Es ist nicht wahr, dass das Schicksal der Roma in Osteuropa nicht auf Empathie träfe. Zu Tränen gerührt hat die rumänische Öffentlichkeit zum Beispiel der Fall des schönen jungen Papan Chilibar, der zu so großen Hoffnungen berechtigte und dann doch so grausam zugrunde ging. Mit dem erst 20-Jährigen als Hauptdarsteller gewann sein Regisseur Florin Șerban 2010 für seinen Film "Eu când vreau să fluier, fluier" ("Wenn ich pfeifen will, dann pfeife ich") beim Berliner Filmfestival den "Silbernen Bären". Dass der junge Papan zwei Jahre wegen Einbruchs im Gefängnis gesessen hatte, verzieh ihm das Publikum gern. "Papan ist etwas Besonderes, er ist hochbegabt, hochmütig und scheu", schwärmte Șerban von seiner Entdeckung: "Und er strotzt vor Aufrichtigkeit."
Bald aber nach seinem glanzvollen Auftritt in Berlin fiel der so viel versprechende junge Mann in sein altes Leben. "Ich komme aus einer sehr niedrigen Klasse", hatte Papan in einem Interview gesagt. "Ich arbeite als Tagelöhner, fahre Waren aus, helfe in der Blumenhandlung. Alles Niedrige, das mache ich." Als Filmstar kehrte er zurück in die Wohnung zu seiner Frau, seiner dreijährigen Tochter und den fünfzehn anderen, die auf engstem Raum miteinander lebten, ließ sich zum Stehlen schicken, kam wieder ins Gefängnis und starb 21-jährig an Leukämie.
Gelesen wurde die traurige Geschichte des Papan Chilibar in Rumänien meistens als Exempel für das ewig "Zigeunerische", das, wenn nicht in den Genen, so doch tief in der Kultur wurzele und das sich auch mit Bildung, Förderung und maximaler gesellschaftlicher Integration nun einmal nicht wegbringen lasse. Es ist ein alter Topos: Selbst wenn Roma äußerlich ganz und gar angepasst leben und das Elend ihrer Vorfahren hinter sich gelassen haben, so werden sie ihrer unzerstörbaren Eigenart doch immer noch ein Reservoir suchen – zum Beispiel, obwohl sie das inzwischen leicht könnten, doch die Stromrechnung nicht bezahlen, wie man vor allem in Bulgarien hören kann. Die Erzählung von den ewigen "Zigeunern" erfüllt gleich zwei Funktionen: Sie entlastet die Gesellschaft von der Anstrengung, ihren ärmsten Mitgliedern zu helfen, und sie erlöst arme ethnische Rumänen und Bulgaren von der Angst, in dasselbe Elend wie die Roma zu fallen. Mir kann das nicht passieren, ist die Botschaft; ich bin ja kein "Zigeuner".
Was unten richtig ist, ist oben falsch
Man kann die Geschichte des Papan Chilibar aber auch ganz anders lesen. Zwar durchmisst selten einer eine solche Fallhöhe wie der junge Schauspieler. Andere aber, die aus ähnlichem Elend kommen, bleiben auf einmal tagelang der Arbeit fern, weil ein Onkel irgendwo in einer anderen Stadt etwas zu erledigen hat, und verlieren deshalb den mühsam errungenen Job. Es ist tatsächlich eine häufige Erfahrung: Kaum kommt einer zu was, will die ganze Verwandtschaft daran teilhaben, und der Aufsteiger lässt sich in sein Milieu wieder herabziehen. Aber was beim Aufstieg zum unüberwindlichen Hemmnis wird, die enge Solidarität in der Familie, ist im Elend eine lebensnotwendige Tugend. Das war Papan Chilibars Lebenserfahrung. Wer am Rande der Existenz lebt, ist immer wieder auf die Hilfe anderer angewiesen; allein kommt niemand zurecht, auch "notfalls" nicht. Und wer einmal Hilfe angenommen hat, kann sie um den Preis seiner lebensrettenden Zugehörigkeit zum Milieu einem hilfsbedürftigen Verwandten nicht verweigern. Was unten richtig ist, ist oben falsch.
