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Analyse: Die "Neue Seidenstraße" und Russland: zwischen Geopolitik und Wirtschaft | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die "Neue Seidenstraße" und Russland: zwischen Geopolitik und Wirtschaft

Ivan Zuenko Wladiwostok) Ivan Zuenko (Außenstelle Ferner Osten der Russischen Akademie der Wissenschaften

/ 9 Minuten zu lesen

Neben einer Reihe von Chancen birgt die chinesische Belt and Road Initiative (BRI) auch einige Herausforderungen für die russisch-chinesischen Beziehungen. Bisher ist es Russland gelungen, souverän und unter Berücksichtigung eigener wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen auf das Projekt zu reagieren.

Auf einer Messe im ostchinesischen Qingdao, bei der ausländische Produkte der Belt and Road-Länder zu kaufen waren, wurden an einem Stand russische Schokoladen angeboten. (© picture alliance/ZUMA Press)

Zusammenfassung

Die vergangenen zwei Jahrzehnte waren eine Periode einer stetigen Annäherung zwischen Russland und China. Dieser Prozess ist Mitte der 2010er Jahre – angesichts der "Krimkrise", der Verschlechterung der Beziehungen Russlands zum Westen und des Beginns des chinesischen Integrationsprojektes "Belt and Road Initiative" (BRI), in dem Russland eine gute Möglichkeit zur Bewältigung seiner geopolitischen und wirtschaftlichen Aufgaben erblickte, – intensiver geworden. Die Haltung Moskaus zu Pekings Initiative bleibt positiv, auch wenn Russland in den vergangenen sechs Jahren seit Beginn der BRI nicht jenen Strom an chinesischen Investitionen erhalten hat, mit dem es gerechnet hatte. Bedenkt man jedoch, dass die Qualitätsanforderungen an die Investitionen ursprünglich recht streng waren und die Ziele einer "Beteiligung" an der chinesischen Initiative auf dem Gebiet der Geopolitik und des Aufbaus einer multipolaren Welt lagen, ist die Politik Moskaus hinsichtlich der BRI als effektiv zu bezeichnen.

Einleitung

Die chinesische "Belt and Road Initiative" (BRI; von 2013–2016/17: "One Belt – One Road" – OBOR), die in der Publizistik oft auch als Initiative für eine "Neue Seidenstraße" bezeichnet wird, hat sich in den sechs Jahren ihres Bestehens in ein Synonym für "Außenpolitik der Volksrepublik China im eurasischen Raum" gewandelt. Und ungeachtet des Umstandes, dass eine Reihe von Fachleuten (darunter der Autor dieses Beitrages) durchaus begründete Zweifel äußern, dass die BRI vor allem einen politischen Kurs darstellt und nicht einfach ein philosophisches Konzept oder ein PR-Projekt von Xi Jinping, nimmt die russische Führung (und in deren Gefolge ein großer Teil der Experten) die "Neue Seidenstraße" ziemlich ernst. Belege hierfür sind etwa die gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit zwischen Russland und China über eine "Verknüpfung" von Eurasischer Wirtschaftsunion (EAWU) und dem "Silk Road Economic Belt" (dt. in etwa: "Wirtschaftsgürtel Seidenstraße"), die im Mai 2015 unterzeichnet wurde, die Teilnahme Wladimir Putins an zwei Seidenstraßen-Foren 2017 und 2019 in Peking sowie eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten und Analysen zu dieser chinesischen Initiative.

Geopolitische und wirtschaftliche Möglichkeiten

Die Wahrnehmung der BRI in Russland weist einige Besonderheiten auf, da sie sich nicht allein auf die Wirtschaft und eine wirtschaftliche Integration beschränkt. Kennzeichnend für Russland ist eine sehr große Aufmerksamkeit vor allem für geopolitische Aspekte. Die chinesische Initiative wird somit in dem Kontext eines vermeintlichen chinesischen Strebens nach wirtschaftlicher, kultureller oder sogar militärischer Kontrolle über die Mitte des eurasischen Kontinents wahrgenommen. Die BRI wird somit als eine neue geopolitische Realität aufgefasst, die von Russland als Großmacht eine optimale Reaktion erfordert.

