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Analyse: Die strategische Kultur Russlands – Russland begreifen | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die strategische Kultur Russlands – Russland begreifen

Norbert Eitelhuber

/ 9 Minuten zu lesen

Das Bild Russlands wird derzeit fast ausschließlich durch die Annexion der Krim, die fortdauernde Krise in der Ostukraine und das militärische Engagement Russlands in Syrien geprägt. Vielfach wird die Gefahr eines Wiederaufflammens des Kalten Krieges gesehen. Es stellt sich die Frage, wie mit Russland reden, wie mit Russland umgehen?

Der russische Präsident Vladimir Putin bei einer Ansprache im Kreml, Moskau. (© picture-alliance)

Das Konzept der strategischen Kultur

Im heutigen Kulturverständnis der Konstruktivisten wird strategische Kultur verstanden als ein sich entwickelndes System gemeinsamer Einschätzungen, das Kommunikation, Wahrnehmungen und Handlungen einer Gruppe beeinflusst und über das auch Motive von Handlungen erkannt werden können.

Um ein besseres Verständnis der russischen strategischen Kultur zu gewinnen, wurden in der Studie "Russland im 21. Jahrhundert. Reif für eine multipolare Welt?" (siehe Lesetipp) folgende Parameter untersucht, die auf die außen- und sicherheitspolitische Politikausrichtung (Ideal- oder Realpolitik) eines Landes Einfluss haben: (1) Ausprägungsgrad autoritärer Herrschaftsformen, (2) Streben nach Sicherheit, (3) die Bereitschaft, Gewalt als Mittel einzusetzen, (4) Streben nach Anerkennung, (5) Streben nach Zugehörigkeit, (6) Großmachtstreben, (7) der Wert, der dem Individuum beigemessen wird. Dabei beschreiben Streben nach Sicherheit, Streben nach Anerkennung und Großmachtstreben die Zielebene der Politik. Der Ausprägungsgrad autoritärer Herrschaftsformen und die Bereitschaft, Gewalt als Mittel einzusetzen, spiegeln die Mittelebene wider, mit der diese Politik umgesetzt werden soll. Streben nach Zugehörigkeit und der Wert, der dem Individuum beigemessen wird, sind weitere die Politik begünstigende/hemmende Faktoren.

Diese strategischen Präferenzen (gemeinsame Annahmen und Entscheidungsregeln) der russischen Kultur kristallisierten sich aus einer Vielzahl geografischer und geopolitischer Faktoren sowie historischer und religiöser Entwicklungen heraus. Träger der strategischen Kultur ist vor allem eine kleine politische und/oder auch wirtschaftliche, administrative sowie militärische Elite, die die Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt.

Die Berücksichtigung der strategischen Kultur bei der Erklärung russischen außen- und sicherheitspolitischen Verhaltens bedeutet nicht, dass Interessen als Bestimmungsgröße negiert werden. Doch oftmals sind auch Interessen nur eine Funktion der strategischen Kultur, da sich bereits bei ihrer Definition und Gewichtung die strategische Kultur ausgewirkt hat.

Das Verständnis der strategischen Kultur Russlands ist essentiell, um:

  • anhaltende Faktoren, die das außen- und sicherheitspolitische Verhalten Russlands beeinflussen, zu identifizieren,

  • mögliche Verhaltensweisen Russlands zu antizipieren,

  • die Kommunikation von Anliegen des Westens zu verbessern, indem deren Perzeption durch die russischen Eliten mit einbezogen werden kann, und

  • strategische Orientierung bezüglich der Frage "Containment" oder "Kooperation" zu bieten.

Russlands strategische Kultur heute

Die strategische Kultur des Landes blieb über die Epochen hinweg bis in die heutige Zeit weitgehend stabil. Schwankungen waren vor allem bei der Präferenz für die Abschottung Russlands von der Außenwelt zu erkennen.

Brüche in der strategischen Kultur waren sowohl bei der Auflösung des Zarenreiches als auch beim Zerfall der Sowjetunion erwartbar. In beiden Fällen hatte das bestehende System keine Antworten auf elementare gesellschaftliche Fragen. Eine nur graduelle Veränderung der strategischen Kultur war aufgrund der ausgeprägten Diskrepanz zwischen Ist-Zustand und wünschenswertem Zustand nicht mehr möglich. Der mit der Entstehungsgeschichte der Sowjetunion verbundene traumatische Schock führte aber nicht zu einem dauerhaften Wandel der strategischen Kultur, sondern zu einer weiteren Vertiefung des ohnehin stark ausgeprägten Strebens nach Sicherheit.

