmefall Schrumpfung und waren größtenteils in der Lage, ihre Vortransformations-Bewohnerzahlen zu halten (Tabelle 1). Generell ist festzustellen, dass der Umfang des Bevölkerungsschwunds in den ländlichen Regionen der Ukraine und in den kleinen Städten von 1989–2011 fast zweimal so groß war wie in den Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern. Alterung, Abwanderung und ein negativer natürlicher Zuwachs, wie ein Sterbeüberschuss im Fachjargon der Demographen heißt, hatten einen nachteiligen Einfluss auf das rurale und periurbane Hinterland der Ukraine, auch schon vor dem Zusammenbruch des Staatssozialismus. Der Niedergang zahlreicher Dörfer und Kleinstädte in der UdSSR nach 1989 ist jedoch mehrheitlich durch die ökonomische Entwicklung im Postsozialismus, die dysfunktionale Massenprivatisierung der staatlichen Betriebe, die Deindustrialisierung sowie die sich daraus ergebenden »strukturellen Anpassungen« zu begründen. Am Vorabend der ukrainischen Unabhängigkeit im Jahr 1991 besaß das Land einen großen Primärsektor und über 25 % der arbeitenden Bevölkerung waren in den Bereichen Bergbau, halbkommerzielle und Subsistenz-Landwirtschaft tätig. 20 % der Bevölkerung waren direkt in der Landwirtschaft beschäftigt, welche große Teile der westlichen, zentralen und südlichen Ukraine dominierte. Weitere 30 % waren in staatseigenen Betrieben beschäftigt, die sich größtenteils im Osten des Landes befanden. Fast die Hälfte aller Einwohner lebte von der Landwirtschaft, vom Bergbau oder von der Kleinindustrie; einer von drei Ukrainern in einem Dorf bzw. 15 % aller Bewohner in einer Siedlung mit weniger als 20.000 Einwohnern. Der Rückzug des postsowjetischen Staates aus der Produktion in den 1990er Jahren bedeutete auch das Ende der staatlichen Investitionen in die ehemals staatseigenen Betriebe in Industrie und Landwirtschaft. Im Ergebnis beschleunigte sich die rurale Schrumpfung dadurch weiter. Stadtschrumpfung ist jedoch zu einem ebenso verbreiteten Phänomen geworden. Während im Zeitraum 1979–1989 nur zehn der insgesamt 210 Städte der Ukraine einen Bewohnerverlust hinnehmen mussten, wuchs diese Zahl in den folgenden zwanzig Jahren auf 176 an, also von 5 auf 83 % aller Städte mit 20.000 und mehr Bewohnern (!). 21 von den 25 am schnellsten schrumpfenden Städten der Ukraine befinden sich in den industrialisierten östlichen Landesteilen, die meisten konzentrieren sich im zentralen Donbass-Kohlebecken (Regionen Donezk und Luhansk). Manche dieser Städte verloren bis heute mehr als ein Drittel ihrer Bewohner – die Dramatik der postsowjetischen Deindustrialisierung in diesen Regionen könnte kaum größer sein. Gleichzeitig befanden sich nur zwei der 25 am schnellsten wachsenden Städte der Ukraine im Osten des Landes. Elf dieser Städte waren in den westlichen Landesteilen zu finden und verdanken ihren Zuwachs vor allem Zuwanderern aus den umliegenden ländlichen Regionen. Neun weitere Großstädte sind zur schnell wachsenden Metropolregion um die ebenfalls wachsende Hauptstadt zu zählen. Die drittgrößte Gruppe der wachsenden Städte umfasst neue monostrukturell erfolgreiche Zentren wie etwa Kusnezowsk, Netischyn, Enerhodar und Jushnoukrajinsk, die alle Standorte staatseigener Atomkraftwerke darstellen, sowie Illitschiwsk, den viertgrößten kommerziellen Hafen des Landes, oder Perschotrawensk, eine Stadt am Rande eines neu erschlossenen Kohlefeldes im westlichen Donbass (Tabellen 2 und 3). Der Einfluss der Schrumpfung auf die größten Städte der Ukraine hat sich bislang also in Grenzen gehalten. Dennoch ist Schrumpfung zum demographischen Mainstream geworden: Von den 32 größten Städten des Landes (mit 200.000 und mehr Einwohnern) weisen 25 (oder 78 %) einen Bevölkerungsrückgang zwischen 1989 und 2011 auf. In den letzten Jahren begannen auch Städte wie Odessa im Süden, Winnyzja in der Zentralukraine oder Tscherniwzi im Westen, Bevölkerung zu verlieren, wenn auch zunächst nur in geringem Maße. Ein kontinuierliches Wachstum konnten dagegen Kiew, Bila Zerkwa (Region Kiew), Chmelnyzkyj, Riwne, Iwano-Fran­kiwsk oder Luzk (also alles Hauptstädte westukrainischer Regionen) aufweisen. Etwa ein Drittel der größten Städte schrumpfte schneller als der nationale Trend – dazu gehörten altindustrielle Zentren der Ostukraine wie Horliwka, Makijiwka, Dnipropetrowsk, Dniprodser­shynsk, Luhansk, Donezk oder Saporishshja (Tabelle 4).

