In Russland wird zurzeit eine leidenschaftliche Kontroverse über das Verhältnis des Landes zum Westen wie auch zu seiner eigenen Vergangenheit geführt. Die Parallelen zum alten Streit zwischen Westlern und Slawophilen sind unverkennbar. Nach dem Scheitern der bolschewistischen Utopie suchen viele russische Intellektuelle Anregungen, ja das Heil im Vergangenen. So kann die Analyse der alten Vorstellungen über den geschichtlichen "Sonderweg" Russlands vielleicht einiges zur Klärung der heutigen Problematik beitragen.
Der Streit um die nationale Identität wird in Russland seit Generationen und in der Regel emotionaler als in den anderen europäischen Ländern geführt. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Russland zu Beginn des 18. Jahrhunderts als erstes nichtabendländisches und souveränes Land den Weg der Westernisierung, der Anlehnung an westliche Strukturen und Denkmodelle, beschritten hatte. Die Selbstgenügsamkeit und die Selbstzufriedenheit der altrussischen Gesellschaft gingen damals jäh zu Ende. Für die überwältigende Mehrheit der Russen und Russinnen brach ihre Welt zusammen. Moskau stellte von nun an nicht mehr den Hort des reinen Glaubens, eine Art Abbild des Himmelreichs auf Erden (russ. gosudarstvo pravdy), sondern ein unterentwickeltes Territorium dar, das erst zivilisiert werden musste.
Westernisierung unter Peter dem Großen (1672-1725) als Zäsur
Keine andere Revolution in der Geschichte des Landes, nicht einmal die bolschewistische, erschütterte wohl die bestehende Wertehierarchie so stark wie die Petrinische. Die russischen Herrscher maßen nun das Reich im Wesentlichen mit den abendländischen Kriterien der Effizienz. Das Land begab sich auf eine Aufholjagd, um den Rückstand gegenüber dem wirtschaftlich und technologisch davoneilenden Westen zu beseitigen. Von einem ausgesprochenen Sendungsbewusstsein konnte angesichts dieser Sachverhalte keine Rede mehr sein. Im 18. Jahrhundert wurden russische Herrscher, vor allem Peter der Große und Katharina II., zu Lieblingen der westlichen Aufklärer. Ihr Unternehmen – ein aus der Sicht des Westens halb-barbarisches Land der europäischen Kultur anzupassen – wurde allgemein bewundert.
Russland nach dem Sieg über Napoleon – Untypisch für Welteroberer
Erst nach dem Sieg des Zarenreiches über Napoleon sollte sich diese Stimmung schlagartig ändern. Während der napoleonischen Kriege noch als Befreier Europas von einem Tyrannen gefeiert, wurde Russland kurz danach als Anwärter auf die Nachfolge des geschlagenen Napoleons angesehen. In der westlichen Öffentlichkeit galt es jetzt beinahe als Axiom, dass Russland, ähnlich wie Napoleon, die Errichtung einer Universalmonarchie anstrebe.
Pjotr Tschaadajews "Philosophischer Brief" von 1836
Aber nicht nur im Westen, sondern auch in den Augen mancher Vertreter der russischen Bildungsschicht galt das Zarenreich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts als Gefahr für die europäische Zivilisation. Sie identifizierten sich mit den damals im Westen herrschenden anti-russischen Ressentiments. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür stellt der 1836 erschienene "Philosophische Brief" des russischen Denkers Pjotr Tschaadajews (1794-1856) dar, der einen völlig neuen Abschnitt in der russischen Ideengeschichte einleitete. Die eigentliche geistige und kulturelle Entwicklung fand für Tschaadajew in den letzten tausend Jahren lediglich im Westen statt. Russland habe sich an diesem großartigen geschichtlichen Schauspiel nicht als Akteur, sondern lediglich als passiver Zuschauer beteiligt:
"Einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee zur Gesamtheit der menschlichen Ideen beigetragen; wir haben nichts zum Fortschritt des menschlichen Geistes beigesteuert, und alles, was von diesem Fortschritt zu uns kam, haben wir entstellt."