Die geopolitischen Weltbilder unterscheiden sich bei den Experten, je nachdem, welche ideologische Schule sie repräsentieren. Das schafft gewisse Komplikationen, wenn es darum geht, den Mainstream im aktuellen Diskurs in Russland zu umreißen. Ich wage jedoch zu behaupten, dass die gegenwärtige Elite in Russland am ehesten einem geopolitischen Weltbild anhängt, das sich grob mit "neoeurasistisch" umschreiben ließe. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Westen beharrlich bestrebt ist, die Hebel zu einer monopolhaften Steuerung der Welt nicht aus der Hand zu geben und den Entstehungsprozess einer polyzentrischen Weltordnung sowie eine Annäherung von Russland und China – zweier Großmächte des Kontinents – zu behindern. In der Regel gehen diese "Neoeurasisten" von unüberbrückbaren Widersprüchen zwischen China und den USA aus und zeigen sich dementsprechend überzeugt, dass die russisch-chinesischen "konstruktiven Beziehungen" die Dominanz der USA aufwiegen können. China erscheint in Russlands Kampf mit der Dominanz des Westens als "natürlicher Verbündeter". Als Formate der Zusammenarbeit mit China werden unterschiedliche integrative Zusammenschlüsse gesehen: die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), BRICS, eine "Verknüpfung" von EAWU und dem "Wirtschaftsgürtel Seidenstraße".

Die Bedeutung der geopolitischen Komponente in der russischen Wahrnehmung der BRI hat angesichts der Ereignisse in Russland 2014/15 – der "Krimkrise", des Einbrechens des Rubelkurses, der Einführung von Sanktionen gegen Russland – zugenommen. Wenn Pekings Integrationsinitiative vor jener Zeit noch ausschließlich durch das Prisma der Optionen betrachtet werden konnte, wie chinesisches Kapital zur Entwicklung der Infrastruktur zu akquirieren wäre, so wurde die Initiative nach der Angliederung der Krim unweigerlich als ein Instrument im Kontext der globalen Konfrontation mit dem Westen betrachtet. Vor diesem Hintergrund geschah, ideologischen Bedürfnissen folgend, eine Deformierung des Diskurses. Er wurde vom ursprünglichen chinesischen Narrativ losgelöst und wurde zur Artikulierung außenpolitischer Ideologeme eingesetzt, die für Moskau im Kontext seiner Selbstbehauptung als eines der Zentren der Weltordnung und der Wiedererlangung seines Status als "Großmacht" als wichtig erscheinen. Auch wenn es gerade geopolitische Motive waren, die meiner Ansicht nach bei der Entscheidung vom Mai 2015 für eine Beteiligung an der Initiative Pekings an erster Stelle standen, so sollte auch der Faktor Wirtschaft nicht außer Acht gelassen werden.

Schließlich hat sich die russische Haltung zur BRI unter Bedingungen herausgebildet, die für das Land wegen der zunehmenden Wirtschaftskrise nicht einfach waren. Nachdem Russland vor finanziellen Problemen stand und den Zugang zu westlichen Finanzierungsinstrumenten verloren hatte, musste es den Blick unweigerlich nach China richten, von dem sich im Laufe der Jahrzehnte stürmischen Wirtschaftswachstums das Bild eines reichen und großzügigen Nachbarn herausgebildet hatte. Das Vorgehen der chinesischen Seite (Einrichtung des Seidenstraßen-Fonds, die Entwicklung der "Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank" (AIIB), die Vielzahl von Erklärungen von Offiziellen unterschiedlichen Ranges) schienen dies zu bestätigen. Daraus ergaben sich Hoffnungen auf chinesische Investitionen, die den fehlenden Kapitalfluss aus Europa würden ausgleichen oder vollständig ersetzen können.

Russland erwartete Investitionen auf drei Ebenen: 1) bei der Schaffung einer neuen Transport- und Logistikinfrastruktur für eine Verbindung zwischen Europa und Asien, die über Russland führt; 2) chinesische Direktinvestitionen bei der Schaffung von Hightech-Unternehmen; 3) Beteiligung der chinesischen Seite (durch Investitionen, Kredite und Technologien) an der Umsetzung von Projekten im Zusammenhang mit neuen Entwicklungsinstrumenten für den Fernen Osten Russlands ("Freihafen Wladiwostok" und "Gebiete beschleunigter Entwicklung" – russ.: TOR).

Russland ist allerdings – anders als andere postsowjetische Staaten – nicht bereit, die Investitionen zu beliebigen Bedingungen zu empfangen. Russland ist daran interessiert, chinesische Akteure vor allem für Hightech-Produktionen zu gewinnen, zu niedrigen Zinssätzen, möglichst unter Ansiedlung von Technologien und Produktionen. Auch wenn China Russland wohl eher als Rohstoffquelle und Absatzmarkt für seine Erzeugnisse betrachtet, behaupten Angehörige der russischen Führung (wie auch viele Experten) weiterhin, Ziel der chinesischen Investitionen sei es, neue Standorte für verarbeitende Produktion zu schaffen, die "Rohstoffabhängigkeit" zu verringern und die Logistik-Infrastruktur des Fernen Ostens und des Nördlichen Seewegs (der Nordostpassage) auszubauen.