Im Angesicht des demographischen Niedergangs: Politik der Angst

Ungeachtet des Ausmaßes der Schrumpfung in den ländlichen Regionen der Ukraine schaffte es die Politik, das Problem eine Dekade lang »erfolgreich zu ignorieren«. Als eine der größten Herausforderungen für die Ukraine wurde der Bevölkerungsverlust erst in den späten 1990er Jahren durch die linke Opposition auf die Agenda gehoben. Anlässlich der Parlamentswahlen 1998 sowie der Präsidentschaftswahlen 1999 hatten Natalija Witrenko, die Vorsitzende der Sozialistischen Partei der Ukraine und damaliges Mitglied des ukrainischen Parlaments sowie Petro Symonenko, Vorsitzender der Kommunistischen Partei und ebenso Abgeordneter, immer wieder die USA wegen deren neoliberaler Reformen im Bereich der internationalen Finanzpolitik attackiert. Sie sahen die Reformen als einen der Hauptgründe für die wirtschaftliche Misere der Ukraine an. Oftmals wurde in diesem Zusammenhang auch vom »IWF-Genozid« als einem imperialistischen Projekt des Westens gegenüber der Ukraine mit dem Ziel der Zerstörung des ehemaligen Gegners aus dem Kalten Krieg durch die »Vernichtung« der ostslawischen Nationen gesprochen. Es dauerte dann nicht einmal bis zu den folgenreichen Präsidentschaftswahlen 2004, bis auch die Konservativen und die nationalen bis nationalistischen Parteien sowie die extreme Rechte die Fragen des Bevölkerungsverlusts, Geburteneinbruchs und der Abwanderung als »Selbstmord der Nation« auf der Tagesordnung hatten. Im wesentlich weniger emotional geführten Diskurs der Experten wurde das Phänomen Schrumpfung generell als Bevölkerungsrückgang verstanden, also im Fachjargon Depopulation. Demzufolge behandelte die Politik Schrumpfung stets vorrangig als ein demographisches Problem, als eine demographische Krise. Seit dem Ende der 1990er Jahre jedoch erreicht die Diskussion um Schrumpfung schrittweise auch andere Politikbereiche wie etwa Arbeitsmarktpolitik oder Lokal- bzw. Regionalpolitik. Jedoch ist zu konstatieren, dass erst im Jahr 2010, also nach 18 Jahren kontinuierlichem Bevölkerungsschwund, ein breiterer Ansatz entwickelt wurde, auf dessen Basis man sich mit dem Problem auseinandersetzte, wenngleich zunächst nur mit begrenzter öffentlicher Ausstrahlung. Bis vor kurzem waren die politische und planerische Tätigkeit kaum mit Schrumpfung verbunden. Einerseits war diese durch die Zentralregierung und die Kiewer akademische Elite als landesweites Problem identifiziert worden. Regionale Unterschiede oder lokale Spezifika ihrer Auswirkungen spielten in dieser Sicht auf das Problem eine untergeordnete Rolle. Andererseits wurden Ressourcen seitens des Staates und seiner verschiedenen Organe sowie von Experten für Planung, Wirtschaft etc. vor allem in die am schwächsten entwickelten bzw. rückständigsten Gebiete des Landes gesteckt, die offiziell als »Depressionsregionen« bzw. »prioritäre Entwicklungsgebiete« bezeichnet werden.