Generationenlang bemühten sich sowohl die europäisierte russische Oberschicht als auch die Herrscher des Landes um den Ruf Russlands als einer europäischen Macht. Nun wurde aber dieser Anspruch sowohl vom Westen als auch von den radikalen russischen Kritikern der russischen Eigenart, den "Westlern", massiv in Frage gestellt. Tschaadajew lässt sich als einer ihrer ersten Vertreter bezeichnen. Sein Frontalangriff auf die russische Eigenart trug zweifellos dazu bei, dass viele russische Denker begannen, sich auf die eigenen Traditionen neu zu besinnen. Emotionsgeladene, nicht selten ungerechte Kritik an diesen Traditionen hatte eine genauso emotionale, oft unkritische Apologie zur Folge. Typisch hierfür waren die Gedankengänge der slawophilen Gegenpartei, die sich im Zuge der Polemik um die Thesen Tschaadajews und seiner Gesinnungsgenossen entwickelte.
Die slawophile Rückbesinnung auf das vorpetrinische Russland
Im Gegensatz zu Tschaadajew betrachteten die Slawophilen die Besonderheit der russischen Entwicklung, die sie von der des Westens unterschied, keineswegs als eine Abweichung vom Gesunden und Normalen. Im Gegenteil, diese Eigenart sei ein kostbares Gut, das den eigentlichen Wert der russischen Geschichte ausmache. Und in der Tat übersah Tschaadajew, ähnlich wie andere Westler, die Originalität der vorpetrinischen Kultur, weil er der Orthodoxie, die den Mittelpunkt dieser Kultur bildete, keine besondere Bedeutung beimaß.
Die petrinischen Reformen, die die abendländischen Prinzipien auf Russland übertrugen, wurden von den Slawophilen als nationale Katastrophe angesehen. Sie sehnten sich nach der sozialen und geistigen Harmonie, die ihrer Meinung nach im vorpetrinischen Russland verwirklicht worden sei.
Slawophiles Harmonieideal als Bestandteil der politischen Doktrin Moskaus
Diese Verklärung des alten Russland wurde von den russischen Westlern leidenschaftlich bekämpft. Mit wissenschaftlicher Akribie wiesen sie nach, wie sehr sich die damalige russische Wirklichkeit von dem von den Slawophilen entworfenen Bild unterschied.
Unterschiede zwischen Ost und West begannen sich zu verwischen
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen die Westler den Konflikt mit den Slawophilen endgültig zu ihren Gunsten entschieden zu haben. Der Dichter Aleksander Blok (1880-1921) schrieb 1908 von einem
"barbarischen Streit zwischen Westlern und Slawophilen – einem ausschließlich russischen Streit, der für den Europäer unverständlich und uninteressant ist".
Als Blok diese Worte schrieb, mutete diese Kontroverse, die seit den 1830er-Jahren den roten Faden der russischen Ideengeschichte dargestellt hatte, in der Tat antiquiert an. Russland erlebte damals einen Modernisierungsschub, der seine Strukturen immer stärker an diejenigen des Westens anglich. Das autokratische System verwandelte sich nach der Revolution von 1905 in eine, wenn auch beschränkte, konstitutionelle Monarchie. Einen ähnlichen "Modernisierungsprozess" erlebte auch die intellektuelle Elite des Landes. Sie wurde damals in gleichem Maße wie die westliche Bildungsschicht von der "Fin de Siècle"-Stimmung (1890-1914) erfasst; die russische Avantgarde stellte damals einen der wichtigsten Bestandteile der künstlerischen Moderne dar. Die Unterschiede zwischen Ost und West begannen sich zu verwischen.
Die Revolution von 1917 – ein innerwestlicher Streit auf russischem Boden
Die Revolution von 1917 und der durch sie ausgelöste Bürgerkrieg führten zunächst nicht zu einer Wiederbelebung der alten Kontroverse zwischen Kritikern und Apologeten des Westens. Die Fronten verliefen damals ganz anders. Weder die "Roten" noch die "Weißen" ließen sich in der Regel als Gegner der westlichen Kultur als solcher bezeichnen. Beide Bürgerkriegsparteien wurden von westlichen Ideen inspiriert – vom Marxismus im einen und vom Nationalismus im anderen Fall. Dies war im Grunde ein innerwestlicher Streit auf russischem Boden.