Erst der Zerfall des sowjetischen Imperiums und die Delegitimierung der staatsbegründenden Ideologie stellten einen ähnlich starken, die strategische Kultur verändernden Schock dar. Möglich wurde dies, weil durch die Eliten erstmals den Bedürfnissen der Bevölkerung ernsthaft Beachtung geschenkt wurde. Selbstverständlich geht ein so gravierender Wandel der strategischen Kultur nicht mit einem hierzu durchgängig konsistenten Verhalten der außen- und sicherheitspolitischen Eliten einher. In konkreten Situationen werden immer wieder alte Muster zum Vorschein kommen. Diese werden bei westlichen Beobachtern die Sorge vor einer Rückkehr des imperialen Russlands nähren. Hinzu kommt, dass der Blick meist nur auf Moskau und Sankt Petersburg fällt. Doch diese Städte sind nicht repräsentativ für das Land. Aus Sicht der strategischen Kultur stellen die gesellschaftlichen Strömungen dieser Städte nur eine Subkultur dar – eine Subkultur, der die Elite einen (mit)bestimmenden Einfluss verwehrt.

Die veränderten Präferenzen der strategischen Kultur bedeuten auch, dass der Ausgleich mit dem Westen vom Kreml als strategische Aufgabe gesehen wird. Nur so können innere und äußere Stabilität gleichzeitig gewährleistet werden. Diese Bewertung bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass Russland bereit ist, jeden Preis dafür zu zahlen. Wenn das Land seine äußere Sicherheit nicht mehr gewährleistet sieht oder konträr zu den Ausprägungen anderer Parameter der strategischen Kultur handeln müsste, wird es vermutlich zu alten Mustern zurückkehren. Politiken, die konträr zu den Präferenzen der strategischen Kultur sind und sich somit unmittelbar auch gegen die bestimmenden Träger der strategischen Kultur – vor allem die Eliten – richten, führen nahezu unweigerlich zu andauernden Friktionen. Erschwerend kommt bei der Gestaltung der Russlandpolitik hinzu, dass sich Russland immer noch in einer schwelenden Identitätskrise befindet.

Russlands Präferenz für einen starken Staat und eine autoritäre Führung blieb durch die Ereignisse Anfang der 1990er Jahre weitgehend unverändert. Um die damalige Umbruchsituation in den Griff zu bekommen, gab die strategische Kultur als geeignete Lösung einen nach innen starken Staat vor. Aber selbst ein starker Präsident wie Wladimir Putin benötigt politische Zustimmung zu seinen Entscheidungen und Verhandlungsergebnissen. Er tut also gut daran, sein Regierungshandeln an der strategischen Kultur seines Landes auszurichten. Um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten, greift er zunehmend auf identitätsstiftende Bilder – und damit Normen und Werte – aus der Geschichte zurück. Die Bedeutung der strategischen Kultur wird deshalb für die Entwicklung der Gesellschaft, aber auch die Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik noch weiter steigen.

Die strategische Kultur bewirkt, dass es nicht damit getan ist, nach westlichem Vorbild Interessengruppen, politische Parteien und Medien aufzubauen sowie Rechtsnormen zu setzen. Solange deren innere Wirkprinzipien und Normen nicht mit den Präferenzen der strategischen Kultur im Einklang stehen, werden sich in Russland Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit unterscheiden.



Deutlich ist das russische Streben, eine Großmacht sein zu wollen. Es beinhaltet das Streben nach einer internationalen Ordnung, in der die USA und Russland einen prominenten Platz haben und in der Russland sich nicht gegen (als solche wahrgenommene) von außen geförderten Unruhen und Revolutionen im eigenen Land wehren muss. Für die Beantwortung der Frage "Wie gehen wir mit Russland um?" ist es von zentraler Bedeutung zu wissen, welche Motivation sich hinter Russlands Großmachtstreben verbirgt (siehe Grafik). So gehen beispielsweise mit dem heutigen russischen Großmachtstreben Verhaltensweisen einher, die einer klassischen Definition von Imperialismus entsprechen, die aber nicht aus einem imperialen Streben heraus motiviert sind. Vielmehr sind diese Verhaltensweisen durch andere Faktoren wie beispielweise das Bemühen, eine eigene Identität zu formen und zu bestärken oder das Streben nach Achtung und/oder Sicherheit begründet. Einer Containment-Politik des Westens, die sich einzig gegen die imperialen Symptome russischen Großmachtstrebens wendet, wird folglich kaum Erfolg beschieden sein. Vielmehr muss den anderen Motivatoren vermehrt Augenmerk geschenkt werden.