Schrumpfung kommt unter Kutschma auf die Agenda

Chronologisch betrachtet wurde Schrumpfung zum ersten Mal offiziell am Ende der ersten Amtsperiode von Präsident Leonid Kutschma problematisiert. Im Oktober 1997 erklärte Kutschma in einem speziellen Erlass die Sicherung der demographischen Reproduktion zu einem seiner acht strategischen Ziele in der Sozialpolitik. Der Erlass erkannte den kontinuierlichen Bevölkerungsverlust in der Ukraine in den letzten Jahren als Tatsache an und schlug eine Reihe von Gegenmaßnahmen vor, etwa die Erhöhung der Geburtenzahlen und der Lebenserwartung, die Senkung der Sterberaten sowie einige familienpolitische Maßnahmen. Im Vorfeld seiner angestrebten Wiederwahl 1999 sah er sich dem Vorwurf seitens der linken politischen Opposition (u. a. durch die oben erwähnten Petro Symonenko, und Natalija Witrenko sowie durch Oleksandr Moros von der Sozialistischen Partei und Oleksandr Tkatschenko von der Bauernpartei) ausgesetzt, mit seiner Politik selbst zum »IWF-Genozid« am eigenen Volk beigetragen zu haben. In einem neuen Präsidenten-Erlass vom August 1999 betonte Kutschma die negativen Auswirkungen der demographischen Entwicklung der 1960er bis 1990er Jahre einschließlich des langfristigen Geburtenrückgangs, der Zunahme der Sterbeüberschüsse, der zurückgehenden Lebenserwartung und der generellen Alterung für die ukrainische Bevölkerung und den ukrainischen Staat. Um die »natürliche Basis des Arbeitskräftepotenzials der Ukraine« zu erhöhen, wurden staatliche Maßnahmen zur Familienförderung und Kinderfreundlichkeit erarbeitet. Ziel war es, die Reproduktionszahlen bis über die Bestanderhaltungsquote zu bringen. Dafür sollten Wohnbedingungen, Gesundheitswesen, soziale Absicherung und Arbeitsmöglichkeiten verbessert werden. Dieser ukraineweiten Strategie wurde eine regionale Politikkomponente beigefügt, um eine möglichst gleiche Entwicklung in allen Landesteilen zu erreichen. Darüber hinaus, und vor allem, um sich gegenüber Petro Symonenko durchzusetzen, dem Führer der ukrainischen Kommunisten aus Donezk und Kutschmas Hauptrivalen im Wahlkampf 1999, unterzeichnete der Präsident eine Verfügung des Parlaments, in der er die gesamte Region Donezk einschließlich aller ihrer Kohlefelder und Stahlstandorte zu einer Sonderwirtschaftszone erklärte.