Als "Flaggschiff-Projekt" des "Wirtschaftsgürtels Seidenstraße" auf russischem Territorium gilt die Eisenbahnstrecke für Hochgeschwindigkeitszüge von Moskau nach Kasan mit der Option einer Verlängerung bis nach Jekaterinburg, Astana und Peking. Dies ist verständlicherweise nicht nur darin begründet, dass im Bereich Hochgeschwindigkeitszüge chinesische Technologien weltweit mit führend sind, sondern auch darin, dass die Eisenbahnverbindung sich gut in jenes Verständnis der Neuen Seidenstraße fügt, das in den Köpfen eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung besteht ("Seidenstraße" – russ.: "Scholkowyj put" – wird unweigerlich mit Verkehrswegen – russ.: "Puti soobschtschenija" –, u. a. mit Eisenbahnen assoziiert).

Die Hochgeschwindigkeitsstrecke Moskau–Kasan ist allerdings nicht zu jener aufsehenerregenden Erfolgsgeschichte geworden, die das sich hinziehende Vorspiel bei der russisch-chinesischen Investitionszusammenarbeit hätte von der Stelle bringen können. Bereits im Oktober 2014 war ein Memorandum über eine Zusammenarbeit beim Bau der Strecke Moskau–Kasan unterzeichnet worden. Mit Stand von Mitte 2019 befand sich die Strecke jedoch immer noch in der Projektierungsphase, wobei sich die russische und chinesische Seite nicht auf einen Kompromiss hinsichtlich der Finanzierungsbedingungen und einer Reihe technologischer Fragen einigen können.

Somit war der russische Diskurs zur BRI als Instrument der Wirtschaftsentwicklung mit recht abstrakten Hoffnungen auf Hilfe von außen verbunden, die sich angesichts des außenpolitischen und wirtschaftlichen Kontexts der Jahre 2014–2017 erheblich verstärkt hatten. Ihren Höhepunkt erreichten diese Hoffnungen mit den Vereinbarungen über eine "Verknüpfung" der EAWU mit dem "Wirtschaftsgürtel Seidenstraße" im Mai 2015. Gleichwohl war aus dem Diskurs zur BRI weder vorher noch danach die Vorstellung verschwunden, dass die Initiative eine potentielle Bedrohung für die Interessen Russlands darstelle.

Geopolitische und wirtschaftliche Herausforderungen

Welche Herausforderungen sind nun für Russland erkennbar? Wie auch bei den Möglichkeiten lassen sich diese in zwei Kategorien unterteilen, in wirtschaftliche und geopolitische.

So war für jene Experten, die den "Wirtschaftsgürtel Seidenstraße" als Verkehrs- und Infrastrukturprojekt betrachten, von Anfang an die Befürchtung kennzeichnend, dass "die Seidenstraße an Russland vorbeiführen" könnte, dass nämlich die transkontinentalen Verkehrskorridore durch die Nachbarstaaten verlaufen könnten, u. a. auf überaus exotischen Routen. Darüber hinaus gibt es Befürchtungen, dass zukünftige chinesische Investitionen zu Lasten einer möglichen Entwicklung Sibiriens und des Fernen Ostens vor allem auf dem Gebiet des europäischen Russland getätigt werden könnten, was zu einem Niedergang der Transsibirischen Eisenbahn und der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) führen würde.

Versteht man die BRI in einem weiteren Sinne und sieht in ihr vor allem Möglichkeiten für eine Investitionszusammenarbeit, so ist auch zu berücksichtigen, dass nicht alle chinesischen Investitionen als ein Segen wahrgenommen werden. So schätzen Experten aus Russland die Aussicht auf eine Gewährung "verknüpfter" Kredite, die von der chinesischen Seite losgelöst von einem etwaigen Nutzen für die russische Volkswirtschaft betrieben werden dürfte, kritisch ein.

In der Praxis fordert die chinesische Seite bei den Verhandlungen fast immer bestimmte "staatliche Garantien". Der Erhalt chinesischer Investitionen gegen derlei Garantien bedeutet, dass der Kreditgeber in dem Fall, dass ein Projekt sich kommerziell nicht lohnt und keinen Gewinn abwirft, die Zeche dennoch nicht wird bezahlen müssen. Hieraus ergibt sich angesichts des Umstands, dass die meisten Infrastrukturprojekte in Russland (aufgrund der niedrigen Bevölkerungszahlen und des geringen Marktvolumens) nicht rentabel sind, dass Russland praktisch mit seinem Geld die außenwirtschaftliche Expansion Chinas und eine Modernisierung der chinesischen Wirtschaft bezahlen würde.

