Bilder in den Köpfen
Eines der bisher noch wenig untersuchten Phänomene moderner Massenmedien ist die Neigung, sich immer stärker auf immer weniger Nachrichten zu konzentrieren. In der ersten Hälfte des Jahres 2015 schien es kaum noch ein anderes Thema zu geben als die Finanzkrise in Griechenland: In der Zeit vom 20. Mai bis zum 20. Juli fand sich in 78 Prozent aller Ausgaben der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eine Schlagzeile zu diesem Thema auf der Titelseite, in jeder zweiten Ausgabe war es sogar der Gegenstand der Hauptschlagzeile. Ab dem Sommer wurde dieses Thema dann von der Flüchtlingskrise abgelöst, die seitdem die Berichterstattung dominiert. Der Krieg in der Ukraine ist darüber weitgehend aus dem Fokus der Medien und damit auch aus dem der Bevölkerung verschwunden.
Doch es lohnt sich, die Ukraine-Krise nicht ganz aus den Augen zu verlieren, nicht nur wegen ihrer geopolitischen Bedeutung, sondern auch, weil sie, fast wie im Lehrbuch, die Mechanismen politischer Propaganda illustriert, die der amerikanische Journalist Walter Lippmann schon vor rund hundert Jahren entdeckte und im Jahr 1922 in seinem Buch "Öffentliche Meinung" (Orig.: "Public Opinion") beschrieb. Man kann dieses Buch mit Fug und Recht als ein Jahrhundertwerk bezeichnen. Als Kriegsberichterstatter im Ersten Weltkrieg und Berater des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson hatte Lippmann Zugang zu Informationen über den Kriegsverlauf, über die die Bevölkerung nicht verfügte, und stellte fest, wie sehr die Wirklichkeitswahrnehmung der Bürger von der Zeitungsberichterstattung verzerrt wurde.
Die Kriegsnachrichten wurden durch die Propaganda gefiltert und verfälscht und durch die Journalisten dann unvermeidlicherweise grob vereinfacht weitergegeben, was von den Zeitungslesern wiederum grob vereinfacht aufgenommen wurde. Die "Bilder in den Köpfen" der Leser, wie Lippmann es nannte, hatten schließlich nicht mehr viel mit der Wirklichkeit gemeinsam. Doch eben diese Bilder, nicht die tatsächlichen Ereignisse, bestimmten das Handeln der Menschen.
Internetforen und öffentliche Meinung
Lippmanns Buch ist so etwas wie das Gründungsdokument der modernen Kommunikationsforschung, und obwohl es vor mehr als 90 Jahren veröffentlicht wurde, ist es erstaunlich aktuell, denn auch heute kann man erleben, wie mit Hilfe staatlicher Propaganda versucht wird, Bilder in den Köpfen der Bürger zu erzeugen, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun haben: Wer die Berichterstattung der staatlich gelenkten russischen Medien über die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine verfolgt, dem wird eine ganz andere Geschichte präsentiert als dem Nutzer freier, unabhängiger Medien. Demnach habe sich in der Ukraine eine faschistische Regierung an die Macht geputscht, die Gräueltaten an der russischstämmigen Bevölkerung begangen habe, so dass Russland habe einzugreifen müssen, um diese Menschen zu schützen. Hinter dem "Putsch" stünden die Vereinigten Staaten und die NATO, die Russland einkreisen und letztlich vernichten wollten.
Betrachtet man die Kommentarspalten der Internetausgaben deutscher Massenmedien, kann man den Eindruck gewinnen, dass diese Geschichte auch von der deutschen Bevölkerung geglaubt wird. Jedenfalls sind dort nicht selten die Beiträge in der Überzahl, die die Erzählung von der Verschwörung des Westens gegen Russland in immer neuen phantasievollen Varianten durchdeklinieren. Doch wer glaubt, dass solche Kommentare das Meinungsbild der Bevölkerung korrekt widerspiegeln, irrt. Dies zeigen die Ergebnisse einer Repräsentativumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem vergangenen Jahr.
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine in der Allensbach-Umfrage
Ein Beispiel dafür sind die Antworten auf die Frage "Wer trägt Ihrer Meinung nach die Hauptschuld an dem Konflikt in der Ukraine: Die ukrainische Regierung, die Separatisten in der Ostukraine, Russland, die USA oder wer sonst?" Dabei konnten die Befragten auch mehrere Hauptschuldige benennen. 55 Prozent antworteten auf die Frage, ihrer Ansicht nach sei Russland ein Hauptschuldiger an dem Konflikt, an zweiter Stelle, genannt von 34 Prozent, folgten die Separatisten. Dagegen machten nur 20 Prozent die Ukraine für die Lage verantwortlich. Den Vereinigten Staaten gaben 17 Prozent die Schuld an dem Konflikt, der Europäischen Union 6 Prozent.
Die Mehrheit der Deutschen sieht Russland dabei nicht nur in der Rolle eines Schuldigen, sondern auch in der des aktiven Aggressors. In einer sogenannten Dialogfrage wurden zwei Meinungen über die russische Politik gegenübergestellt: Die Interviewer überreichten dazu ein Bildblatt, das zwei Personen im Schattenriss zeigte. Jeder Figur war, wie in einem Comic, eine Sprechblase zugeordnet. Die erste Person sagte: "Russland will mit seiner Politik meiner Meinung nach seinen Einfluss auf der Welt ausdehnen. Russland will vor allem seinen Machtbereich erweitern." Die Gegenposition dazu lautete: "Russland will im Grund nichts anderes, als die Position behalten, die es jetzt hat. Russland verteidigt nur seinen Einfluss in Osteuropa." 55 Prozent der Befragten entschieden sich für das erste, lediglich 30 Prozent für das zweite Argument. Die Geschichte, wonach Russland in der Ukraine lediglich seine legitimen Interessen verteidigt, hat für die Deutschen anscheinend wenig Glaubwürdigkeit.
Dies zeigt sich auch bei einer Frage, bei der verschiedene Aussagen vorgelegt wurden, die in der öffentlichen Diskussion über die Ukraine-Krise zu hören waren. Die Befragten wurden gebeten anzugeben, welchen der Aussagen sie zustimmen würden. Fast zwei Drittel, 64 Prozent, wählten daraufhin die Aussage "Russland unterstützt die Separatisten in der Ostukraine mit Ausrüstung und Waffen". An zweiter Stelle folgte der Punkt "Russland versucht, die Ostukraine zu erobern." Ebenfalls eine Mehrheit von 51 Prozent sagte, den Konflikt in der Ostukraine gebe es nur, weil der russische Präsident Putin es so wolle. Immerhin 42 Prozent vermuteten darüber hinaus, dass Russland künftig versuchen werde, auch in anderen postsowjetischen Ländern Gebiete zurückzuerobern.
Dagegen fanden die Kernaussagen der russischen Variante der Ereignisse nur die Zustimmung einer vergleichsweise kleinen Minderheit der Deutschen: 20 Prozent schlossen sich der These "Die jetzige ukrainische Regierung ist durch einen Putsch an die Macht gekommen" an, ebenfalls 20 Prozent glaubten, der Konflikt in der Ostukraine sei erst eskaliert, als die westlichen Länder sich eingemischt hätten. Dass Russland die Menschen in der Ostukraine vor der Unterdrückung durch die ukrainische Regierung beschützt, glaubten nur 7 Prozent.