Stalin, die Nazis und die Globalisierung: Leere Schuldzuweisungen

Nach seiner Wiederwahl kehrte Kutschma zum Thema der »tiefen demographischen Krise« des Landes zurück. Obgleich er seine Politik vor allem auf die sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der »Depressionsregionen« abstimmte, blieb das Bemühen um eine Absenkung der Sterberaten ein Kernpunkt seiner zweiten Amtszeit. Das schloss auch familienpolitische Maßnahmen, Initiativen für die junge Bevölkerung, für Frauen und Kinder ein und sollte für neue Zuwanderung in die von Schrumpfung betroffenen Regionen sorgen. Entsprechend wurde durch die Regierung ein kurzfristiges Programm zur »Gesundheit der Nation« aufgelegt, welches zum ersten Mal die demographische Krise des Landes explizit adressierte. In seinem vorletzten jährlichen präsidialen Erlass der zweiten Amtszeit im Jahre 2003 drückte Kutschma wieder seine »ernste Sorge über die demographische Situation« aus, dieses Mal bemühte er das große historische Narrativ, um die Unfähigkeit seiner Regierung, die Krise der Schrumpfung in den Griff zu bekommen, zu rechtfertigen. Insbesondere die jüngsten demographischen Herausforderungen der Geburtentiefs und Alterung wurden als Folge der sozialen Katastrophen der 1920er bis 1950er Jahre, der beiden Weltkriege, der drei Holodomors (der menschverschuldeten Hungersnöte) von 1921, 1932–33 und 1947, der aufgezwungenen Industrialisierung, Zwangskollektivierung (der Landwirtschaft), der politischen Repressionen der 1930er bis 1950er Jahre und – nicht zuletzt – der Katastrophe von Tschernobyl, gefolgt von der Systemkrise der 1990er Jahre bezeichnet. Es wurde behauptet, dass die erwähnten historischen Ereignisse etwa 16 Millionen ungeborene Kinder zur Folge gehabt und damit »die demographische Struktur der Nation« deformiert hätten. Gemeinsam mit der seit den 1960er Jahren kontinuierlich sinkenden Geburtenrate wurde also die »tragische Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert« mit hoher Wahrscheinlichkeit für den massiven Bevölkerungsverlust verantwortlich gemacht. Ein weiterer Bevölkerungsrückgang bis zumindest 2026 wurde als »unvermeidlich« bezeichnet, da das Land bis zu diesem Zeitpunkt »seine demographischen Wachstumspotenziale faktisch ausgeschöpft habe«, seine Bevölkerung also nicht mehr wachsen werde. Die Bevölkerungspolitik wurde transformiert und richtete sich nunmehr eher auf das Management der Schrumpfung denn auf ihre Umkehr. Im Zentrum dieser neuen Politik standen die Gesundheitsvorsorge zur Bekämpfung der hohen Sterberate, die Wiedereingliederung von Rentnern in den Arbeitsmarkt sowie Anreize, welche Ukrainer aus dem Ausland zur Rückkehr bewegen sollten. All diese Maßnahmen sollten eher der »qualitativen denn der quantitativen« Entwicklung der Bevölkerung und ihrer Strukturen dienen. Anlässlich einer speziellen Sitzung im Mai 2003 erklärte das ukrainische Parlament die »tiefe demographische Krise« des Landes zum »nationalen Sicherheitsrisiko«. Es wurde konstatiert, dass keine der bisherigen Regierungsprogramme bzw. Nationalen Politiken es vermocht hatten, dieser Krise effektiv entgegenzuwirken bzw. einen wirklichen Einfluss auf die Entwicklung gehabt hätten. Bald darauf wurde die Bevölkerungsschrumpfung gesetzmäßig als »nationales Sicherheitsrisiko« verankert durch das Gesetz der Ukraine über die Grundlagen der Nationalen Sicherheit. Damit wurde das Problem zum »Imperativ« für das staatliche Handeln im Sinne der Unterstützung der »erweiterten Reproduktion der Bevölkerung« erhoben. Im Oktober 2004, sieben Jahre nach Kutschmas Erlass über den Bevölkerungsverlust von 1997, verabschiedete die Regierung eine nationale Politik zum Umgang mit der landesweiten demographischen Entwicklung. Dieses Mal jedoch, anstelle einer Ursachensuche in Stalins Politik oder dem Krieg mit Nazi-Deutschland, betonte man die Bedeutung weltweiter Trends bei den Geburtenraten sowie der Wirtschaftskrise der 1990er Jahre, die Verarmung, mangelnde Gesundheitsvorsorge und unzureichende soziale Absicherung als Hauptfaktoren für die eingebrochenen Geburtenzahlen. Das Papier der Regierung wurde vom damaligen Ministerpräsidenten Wiktor Janukowytsch unterschrieben, seinerseits ehemaliger Gouverneur der Region Donezk, der zu dieser Zeit Präsidentschaftswahlkampf betrieb. Damit kann auch der plötzliche »räumliche Fokus« der Bevölkerungsdebatte begründet werden, waren doch die Aussichten für die östlichen Regionen Donezk und Luhansk landesweit am schlechtesten, die Lage dort am dramatischsten. Im Bemühen, diesen negativen Trend anzuhalten, die Geburtenentwicklung anzukurbeln und auch, um interregionale Ungleichheiten der Bevölkerungsentwicklung auszugleichen, plante die Regierung die Einführung einer auf die Zwei-Kind-Familie ausgerichteten Familienpolitik. Schrumpfung wurde also abermals zum Wahlkampfthema.