Auch werden die Varianten chinesischer Investitionen, bei denen ein überwiegender Einsatz chinesischer Anlagen und Arbeitskräfte vorgesehen ist, als wenig wünschenswert oder gar absolut inakzeptabel betrachtet.

Die geopolitischen Herausforderungen liegen nach Ansicht von Experten darin begründet, dass die Umsetzung der chinesischen Initiative zu einer Verringerung von Russlands Einfluss in Zentralasien führen würde. Einige Experten in Russland verweisen darauf, dass China in dem Maße, wie es seine Investitionstätigkeit ausbaut, Russland auch aus einer weiteren für das Land strategisch wichtigen Region verdrängt, nämlich aus Osteuropa.

Insgesamt führt die Vorsicht, von der die Haltung Russlands gegenüber den Möglichkeiten und Risiken durch China geprägt ist, dazu, dass die Balance von pro et contra allenthalben ein Hinauszögern oder eine Sabotage zuvor getroffener Abmachungen bewirkt. Das gilt im Übrigen auch für die chinesische Seite. Ein Faktor hierbei sind die objektiv unterschiedlichen Interessen der beiden Länder.

So würde man in Russland gern großzügige Investitionen Chinas in den Hightech-Bereich bei maximaler Schaffung von Standorten und maximalem Einsatz lokaler Ressourcen sehen. China, dessen Interesse an der Verwirklichung der BRI darin begründet liegt, seine überschüssigen Produktionskapazitäten und Arbeitskräfte zum Einsatz zu bringen, möchte verständlicherweise das Gegenteil.

Vor diesem Hintergrund erwies es sich für die Führung Russlands als optimal, die Fassade einer "imitierten Integration" zu wahren, und zwar auf föderaler, wie auch auf regionaler Ebene. Dieser Ansatz bedeutet im Wesentlichen, dass die russische Führung es vorzieht, den Wunsch nach Zusammenarbeit und sogar Integration zu artikulieren, diese aber nicht zu forcieren. Grob gesagt, ist es so, dass man die richtigen Worte über wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit wählt, dabei jedoch stets Fallen wittert und sich abzusichern versucht. In einer Reihe von Fällen hat dieser Ansatz höchst effektive Ergebnisse ermöglicht. So wurde etwa die Entscheidung über eine "Verknüpfung" der EAWU mit dem "Wirtschaftsgürtel Seidenstraße" zu einem Symbol, dass Russland die Zeit seiner internationalen Isolation nach der Angliederung der Krim hinter sich lässt, auch unbeschadet des Umstandes, dass sie nicht zu nennenswerten Investitionen führte und im Großen und Ganzen nicht über das Deklarative hinausging.

Schlussfolgerungen

Der Kurs einer "imitierten Integration", den Moskau gegenüber der chinesischen "Belt and Road Initiative" eingeschlagen hat, ist recht erfolgreich gewesen. So gelang es Russland, höchst wichtige Aufgaben zu bewältigen, um der drohenden internationalen Isolation zu entgehen, ohne sich bei der Verwirklichung der Investitions- und Infrastrukturprojekte zu sehr von China einspannen zu lassen, wie das mit einer Reihe von Ländern geschieht, unter anderem im postsowjetischen Raum (etwa in Tadschikistan). Daher gibt es keinen Grund davon zu sprechen, dass Russland, wenn Peking die BRI verwirklicht, zu dessen Juniorpartner wird. Moskau verfolgt weiterhin eine souveräne Politik, indem es sowohl seine geopolitischen wie auch seine wirtschaftlichen Interessen wahrt.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Fussnoten

Ivan Zuenko ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Archäologie und die Ethnographie der Völker des Fernen Ostens der Außenstelle Ferner Osten der Russischen Akademie der Wissenschaften in Wladiwostok. Er ist Sinologe und hat sich auf die Politik Chinas in den Staaten des postsowjetischen Raumes spezialisiert. Seine Analysen sind zuletzt in den Zeitschriften "Russia in Global Affairs", "Rossija i ATR", "Asija i Afrika sewodnja", in den Zeitungen "Wedomosti" und "Kommersant" sowie auf der Internetseite des "Moskauer Carnegie-Zentrums" erschienen.