Der Pogrom gegen die Nichtmuslime Istanbuls im September 1955 gehört zu einem der dunkelsten Kapitel der türkischen Zeitgeschichte. Er begann als eine anti-griechische Kundgebung türkischer Nationalisten am 6. September und artete binnen weniger Stunden in einen Zerstörungsfeldzug gegen die griechische Bevölkerung Istanbuls aus, dem auch andere Nichtmuslime wie Armenier und Juden zum Opfer fielen.
Mit Eisenstangen, Hacken und Knüppeln bewaffnet zog ein nationalistisch fanatisierter Mob in jene Bezirke Istanbuls, in denen Griechen, Juden und Armenier lebten und ihre Geschäfte betrieben. In Beyoğlu/Taksim (Pera), in der heute beliebten touristischen Einkaufsmeile im Herzen Istanbuls,warfen johlende Banden in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955 die Schaufensterscheiben der Geschäfte und Kaufhäuser mit Steinen ein, demolierten Autos, verprügelten Griechen und Angehörige anderer nichtmuslimischer Bevölkerungsgruppen. In den folgenden zwei Tagen zogen Nationalisten plündernd und brandschatzend durch die Stadtviertel Ortaköy, Balıklı, Samatya und Fener sowie auf die Prinzeninseln im Marmarameer, Gebiete mit hohem nichtmuslimischen Bevölkerungsanteil,
zerstörten ihr Eigentum, quälten und drangsalierten dessen Besitzer und vergewaltigten Frauen. Friedhöfe, Kirchen und Synagogen blieben von der Zerstörungswut nicht verschont, mehrere Geistliche wurden getötet.
Danach kamen die Plünderer und ließen mitgehen, was nicht niet- und nagelfest war. Fotografien zeigen: Die İstiklal Caddesi hatte sich an diesen beiden Septembertagen in einen Trümmerhaufen verwandelt. Geschäftsartikel, Gebrauchsgegenstände und Möbelstücke hatten die Täter auf die Straße geworfen. Durcheinander geworfene Stoffballen, Kleidungsstücke, Teppiche, Backwaren, Nippes, zertrümmertes Porzellan und zerstörte Glaswaren bestimmten in diesen Tagen das Stadtbild. Die Plünderer, gewöhnliche Istanbuler Bürgerinnen und Bürger, machten sich über das Diebesgut her und nahmen die auf die Straßen geworfenen Kühlschränke, Waschmaschinen, Staubsauger, Nähmaschinen an sich, die in diesen Jahren ein unerschwinglicher Luxus für die meisten Bürger der Türkei waren. Die muslimisch-türkische Bevölkerung wurde von den Plünderern aufgefordert, sich durch das Anbringen der türkischen Fahne auszuweisen. Umgekehrt wurden griechische, jüdische und armenische Häuser und Geschäfte mit einer Aufschrift (Nichtmuslim, Nichttürke, Griechisch) oder mit einem Kreuz gekennzeichnet. Die Ordnungskräfte kamen ihrer Aufgabe nicht nach, Polizisten sahen dem Treiben untätig zu oder beteiligten sich selbst an der Gewalt. In den Protokollen der späteren Gerichtsverhandlung über diese Ereignisse steht der Ausspruch eines Polizisten, der ein hilfesuchendes Opfer mit den Worten abwimmelt: "Heute bin ich kein Polizist – heute bin ich Türke".
Infobox
Die griechisch-orthodoxe Bevölkerung des Byzantinischen Reiches kam nach der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 und großer Teile des südosteuropäischen Gebietes im 15. Jahrhundert unter osmanische Herrschaft. 1830 spaltete sich Griechenland dann vom osmanischen Vielvölkerstaat ab.
Bis 1908 hatten sich die meisten Völker in Südosteuropa vom Osmanischen Reich gelöst und waren eigenständig geworden. Die im Osmanischen Reich verbliebenen Griechen lebten überwiegend in Istanbul und der Umgebung sowie in den südlichen Küstengebieten. Ihre Zahl belief sich 1914 auf rund 1,7 Millionen.
Zusammen mit der armenischen und der jüdischen Bevölkerungsgruppe prägten Griechen das wirtschaftliche und soziale Leben des Osmanischen Reiches. Nach der Niederlage der griechischen Armee im griechisch-türkischen Krieg 1922 wurde unter Aufsicht des Völkerbundes im Vertrag von Lausanne ein Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei vereinbart. Zwischen 1922 und 1924 verließen rund 1,2 Millionen griechisch-orthodoxe Christen die Türkei und 400.000 Muslime verließen Griechenland.