»… meine Nation wachsen sehen«: Präsident Juschtschenkos Zukunftsversprechen

Wiktor Juschtschenko, der Kandidat der konservativ-nationalen Opposition für die Präsidentschaftswahlen 2004, hatte einige Versprechen betreffs der Bevölkerungsschrumpfung in seinem politischen Manifest, unter anderem einmalige Barauszahlungen für jedes erste, zweite und dritte Neugeborene sowie das Versprechen der Schaffung von 15 Millionen neuer Jobs, um die Abwanderung aus der Ukraine aktiv zu bekämpfen. Nachdem er das erstgenannte Wahlversprechen bald nach seiner Wahl am 26.12.2004 in die Realität umgesetzt hatte, bezeichnete er weiterhin das Ziel, »meine Nation wachsen zu sehen«, als prioritär. Im Juni 2006 gab die ukrainische Regierung überraschend bekannt, dass Janukowytschs Demographischer Entwicklungsplan 2005–2015 nicht länger umgesetzt werde, sondern stattdessen eine neu entwickelte »Demographische Entwicklungsstrategie 2015«. In einer geradezu dramatischen Wende weg von der bisherigen Regierungspolitik sowie von Präsident Juschtschenkos verbalen Verlautbarungen zum Wachstum der Nation legte die neue Strategie den Schwerpunkt explizit auf die aktive Umkehr der Bevölkerungsschrumpfung und der demographischen Krise mit der Maßgabe, die bisherigen Trends anzuhalten. Die neue liberale Regierung unter Ministerpräsident Jurij Jechanurow schlug indes vor, den Schwerpunkt auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der (verbleibenden) Bevölkerung zu legen sowie auf die Erhaltung des existierenden Arbeitskräftepotenzials. Die Strategie »2015« hatte auch den räumlichen Bezug ihrer Vorgänger wieder aus den Augen verloren. Alle Passagen betreffs der interregionalen Disparitäten wurden bis auf eine kurze (und inhaltlich nicht zutreffende) Erwähnung von Kiew als einzig attraktivem Ziel für neue Zuwanderung in die Ukraine gestrichen. In einem expliziten Versuch, den Staatschef versöhnlich zu stimmen, wurde später sogar ein Regierungsprogramm zur Verbesserung der »reproduktiven Gesundheit der Nation« verabschiedet. Gleichzeitig wurde im Rahmen einer separaten Maßnahme in einem 2005 neu eingeführten Gesetz zur Stimulierung der regionalen Entwicklung eine offizielle Definition der »Depressionsregionen« auf regionaler und ökonomischer Basis sowie in Relation zu den größeren Städten festgelegt. »Depression« wurde definiert mit Bezug zur relativen Produktionsleistung des betreffenden Gebiets sowie zu seinen Löhnen und zur Höhe der Arbeitslosigkeit. Nur bei ländlichen Regionen wurden auch demographische Charakteristika wie Bevölkerungsdichte oder natürliche Bevölkerungsentwicklung als Kriterien mitberücksichtigt. Die Regionale Entwicklungsstrategie von 2006 betonte die sich fortsetzende »demographische Transition« hin zu kleinen, oftmals sogar kinderlosen Familien oder Ehen als ein Merkmal entwickelter Gesellschaften als die Haupterklärungsvariable für den Bevölkerungsschwund in der Ukraine. Trotz des eher geringen Interesses von Ministerpräsident Jechanurow am Schrumpfungsproblem kehrte Präsident Juschtschenko in seiner Rede an die Nation im Jahre 2008 zum Thema zurück und forderte eine »radikale, wirklich lebensrettende Politik«, um der demographischen Krise Einhalt zu gebieten. Im Laufe seiner erfolglosen Bemühungen um eine Wiederwahl im Jahr 2009 organisierte er ein Dringlichkeitstreffen des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, um die »demographische Krise« sowie den »sich immer weiter beschleunigenden Bevölkerungsschwund« zu diskutieren. Dies wollte er für seinen Wahlkampf nutzen. Noch wenige Monate zuvor hatte er seine eigenen Erfolge beim »Anhalten der kritischen demographischen Prozesse« sowie der »Massenabwanderung ins Ausland« betont. In einem sehr emotionalen Appell hatte der Staatschef erwähnt, dass im Jahre 2008 84.000 mehr Babys in der Ukraine geboren worden seien als im Jahr 2004. Danach fügte er hinzu: »Und dies, glaube ich, ist erst der Beginn der Wiedergeburt der Nation«.