Menschen, die in Elendssiedlungen hineingeboren wurden und deren grundlegende Bedürfnisse dauernd unerfüllt bleiben, vergleicht der Philosoph und Armutsforscher Charles Karelis mit Schmerzpatienten. Beide leiden ständig. Wenn man Schmerzpatienten fragt, wünschen sie sich nicht, an dieser oder jener Körperstelle etwas weniger Schmerzen zu haben. Sie wünschen sich vielmehr einen einzigen schmerzfreien Tag – und zwar aus gutem Grund und nicht etwa, weil sie wegen der starken Schmerzen apathisch oder irgendwie unzurechnungsfähig wären. Karelis greift zu einem etwas gesuchten, aber treffenden Beispiel. Nehmen wir einen Menschen, der jeden Morgen mit zwei schmerzenden Wespenstichen aufwacht und jeden zweiten Tag auf seinem Nachttisch zwei Tüpfelchen Salbe findet. Nach der Ökonomie der Bessergestellten wird der Mensch jeden Tag ein Tüpfelchen Salbe sparen, damit er auch am anderen Morgen eines hat. Mit dem einen Tüpfelchen kann er den Schmerz von einem der beiden Stiche heilen. Der andere tut dann aber immer noch weh; die Linderung, die er verspürt, liegt unter 50 Prozent. Nimmt er aber beide Dosen auf einmal, so hat er auf zwei Tage gerechnet seine Schmerzen um die Hälfte reduziert. Auf die Situation von Slumbewohnern übertragen heißt das: Es ist einfach nicht vernünftig, sich immer nur halb satt zu essen. Wenn man sich immer nur halb satt isst, hat man immer Hunger. Isst man sich dagegen jeden zweiten Tag satt, so hat man vielleicht am anderen Tag etwas mehr Hunger als im halbsatten Zustand, kommt unter dem Strich aber besser weg.
Mehr arbeiten führt, wenn man kaum Geld dafür bekommt, nicht zur Zufriedenheit, sondern höchstens zu etwas weniger Unzufriedenheit. Sparen kann man, wenn man in einer Elendssiedlung lebt, so wenig, dass man sich mit dem Ersparten für die zusätzlichen Entbehrungen nicht schadlos halten kann. Der Aufwand, den man selbst für kleine Verbesserungen treiben muss, steht zum Ertrag in keinem angemessenen Verhältnis. Das ist die Ökonomie der Armut. Sie ist logisch und damit zwingend, entziehen kann man sich ihr nicht. Alle erzieherischen Bemühungen werden an ihr zuschanden. Mit Kultur oder mit individuellen Defiziten hat die Ökonomie der Armut nichts zu tun; sie gilt für Roma in Südosteuropa ebenso wie für die Slumbewohner auf der ganzen Welt.
Die Hälfte ist ungewollt arbeitslos
Roma sind in den EU-Ländern Bulgarien und Rumänien, wo sie jeweils rund ein Zehntel der Bevölkerung ausmachen, in ihrer großen Mehrheit arm.
Während die Mehrheit der rumänischen Roma auf dem Land lebt, dominieren in Bulgarien die Roma-Viertel in den Städten, die nicht immer an deren Rändern liegen, sondern oft auch zentrumsnah, dann aber ghettoähnlich abgegrenzt gegen das Umfeld. Statistiken belegen den Augenschein. Nach einer großen Studie des Jahres 2011 über die Lage von Roma in Rumänien hatten in den zwei Jahren vor der Befragung nur zehn Prozent kontinuierlich Arbeit, sechs Prozent phasenweise, 32 Prozent sporadisch und 52 Prozent überhaupt nicht. Die offizielle Arbeitslosenrate (die bei verbreiteter Schattenökonomie sowie unregistrierter Arbeitslosigkeit die Verhältnisse nicht eins zu eins abbildet) lag 2011 in ganz Rumänien bei 7,4 Prozent und unter rumänischen Roma bei 48,7 Prozent. Von den dauerarbeitslosen Roma erklärten 56 Prozent, dass sie gerne arbeiten würden.
Die Armut versperrt auch den Zugang zur Schule und zum Arzt. In Bulgarien sind nur 46 Prozent der Roma krankenversichert. Seit einer Bildungsreform, bei der kleine ländliche Schulen geschlossen wurden, ist in Bulgarien die Zahl der Kinder ohne jede Schulbildung gestiegen. In den Aufnahmeländern gehen dagegen fast alle Kinder zur Schule. Zwar haben auch in beiden südosteuropäischen Ländern zwischen 80 und 90 Prozent der Roma-Kinder eine Volksschule durchlaufen. Aber nur etwa jeder Zehnte besucht eine höhere Schule, und der Anteil derer, die es auf die Universität schaffen, liegt im Promillebereich. Von denen, die ihre Kinder nicht oder nicht mehr zur Schule schicken, geben jeweils um die 60 Prozent Geldmangel als Grund an.
Bildung sei der Schlüssel für die Lösung der Probleme, heißt es oft. Aber die Verhältnisse sagen etwas anderes. Nicht nur in der Beurteilung durch die Roma, sondern tatsächlich ist überall in den Übergangsländern der Wert von Bildung seit dem Übergang zur Marktwirtschaft dramatisch gesunken. Eine ganze Generation hat die Erfahrung gemacht, dass es auf formale Bildung, auf Schulabschlüsse und Zertifikate zuallerletzt ankommt. Die Eltern waren Ingenieur oder Russischlehrerin, konnten Schaltpläne zeichnen und Tolstoi interpretieren. Während sie ihre Arbeit verloren, zu trinken begannen oder putzen gingen, legte der komplett ungebildete Nachbar sich einen Maserati zu. Wenn ich fleißig lerne, dann habe ich später ein gutes Leben: Der Zusammenhang, der im Westen noch immer besteht, ist in Ländern wie Rumänien und Bulgarien zerrissen. Wo hohe Arbeitslosigkeit herrscht, stehen für jede freie Stelle zudem genügend gleich qualifizierte Bewerber zur Verfügung. Nicht die Bildung entscheidet dort darüber, wer eingestellt wird, sondern die soziale oder familiäre Nähe zum Arbeitgeber – eine Ressource, über die Roma in den seltensten Fällen verfügen.