Die griechische Bevölkerung Istanbuls, rund 120.000 Menschen sowie 110.000 Muslime, im heute zu Griechenland gehörenden Westthrakien, wurden von dem Austausch ausgenommen. Bis 1955 lebten etwa 55.000 griechisch-orthodoxe Bürger in Istanbul. Die nationalistische Politik der 1923 gegründeten Republik Türkei bzw. diskriminierende Maßnahmen gegen Nichtmuslime im Land, führten zu einer kontinuierlichen Abwanderung dieser Bevölkerungsgruppen. Besonders die während des Zweiten Weltkrieges den nichtmuslimischen Minderheiten auferlegte Vermögenssteuer, das Pogrom am 6. und 7. September 1955 sowie die massenhafte Ausweisung von griechischen Staatsbürgern in den 1960er-Jahren führten dazu, dass der größte Teil der Griechen die Türkei verließ. Heute leben nur noch rund 2.000 Griechen in der Türkei.
Hintergrund und Kontext
Den Hintergrund des Pogroms bildeten die
Auslöser der Ausschreitungen waren die im staatlichen türkischen Rundfunk und in Zeitungen verbreiteten Meldungen über einen Bombenanschlag auf das Geburtshaus des Staatsgründers Atatürk im griechischen Thessaloniki am 5. September 1955. Bereits Monate zuvor hatte die Presse mit scharfmachenden Meldungen gegen Griechenland und die Istanbuler Griechen die Stimmung angeheizt. Erst viel später kam heraus, dass der Anschlag von einem türkischen Zyprer ausgeführt und vom türkischen Geheimdienst angezettelt worden war. Am Nachmittag des 6. September waren landesweit, vor allem in Izmir, Ankara, Samsun, Bursa, Eskişehir, Iskenderun und Adana, Kundgebungen gegen Griechenland organisiert worden. Zu den Protestaktionen hatten Studentenverbände und der kurz zuvor gegründete Verein "Zypern ist Türkisch" (Kıbrıs Türktür) aufgerufen. Außer in Istanbul kam es auch in Izmir zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen Nichtmuslime, vor allem gegen griechische Bürger und griechischen Besitz. In vielen anderen Städten dagegen, darunter auch die Hauptstadt Ankara, blieben Gewaltakte gegen Nichtmuslime in der Regel aus.
Eine völlig zerstörte Straße in Istanbul zeugt von den Plünderungen und der Zerstörung der Nacht. Das Pogrom bedeuetet den Anfang vom Ende des Griechentums in der Türkei. (© Tarih Vakfı)
Eine völlig zerstörte Straße in Istanbul zeugt von den Plünderungen und der Zerstörung der Nacht. Das Pogrom bedeuetet den Anfang vom Ende des Griechentums in der Türkei. (© Tarih Vakfı)
Die Bilanz des Pogroms: 4214 Wohnungen, 1004 Geschäfte, 73 Kirchen, zwei Klöster, eine Synagoge, 26 Schulen sowie 5317 Einrichtungen wie Fabriken, Hotels und Gaststätten wurden zerstört oder beschädigt. Allein in Beyoğlu/Istiklal Caddesi, wo jedes zweite Haus oder Geschäft einem Griechen gehörte, wurden 2293 Gebäude zerstört. Beschädigt und verwüstet wurde auch armenisches, jüdisches und auch muslimisches bzw. türkisches Eigentum. Nach unterschiedlichen Quellen wird die Zahl der Todesopfer mit 11 bis 15 und die Zahl der Verletzten mit 300 bis 600 beziffert.
Das Jahr 1955 bildete den Anfang vom vollständigen Ende des Griechentums in der Türkei, obwohl eine Massenauswanderung der rund 100.000 Personen zählenden Griechen zunächst ausblieb. Sie waren damit beschäftigt, die Scherben zusammenzukehren und wurden mit versprochenen staatlichen Hilfs- und Entschädigungsleistungen hingehalten. Die türkische Regierung traf Maßnahmen, um eine Massenabwanderung zu verhindern, was von Athen unterstützt wurde. Der große Exodus der Griechen setzte erst nach der erneuten Zypern-Krise 1964 ein. Heute leben nur noch rund 2.000 Griechen in der Türkei. Nach den Septemberpogromen verließ auch ein Großteil der Armenier und Juden aus Angst vor einem weiteren Pogrom die Türkei Richtung Großbritannien, USA und Israel.
Der Staat und die Täter
Die Regierung reagierte auf die Gewaltakte mit Ausrufung des Ausnahmezustandes über Istanbul, Ankara und Izmir. In Istanbul brachte erst das Eingreifen des Militärs die Gewalttätigkeiten unter Kontrolle. Aber auch Tage und Wochen danach flackerten Gewalttätigkeiten gegen Nichtmuslime auf. Noch im November 1955 kam es zu antisemitischen Kundgebungen in der Hafenstadt Çanakkale in der Dardanellenregion. In der Folge der September-Ausschreitungen trat Innenminister Namık Gedik zurück, einige Gouverneure und Polizeidirektoren von Istanbul und Izmir wurden ihres Amtes enthoben. Ein Jahr später saßen sie allerdings wieder auf ihren Posten.