Erst die 1921 im russischen Exil entstandene Eurasierbewegung sollte mit ihrer schrillen Kampfansage an die westliche Kultur in ihrer Gesamtheit neue Akzente im innerrussischen Disput setzen. Die Eurasier waren ähnlich wie zahlreiche westliche Autoren der Meinung, dass Russland nur versehentlich der europäischen Staatengemeinschaft angehört habe. In Wirklichkeit habe es in Europa nichts zu suchen. Es müsse sich dem Osten zuwenden und das Fenster nach Europa, das Peter der Große geöffnet hatte, schließen. Ihr erster Sammelband trug den programmatischen Titel "Der Auszug nach Osten".
Die Kampfansage an den Westen
Diejenigen Beobachter, die die Eurasier als Fortsetzer der slawophilen und panslawistischen Strömungen betrachten, unterschätzen die Radikalität der eurasischen Kampfansage an den Westen. Ihren angeblichen slawophilen Vorgängern warfen die Gründer der Bewegung – der Sprachwissenschaftler Nikolaj Trubezkoj (1890-1938) und der Geograph Pjotr Sawizkij (1895-1968) – vor, diese hätten die Tatsache, dass Russland nicht nur in Europa, sondern auch in Asien liege, vernachlässigt.
Die Worte des slawophilen Denkers Aleksej Chomjakows (1804-1860) oder Fjodor Dostoewskijs (1821-1881) über die anbetungswürdigen Schätze der westlichen Kultur, über die "heiligen Steine" des Westens, wären bei den Eurasiern undenkbar gewesen. So bleibt die Suche nach den direkten Vorläufern der Eurasier in der russischen Ideengeschichte ergebnislos. Ihre Ideen entsprachen durchaus dem revolutionären Charakter der Periode, in der sie agierten. Dazu zählte z.B. ihre These, dass Russland und die von Europäern unterworfenen Kolonialvölker eine Solidargemeinschaft bildeten. Die Zukunft Russlands liege nicht in seiner Wiederherstellung als europäische Großmacht, sondern darin, dass es zum Führer einer weltweiten Auflehnung gegen Europa werden könne, so Trubezkoj in seiner 1920 erschienenen Schrift "Europa und die Menschheit".
Hier sind verblüffende Parallelen zur Argumentation der Bolschewiki sichtbar, die ebenfalls Russland zum Zentrum der Auflehnung gegen die europäische Hegemonie machen wollten. Indes bestand zwischen den beiden Programmen ein grundlegender Unterschied. Im Gegensatz zu den Eurasiern glaubten die Bolschewiki keineswegs an den Eigenwert der nichteuropäischen Kulturen. Ähnlich wie die Mehrheit der von den Eurasiern so scharf kritisierten Westeuropäer glaubten auch die Bolschewiki daran, dass die westliche Kultur einen universalen Charakter habe.
Scharfe Kritik russischer Intellektueller an den Eurasiern
Die Kampfansage der Eurasier an den Westen rief in der russischen Öffentlichkeit höchst unterschiedliche Reaktionen hervor. Von vielen Vertretern der intellektuellen Elite des Landes, die den Streit zwischen Westlern und Slawophilen für längst überwunden hielten, wurden die Eurasier mit äußerster Schärfe kritisiert. Das Europäische und das Asiatische seien zwei Bestandteile des Wesens Russlands, schrieb 1924 der Philosoph Fjodor Stepun (1884-1965): Auf keine dieser Komponenten könne Russland verzichten, vor keiner könne es fliehen.
Nikolaj Berdjajew (1874-1948) wandte sich seinerseits scharf gegen das manichäische Weltbild der Eurasier. Es sei wenig wahrscheinlich, dass irgendeine Kultur, z.B. die westliche, ein ausschließlicher Träger des Bösen sein könne, wie die Eurasier dies meinten, so Berdjajew. Das Christentum lasse eine solche geographische Einteilung von Gut und Böse nicht zu.