Europas unbekannte Sklaverei-Geschichte
Arm und unterprivilegiert sind Roma in Rumänien, Bulgarien und ganz Südosteuropa seit jeher. Ihre Geschichte ist aber eine andere als die der Romvölker in West- und Mitteleuropa. Während Sinti, Kalé oder Manouche in Deutschland, Spanien und Frankreich gleich nach ihrer Ankunft im Spätmittelalter buchstäblich ausgegrenzt und immer wieder vertrieben wurden, wurden sie auf den Latifundien Osteuropas als billige Arbeitskräfte geradezu gesucht. In Ungarn und damit auch in Siebenbürgen ebenso wie im Osmanischen Reich, zu dem auch Bulgarien gehörte, waren sie Leibeigene. In den rumänischen Fürstentümern blieben sie bis 1855/56 sogar im Rechtsstatus der Sklaverei. Das heißt, man konnte sie, ganz wie die Baumwollsklaven in den USA, verkaufen und ihre Familien zerreißen. Wie in den US-Südstaaten war die Sklavenbefreiung auch in Rumänien nicht mit der Zuteilung von Landbesitz verbunden und schuf so ein riesiges, verelendendes Landproletariat. Schon in den Jahrhunderten der Sklaverei waren Roma aus Rumänien immer wieder in Nachbarländer geflüchtet; die Mehrheit der heutigen Balkan-Roma besteht aus Sprechergruppen der "Vlah"-Dialekte des Romanes, die alle irgendwann aus Rumänien gekommen sind. Nach den 1850er-Jahren nahm die Auswanderung von Roma aus Rumänien noch stark zu und erreichte auch Deutschland.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die kommunistischen Regime, die – in Bulgarien noch stärker als in Rumänien – die Roma in den Aufbau der Industrie einbezogen. Dabei spielte auch Zwang eine Rolle: Werksbusse fuhren über die Dörfer und sammelten die arbeitsfähigen Roma ein, damit sie in den Fabriken die Reinigungsarbeiten oder Hilfstätigkeiten in den LPGs (landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) übernahmen. Für die zweite Generation war die Einbeziehung in die Arbeitswelt aber zugleich Chance zum Aufstieg; die schmale Schicht der arrivierten, gut ausgebildeten Roma, die heute in NGOs, in Schulen und an Universitäten mit den Angelegenheiten der Minderheit betraut sind, ist in den 1970er-Jahren entstanden. Als mit dem Übergang zur Marktwirtschaft in beiden Ländern die Industrie zusammenbrach, war es mit der Integration abrupt vorbei. Die einfachen Jobs fielen als Erstes weg, und unter denen, die ihre Arbeit verloren, waren fast alle Roma. Weil Roma-Familien schon vor Beginn der Kollektivierung kein Eigentum hatten, gingen sie bei der Restitution verstaatlichten Grund und Bodens leer aus und hatten an der allgemeinen Stadtflucht der 1990er-Jahre nicht teil. So entstanden – oder wuchsen – die Armuts- und Elendsviertel wie Stolipinowo im bulgarischen Plowdiw, Fakulteta in Sofia oder Ferentari in Bukarest.
Ethnische und/oder soziale Minderheit?
Lange haben die südosteuropäischen Nationalstaaten und auch die Europäische Union die Roma allein als nationale Minderheit verstanden und behandelt. Dass sie zugleich eine gesellschaftliche Unterschicht waren, deren Elend sich seit der Wende verschlimmerte und verstetigte, blieb lange außer Betracht. Konzepte aber, die für ethnische Minderheiten entwickelt wurden, eignen sich für sozial schwache Gruppen nicht. Ethnische oder nationale Minderheiten verlangen für sich Autonomie und damit das Recht, ihre Verhältnisse weitgehend untereinander zu regeln. Für sozial Schwache dagegen ist "Autonomie" bloß ein anderes Wort für Ausgrenzung; sie verlangen im Gegenteil restlose Integration in die Mehrheitsgesellschaft. Eine separate "Roma-Gesellschaft" mit einer eigenen Ober-, Mittel- und Unterschicht gibt es in Rumänien und Bulgarien nicht. Die schmale "Roma-Elite" in beiden Ländern ist nicht aus Ausleseprozessen unter den Roma hervorgegangen, sondern hat sich erst nach weitgehender Assimilation der Roma-Identität wieder besonnen. Wirklich helfen kann den Roma nur eine konsequente Armutsbekämpfung, gepaart mit großen, beschäftigungsintensiven Infrastrukturprogrammen und einer konsequenten Ächtung von ethnischer oder "rassischer" Diskriminierung.