»50 Millionen Ukrainer bis 2020«: Das Wahlmanifest Janukowytschs

In einer weiteren unerfreulichen Wahlschlacht ging Juschtschenkos späterer Bezwinger Wiktor Janukowytsch sogar noch weiter und erklärte den Anstieg der Bevölkerung der Ukraine auf bis zu 50 Millionen bis 2020 zu seinem Hauptanliegen. Angesichts der Tatsache, dass sich Janukowytschs Geburtsstadt Jenakijewe in der Region Donezk regelmäßig in der Liste der zehn am schnellsten schrumpfenden Städte des Landes befand, war es wenig überraschend, diese Botschaft vom ostukrainischen Präsidentschaftskandidaten zu hören (Tabelle 1). Das Ziel seiner präsidialen Politik überstieg jedoch das positivste UN-Szenario der Bevölkerungsentwicklung bis 2020 um ganze 6 Millionen Menschen (Grafik 1). Vier Wochen vor dem entscheidenden Wahlfinish im Februar 2010 unterzeichnete Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko, Janukowytschs Hauptrivalin im Kampf um die Präsidentschaft, einen Gesetzentwurf über die »erfolgversprechenden Entwicklungsterritorien«. Der Entwurf problematisierte die stetig wachsenden interregionalen Disparitäten in der Ukraine und das schnelle Wachstum der acht bis zehn größten, wettbewerbsstärksten Städte, darunter Kiew und Donezk, auf Kosten der monofunktionalen Städte und der kleineren Städte unter 50.000 Einwohner, welche offiziell als Depressionsregionen anerkannt worden waren, sowie der ruralen Grenzgebiete mit hohen Arbeitslosenzahlen. Im ersten Jahr der Präsidentschaft Janukowytschs beschäftigten die nationalen, regionalen und demographischen Politikleitlinien sowohl die Regierung als auch verschiedene Körperschaften öffentlichen Rechts. 2010 wurden einige Programme in den Bereichen Sozialpolitik, Familien- und Seniorenpolitik, Arbeitsmarktpolitik sowie Bildung und Forschung bzw. Wirtschaftsförderung angeschoben. Zur selben Zeit fand, dem Gesetzentwurf zur Regionalpolitik von 2010 folgend, der komplexe Zusammenhang zwischen lokaler und regionaler ökonomischer Entwicklung, insbesondere mit Bezug zu demographischen Veränderungen, Arbeitsmarktentwicklung, öffentlichen Finanzen sowie Infrastruktur mehr und mehr Anerkennung. Der ökonomische und soziale Entwicklungsplan des Landes aus dem Jahr 2010 stellte eine »schleichende Tendenz« hin zu einer Konzentration von finanzieller und innovativer Macht sowie einer Anziehung von Arbeitskräften (»das ökonomische Leben des Landes«) durch die größten und erfolgreichsten Städte des Landes fest und – im Gegenzug – eine zunehmende Peripherisierung ärmerer, ländlicher und grenznaher Regionen, was zu einer »Ruinierung der lokalen Infrastruktur, zu hoher Arbeitslosigkeit und weiterer Abwanderung, insbesondere der jüngeren Bevölkerungsgruppen sowie Spannungen in den betroffenen sozialen Gemeinschaften«, führen würde. Heute ist es viel zu früh zu sagen, ob der oben erwähnte Ansatz wirklich den Beginn einer integrativeren, räumlich bewussten und der Komplexität des Problems der Schrumpfung Rechnung tragenden Politik in der Ukraine darstellt. Nach wie vor weisen alle Entwicklungen der ukrainischen Regional- und Bevölkerungspolitik auf eine (weitere) schleichende bürokratische Stagnation auf allen Ebenen der Verwaltung bis in die höchsten Ämter der Exekutive hin. Am 24. Mai 2012, anlässlich des jüngsten Treffens des regionalen Rates der Ukraine, eines neu geschaffenen konsultativen Gremiums unter der Leitung von Präsident Janukowytsch, wurde die regionale und demographische Herausforderung nicht erwähnt. Es wurde lediglich auf das neu geschaffene, jedoch extrem unterfinanzierte Regierungsprogramm »Neues Leben« hingewiesen, welches die Einrichtung neuer Geburtskliniken in den Hauptstädten der Regionen vorsieht. Die Tatsache, dass Janukowytsch auf dem Treffen in erster Linie seine neuen »Sozialgeschenke« im Wert von 2 Milliarden Euro lobte, anstatt über dringliche Probleme der strategischen Entwicklung zu diskutieren, ist ein eher ernüchternder Zwischenstand für die vielen schrumpfenden Städte und Regionen in der Ukraine. Vielleicht, so ein schwacher Trost, kehrt die Aufmerksamkeit für die Schrumpfung ja im nächsten Wahlkampf zurück.