In Russland findet sich eine Mischung aus fortbestehenden und neuen Elementen der strategischen Kultur. Die strategische Kultur befindet sich in einer Evolution, die dynamischer ist als in Phasen kontinuierlicher politischer Entwicklungen. Wird in einer solchen Phase mit Druck interveniert, wird dies durch die Brille der russischen strategischen Kultur als alte, fortdauernde existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Damit wird der stattfindende Wandel der strategischen Kultur blockiert und auf alte Muster zurückgeworfen. Für Russland war das Gefühl, bedroht zu sein, stets ein leitendes Handlungsmotiv, auch wenn mancher Nachbarstaat genau die entgegengesetzte Wahrnehmung hat.

Probleme im gemeinsamen Umgang

Moskau hatte den Westen wieder und wieder vor einer Einmischung in seine Kerninteressensphäre gewarnt. Dabei wurden von Mal zu Mal die Töne deutlicher. Doch der Westen schlug diese Warnungen in den Wind. Die Demokratieförderung in der Ukraine war aus Sicht Moskaus eine weitere ebensolche unerwünschte Einmischung. Die junge Bevölkerung eines russischen Brudervolkes sollte sich nach Westen orientieren und von Moskau abgespalten werden. Vor dem Hintergrund der strategischen Kultur des Landes stellte dies einen casus belli dar. In dieser innerrussisch als Krisenlage empfundenen Situation, die als eine der letzten Nachwehen des Zerfalls der Sowjetunion bezeichnet werden kann, war Moskaus heftige Reaktion erwartbar. Sie ist kein Beleg für ein anti-westliches, imperiales Russland. Klassisch-westliches, rationales Kosten-Nutzen-Denken kann in der Ukrainefrage von russischer Seite nicht erwartet werden. Moskau war sich bereits zu Beginn der Krise im Klaren, dass es gegebenenfalls einen sehr hohen Preis zu zahlen haben würde – und handelte, geleitet durch seine strategische Kultur, dennoch auf die bekannte Weise.

Deutschland und die anderen Staaten des politischen Westens sollten sich bewusst sein, dass sie kein Interesse an einem instabilen Russland haben können – die Risiken der Instabilität in einem Raum von der Größe der Russischen Föderation würden die Fähigkeiten des westlichen Krisenmanagements hoffnungslos überfordern. Selbst ein Sturz Putins birgt eher die Gefahr einer Machtergreifung radikalerer Elemente, als die Chance eines demokratischen Wandels. Selbstverständlich wird die Politik in dessen Machtkreis gemacht, aber sie ist in weiten Teilen auf die von Eliten und Bevölkerung geteilten Präferenzen zurückzuführen. Kritiker mögen einwenden, die Haltung der Bevölkerung sei einzig durch die von Putins Getreuen gelenkten Medien beeinflusst. Diese Sichtweise greift zu kurz. Denn das in den Medien verbreitete Weltbild bedient vorwiegend die in der strategischen Kultur verankerten Präferenzen – ein Prozess, der letztlich auch der Legitimation der Eliten dient. Die Medien aber verändern nicht die strategische Kultur.

Ein weiteres Hindernis einer gedeihlichen Kooperation sind die im politischen Westen immer noch weit verbreiteten Stereotypen, die die Russische Föderation mit der untergegangenen Sowjetunion gleichsetzen. Auch die Bereitschaft, sich auf kooperative Politikansätze einzulassen, erscheint stark durch die unterschiedlichen strategischen Kulturen der jeweiligen westlichen Staaten geprägt zu sein. Während in Deutschland die Überzeugung vorherrscht, die Ostpolitik habe zum Wandel in Europa geführt, sind US-amerikanische Eliten mehrheitlich der Meinung, das Wiederaufleben der Rollback-Politik unter Reagan habe den Ausschlag gegeben. Hinzu kommt, dass mit den USA und Russland zwei Nationen, die beide aus eigener Sicht vorrangig ihre Sicherheit gewährleisten wollen, also defensiv motiviert sind, offensiv aufeinander stoßen. Will der Westen gegenüber Russland eine einheitliche Politik vertreten, muss er offensichtlich zunächst einmal eine gemeinsame Sicht auf Russland entwickeln. Alle anderen Politikansätze führen zu einer verstörenden Kakophonie der Signale gegenüber Moskau.