Teile der russischen Emigration sympathisieren mit der eurasischen Idee
Dennoch rief der radikale Antiokzidentalismus der Eurasier in der russischen Emigration nicht nur negative Reaktionen hervor. Ihre Kampfansage an die abendländische Kultur verkündeten die Eurasier unmittelbar nach der vernichtenden Niederlage der Gegner der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg. Diese Niederlage führten viele Emigranten auf die mangelnde Unterstützung und inkonsequente Haltung der Westmächte zurück. Dazu kamen noch die drückende Not des Emigrantendaseins und Anpassungsschwierigkeiten in der fremden, nicht immer wohlgesonnenen Umgebung. All das trug zur Verstärkung antiwestlicher Ressentiments im antibolschewistischen Emigrantenlager bei.
Die Eurasier träumten davon, die kommunistische Partei zu beerben. Die Lage in der Sowjetunion sei zwar besorgniserregend, aber nicht aussichtslos, schrieb Nikolaj Trubezkoj ausgerechnet im Jahre 1937, also in dem Jahr, in dem der stalinistische Terror in der Sowjetunion seinen Höhepunkt erreichte: "Den Ausweg stellt die Ablösung des Marxismus durch eine andere herrschende Idee dar" und es bestand für Trubezkoj kein Zweifel daran, dass diese andere Idee nur die "eurasische" sein könne.
Ein Jahr später starb Trubezkoj, und sein Tod symbolisierte das Ende des "klassischen" Eurasiertums. Es verließ, wie es damals schien, endgültig die politische Bühne. Trotz ihres ausgesprochenen Sendungsbewusstseins vermochten also die Eurasier keine wirksame Alternative zur kommunistischen Ideologie zu entwickeln.
Renaissance unter Alexander Dugin und der Ėlementy-Gruppe
Die Lehre der Eurasier schien ein skurriles und endgültig abgeschlossenes Kapitel der Ideengeschichte des russischen Exils zu sein. Indes herrschen in der Welt der Ideen eigentümliche Gesetze, die immer wieder Überraschungen bereithalten. Die Ende der 1930er Jahre scheinbar endgültig in der Versenkung verschwundenen eurasischen Ideen sollten fünfzig Jahre später eine völlig unerwartete Renaissance erleben. Bereits in der Endphase der Gorbatschew‘schen Perestroika, als die Erosion der kommunistischen Ideologie immer offensichtlicher wurde, begaben sich viele Verfechter der imperialen russischen Idee auf die Suche nach einer neuen einigenden Klammer für alle Völker und Religionsgemeinschaften des Sowjetreiches, und entdeckten dabei den eurasischen Gedanken. Mit besonderer Vehemenz tat dies die von Alexander Dugin, gegründete Zeitschrift "Ėlementy" (1992-1998), die sich in ihrem Untertitel sogar als "eurasische Umschau" bezeichnete.
Das ideologische Credo der Ėlementy-Gruppe wies durchaus Übereinstimmungen mit dem Programm der Eurasier auf. Bei beiden Gruppierungen handelt es sich um leidenschaftliche Verfechter des kulturellen Partikularismus und um radikale Gegner universaler Ideen. Die Eurasier hielten den Universalismus für eine Erfindung der Westeuropäer - der "romanisch-germanischen" Völker -, die ihren eigenen Wertvorstellungen und zivilisatorischen Normen einen allgemeingültigen, alle Völker der Welt verpflichtenden Charakter verleihen wollten.
Neuer Feind: westliche bzw. "atlantische" Verfechter des "Mondialismus"
Während die Eurasier den Westen insgesamt, genauer gesagt die "romanisch-germanischen" Völker, als den Feind der gesamten nicht-abendländischen Menschheit betrachteten, reduziert sich das Feindbild der "Ėlementy" nur auf die angelsächsischen Seemächte, auf die sog. "Thalassokratien", deren Interessen denen der Kontinentalmächte angeblich diametral widersprächen. Die Thalassokratien seien für die Abschaffung von Grenzen, für eine Vereinheitlichung von Kulturen, für eine "Melting Pot Gesellschaft". All dies werde von den westlichen bzw. "atlantischen" Verfechtern des "Mondialismus" als Fortschritt apostrophiert.