Über die Autoren:

Dr. Vlad Mykhnenko arbeitet am Institut für Geographie und Umweltwissenschaften der Universität Birmingham, Großbritannien, mit den Forschungs- und Lehrschwerpunkten Humangeographie, urbane Studien und Resilienz. Seine Forschungsinteressen sind vor allem urbane und Regionalentwicklung, die politische Ökonomie öffentlicher Finanzsysteme sowie die postsozialistische Transformation. Er ist Autor von »The Political Economy of Post-Communism: The Donbas and Upper Silesia in Transition«, Saarbrücken: Lambert Academic Publishing, 2011. Myroslava Soldak und Prof. Larysa Kuzmenko arbeiten am Institut für Industrieökonomie in Donezk, Ukraine, zu schrumpfenden und monostrukturellen Städten in der Ukraine. Dr. Annegret Haase arbeitet am Helmholtzzentrum für Umweltforschung in Leipzig, Deutschland, im Department Stadt- und Umweltsoziologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die vergleichende Stadtentwicklung mit Schwerpunkt Europa, demographische und soziale Prozesse in Städten, urbane Governance und Schrumpfung, postsozialistische Transformation, insbesondere in Polen und Ostmitteleuropa.

Forschungshintergrund des vorliegenden Textes: Der Beitrag basiert auf den Ergebnissen eines EU-Projekts im 7. Forschungsrahmenprogramm mit dem Titel Shrink Smart – The Governance of Shrinkage within a European Context (2009–2012; www.shrinksmart.eu). Lesetipps:

  • Mykhnenko, V. / Turok, I.: East European Cities – Patterns of Growth and Decline, 1960–2005, in: International Planning Studies, 2008 (Jg. 13), Nr. 4 (November), S. 311–342.

  • Mykhnenko, V. /Swain, A.: Ukraine’s Diverging Space-Economy: The Orange Revolution, Post-soviet Development Models and Regional Trajectories, in: European Urban and Regional Studies, 2010 (Jg. 17), Nr. 2 (April), S. 141–165.

  • Haase, A. / Steinführer, A. / Kabisch, S. / Grossmann, K. / Hall, R. (Hrsg.) : Residential and demographic change challenge. The inner city of East Central Europe in the 21st century. Farnham, Burlington: Ashgate, 2011.

  • Homepage des EU-Projekts Shrink Smart: www.shrinksmart.eu

Fussnoten

arbeitet am Institut für Geographie und Umweltwissenschaften der Universität Birmingham, Großbritannien, mit den Forschungs- und Lehrschwerpunkten Humangeographie, urbane Studien und Resilienz. Seine Forschungsinteressen sind vor allem urbane und Regionalentwicklung, die politische Ökonomie öffentlicher Finanzsysteme sowie die postsozialistische Transformation. Er ist Autor von »The Political Economy of Post-Communism: The Donbas and Upper Silesia in Transition«, Saarbrücken: Lambert Academic Publishing, 2011. Myroslava Soldak und Prof. Larysa Kuzmenko arbeiten am Institut für Industrieökonomie in Donezk, Ukraine, zu schrumpfenden und monostrukturellen Städten in der Ukraine. Dr. Annegret Haase arbeitet am Helmholtzzentrum für Umweltforschung in Leipzig, Deutschland, im Department Stadt- und Umweltsoziologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die vergleichende Stadtentwicklung mit Schwerpunkt Europa, demographische und soziale Prozesse in Städten, urbane Governance und Schrumpfung, postsozialistische Transformation, insbesondere in Polen und Ostmitteleuropa.