Die türkische Regierung lehnte jegliche Verantwortung für die Gewalttätigkeiten ab und betrachtete sie als das "traurige Ergebnis" eines angeblichen "kommunistischen Komplotts", um dem Ansehen des Landes zu schaden. Ministerpräsident Adnan Menderes verwies in seiner Rede im türkischen Parlament auf die wegen der Zypern-Krise in Aufwallung geratenen jugendlichen Patrioten, aber die eigentlichen Drahtzieher der Gewalttaten seien die Kommunisten. Diese Begründung stammte aus dem Repertoire des Kalten Krieges, dem sich das Kabinett Menderes zunehmend bediente, entsprach aber nicht der Wirklichkeit. Sie erlaubte eine politische Repressionswelle gegen Kommunisten im Land, die sich daher zunächst nicht gegen die wahren Täter richtete. Landesweit wurden Dutzende Kritiker der Regierung aus dem linken Spektrum verhaftet, denen in späteren Prozessen keinerlei Mittäterschaft nachgewiesen werden konnte.
Verhaftet wurden aber auch an dem Pogrom Beteiligte, allein in Istanbul über 5.000 Personen. Die meisten (3.000) waren Mitglieder des Vereins "Zypern ist türkisch" oder gehörten staatlichen oder staatlich gelenkten Vereinen, Gewerkschaften und Jugendorganisationen an. Auch Mitglieder der Ortsvereine der regierenden
Drei Jahre später, nach der Militärintervention vom 27. Mai 1960 stand dann die Regierung Menderes selbst vor Gericht. Die Ankläger des Militärgerichts im Prozess von Yassıada beschuldigten Menderes und seine Regierung, den Pogrom geplant und seinen Ausbruch provoziert zu haben. Neben der Regierung kamen auch der Polizeichef und der Gouverneur von Istanbul erneut unter Anklage.
Angeklagte während des Yassıada-Prozesses: Teile der Regierung hatten die Ausschreitungen organisiert und mitverantwortet. Die Gerichtserhandlung selbst war jedoch nur ein Schauprozess. (© Wikimedia)
Angeklagte während des Yassıada-Prozesses: Teile der Regierung hatten die Ausschreitungen organisiert und mitverantwortet. Die Gerichtserhandlung selbst war jedoch nur ein Schauprozess. (© Wikimedia)
Tatsächlich gaben nun viele Angeklagte vor Gericht an, Anweisungen von staatlichen Stellen zur Organisation und Ausführung der Ausschreitungen erhalten und diese ausgeführt zu haben. Außerdem wurde im Gerichtsverfahren bekannt, dass Regierungsmitglieder Kenntnis von den geplanten Ausschreitungen hatten. Offenbar waren anti-griechische Demonstrationen geplant worden, um Druck auf Griechenland auszuüben und um die Verhandlungsposition des türkischen Außenministers Fatin Rüştü Zorlu auf der Londoner Zypern-Konferenz zu stärken. Dieser hatte in einem Telegramm aus London an seine Regierung angeregt, mit einigen Demonstrationen den "Volkswillen der Türken" zum Ausdruck zu bringen. In der Tat spricht vieles dafür, dass die Ausschreitungen von Institutionen wie dem Parteiapparat der
Doch der Yassıada-Prozess entwickelte sich zu einem Schauprozess, in dem nicht einmal die Mindeststandards des Rechtsstaates eingehalten wurden. Den Militärs ging es offenbar in erster Linie darum, ihren Putsch zu legitimieren und mit der gestürzten DP-Regierung persönlich abzurechnen und weniger darum, Täter, Hintergründe und Motive des Septemberpogroms juristisch aufzuarbeiten. Der Militärrichter erklärte die Regierungsmitglieder zu Hauptverantwortlichen. Doch darüber hinausgehenden Verbindungen anderer Staatsorgane (Geheimdienst und Armee) ging das Gericht nicht nach, obwohl darüber Beweise bzw. Anhaltspunkte vorlagen. Ministerpräsident Menderes und zwei Kabinettsmitglieder wurden als Hauptverantwortliche schuldig gesprochen und zu Haftstrafen von 6 bzw. 4,5 Jahren verurteilt.
Die öffentliche Aufarbeitung
Anders als der
Das öffentliche Gedenken findet aber nur in Teilen der Bevölkerung und der Medien statt. Von einer erinnerungskulturellen Bedeutung des Pogroms seitens des Staates kann nicht die Rede sein. Es gibt weder ein staatlich initiiertes oder unterstütztes Gedenken noch Denkmäler, die an die Opfer erinnern.