Eine Definition Europas, die Geografie und gemeinsame Geschichte außen vor lässt und sich ausschließlich an Begriffen wie Demokratie, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft orientiert, grenzt aus. Dabei beinhaltet die heutige Akzeptanz von Multipolarität die Anerkennung der Unterschiedlichkeit "des Anderen".

Erfordernisse im Umgang

Anders als zu Zeiten, als George Kennan seinen weltberühmten Aufsatz "The Source of Soviet Conduct" schrieb, verfolgt Russland keine Ideologie mehr. Die Wünsche und Sehnsüchte der Bevölkerung nehmen eine weit höhere Priorität ein. Die russische Bevölkerung ist auch nicht grundsätzlich anti-westlich eingestellt. Faire, kooperative Beziehungen zu beiderseitigem Nutzen werden von ihr begrüßt. Aus diesem Grund können es sich die Eliten auch nicht mehr erlauben, für Russland das Konzept eines Staates unter Belagerung dauerhaft aufrecht zu erhalten. Anders als Kennan, der aus seiner damaligen Analyse ableitete, Containment sei die angemessenste Politik gegenüber Russland, kommt eine Analyse der strategischen Kultur Russlands zu dem Ergebnis, dass "kooperative Sicherheit" die Grundlage einer jeden Grand Strategy gegenüber Russland sein muss – auch nach der Annexion der Krim. Sanktionen sind unter diesen Rahmenbedingungen eine wenn auch unvermeidliche Reaktion, aber keine Strategie.

Ein Russland, dem die Rolle eines eigenständigen Pols in einer multipolaren Welt verwehrt bleibt, wird ein Quell von Friktionen und Instabilität bleiben. Russland, wie auch andere Mächte mit Gestaltungswillen, fordert globale Mitsprache ein. Sicherheit vor Russland mag im Lichte der Ereignisse naheliegend und verlockend erscheinen, ist aber eine Garantie, den Konflikt auf unbestimmte Zeit zu perpetuieren. Dieser führt zu einer dauerhaften Abkehr vom Ziel einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Den Ausschlag geben kann ein Europa, das aus wohlverstandenem Eigeninteresse behutsam auf Russland zugeht.

Dies setzt die Bildung von Vertrauen, Vertrauen und nochmals Vertrauen voraus – ein Prozess, der insbesondere nach den Ereignissen in der Ukraine einen langen Atem erfordert. Mit erneut wachsendem Vertrauen werden zunehmend "Erfolgserlebnisse" zu verzeichnen sein. Im Falle eines Dissenses sollte Kritik an Russland gesichtswahrend vorgebracht werden. Es ist das gute Recht eines souveränen Staates, eine andere Position als die des politischen Westens zu vertreten. Geopolitischem Denken der USA müssen die Europäer im eigenen Interesse entgegentreten. Sollte Russlands Großmachtstreben künftig wieder primär durch ein Streben nach Sicherheit motiviert sein, bedeutete dies eine Verfestigung der Systemgegensätze. Aus dem Blickwinkel der strategischen Kultur betrachtet, ist nämlich Russland gegenwärtig erst dabei zu lernen, mit seiner neuen Rolle auf der internationalen Bühne und mit seinen neuen Nachbarn umzugehen. Es muss erlernen, dass Sicherheit weniger durch eine hegemoniale Position als vielmehr durch Kooperation mit der Umwelt erreicht wird.

Russlands Ansatz, seine Wohlfahrt zu fördern, wird sich im Wettbewerb mit anderen Modellen, zum Beispiel der Idee der liberalen Demokratie, beweisen müssen. Wenn der Westen davon überzeugt ist, dass er die bessere Idee, das bessere Wirtschaftssystem hat, dann ist die Zeit auf seiner Seite, dann werden sich seine Ideale von alleine ihren Weg bahnen.

Lesetipps

  • Eitelhuber, Norbert: Russland im 21. Jahrhundert. Reif für eine multipolare Welt? – Eine Analyse der strategischen Kultur Russlands, [= Bd. 3 der Reihe: Sicherheit in der multipolaren Welt], Peter Lang Verlag: Frankfurt am Main, Berlin, New York, Oxford, u. a., 2015.

Fussnoten

Dr. Norbert Eitelhuber war als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin tätig. Anschließend arbeitete er sowohl im Bundesministerium der Verteidigung als auch im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als Referent im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik. In den folgenden Jahren war er als Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg tätig.