Die Kontinentalmächte hingegen seien traditionalistisch gesinnt, im Boden verankert. Die kulturelle Eigenart einzelner Völker stelle für sie ein kostbares Gut dar und keineswegs einen störenden Faktor, der dem sogenannten Fortschritt im Wege stehe. Diesen Gegensatz hielten die "Ėlementy" für unüberbrückbar. Die Zeitschrift empfahl allen Gegnern der "Mondialisten" bzw. der angelsächsischen Seemächte, ihre internen Rivalitäten zu beenden und sich auf die Errichtung einer großen kontinentalen Allianz zu konzentrieren – nur auf diese Weise könnten sie im bevorstehenden Endkampf Siegeschancen haben. Diese Allianz sollte alle früheren, aktuellen und potentiellen Gegner der angelsächsischen Demokratien umfassen – Deutschland und Japan, Russland und China, Indien und die islamischen Staaten und schließlich auch das von den Vereinigten Staaten "unterjochte" Westeuropa.
Nicht "Auszug nach Osten!" sondern "Rechtsradikale aus Ost &West vereinigt euch!"
Diese Strategie ist derjenigen der "klassischen" Eurasier geradezu entgegengesetzt. Für die Eurasier lag die Zukunft Russlands nur im Osten, nur im Osten suchten sie nach Verbündeten, die sich an einer gemeinsamen Auflehnung gegen die kulturelle Hegemonie des Westens beteiligen sollten. Bei den "Ėlementy" hingegen spielte die östliche Komponente eher eine untergeordnete Rolle. Ihre wichtigsten Bundes- und Gesinnungsgenossen befanden sich nicht im Osten, sondern im Westen. Dies waren in erster Linie westliche Rechtsextremisten. Vertreter der französischen, der belgischen, der deutschen und der italienischen Rechten meldeten sich in der Zeitschrift unaufhörlich zu Wort, und einige gehörten sogar zu ihren offiziellen Mitherausgebern. So handelten die "Ėlementy" eher nach dem Motto "Rechtsradikale aller Länder – aus Ost und West – vereinigt euch!", statt nach der eurasischen Devise: "Auszug nach Osten!".
Wladimir Putins russozentrische Interpretation
Auch Wladimir Putin kokettiert seit Jahren mit dem eurasischen Gedanken, den er als eine Alternative zur europäischen Idee zu popularisieren sucht. Die "Eurasische Union", die er vor kurzem mit einigen anderen postsowjetischen Republiken gründete, wurde von ihm als Gegenmodell zur Europäischen Union konzipiert. In Wirklichkeit unterscheidet sich aber das Putinsche ideologische Konstrukt grundlegend von den Ideen der "klassischen" Eurasier. Das von Putin angestrebte imperiale Gebilde soll nicht auf einer multikulturellen Synthese, wie sie den Eurasiern vorschwebte, sondern in erster Linie auf russischem Nationalismus basieren.
Mit den eurasischen Ideen hat diese russozentrische Sicht nur wenig Ähnlichkeit, denn bereits 1927 hob Nikolaj Trubezkoj hervor: Die Zeit der Alleinherrschaft der Russen im russischen Reich sei endgültig vorbei.
Dessen ungeachtet bleibt Russland, trotz der antiwestlichen Tiraden seiner heutigen Machthaber, weiterhin eine "europäische Macht", wie Katharina II. 1767 das von ihr regierte Land definierte. Das "Fenster nach Europa", das Peter der Große zu Beginn des 18. Jahrhunderts geöffnet hatte, veränderte den Charakter Russlands so stark, dass es für die Kritiker der petrinischen Reform nicht mehr möglich war, das Rad der Geschichte auf Dauer zurückzudrehen. Man kann davon ausgehen, dass auch die heutige Infragestellung der "europäischen Wahl" Russlands nicht von Dauer sein wird. Früher oder später wird das Land den zu Beginn dieses Jahrhunderts unterbrochenen Prozess seiner "Rückkehr nach Europa" sicherlich wieder aufnehmen.