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Aus Not vereint…Eine Analyse von Arbeitsprotesten der LKW-Fahrer in Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Aus Not vereint…Eine Analyse von Arbeitsprotesten der LKW-Fahrer in Russland

Valentina Mählmeyer

/ 13 Minuten zu lesen

Angefangen mit Protesten gegen das im Jahr 2015 eingeführte modernisierte Mautsystem wurde der Widerstand russischer LKW-Fahrer immer größer. Heute geht es um mehr als nur ein Mautsystem und die Regierung sieht sich mit einem branchenübergreifenden Einspruch konfrontiert.

"Für Straßen ohne Rotenberg und ohne Einiges Russland" - LKW-Fahrer protestieren gegen das von Rotenberg, einem Kreml-nahen Oligarchen, mitfinanzierte Mautsystem und gegen die Politik der aktuellen Regierung. (© picture alliance / AA)

Die Proteste der LKW-Fahrer gegen das auf Föderalen Fernstraßen geltende Mautsystem "Platon" reißen seit 2015 nicht ab. In dieser Zeit haben sich zahlreiche Grassroots-Protestgruppen professionalisiert: Sie organisieren sich in gewerkschaftsähnlichen Verbänden, geben Pressekonferenzen, veranstalten russlandweite Protestaktionen und weiten ihre Anliegen zu sachlichen und branchenspezifischen Problemen auf Forderungen politischer Art aus. Der Arbeitskampf der LKW-Fahrer findet Anerkennung bei der Bevölkerung und greift inzwischen auf die Arbeitskämpfe anderer Berufsgruppen über, etwa jene der Bauern. Die zu beobachtende Solidarisierungswelle in der Gesellschaft offenbart gravierende Unzufriedenheit hinsichtlich der politischen Gewichteverteilung und stärkt die Position des "einfachen Volks". Dieser Beitrag diskutiert auch die branchenspezifischen und die gesellschaftspolitischen Dimensionen des Arbeitskampfes des LKW-Fahrer.

Einleitung

Als ein großes Land mit langen Versorgungswegen ist Russland stark auf eine reibungslos funktionierende Verkehrsinfrastruktur angewiesen. Da nur die Hälfte aller Gütertransporte über Bahnstrecken erfolgt, haben Transporte per LKW einen enormen Stellenwert. Für die weiter entlegenen Ecken des Landes sind sie eine kostengünstigere Alternative zu den Hubschraubertransporten. Für die regionale Versorgung auf kurzen und mittellangen Strecken sind die Gütertransporte per LKW aufgrund ihrer Flexibilität, Schnelligkeit und der günstigen Kosten von größter Bedeutung. Seit der Verhängung der EU-Wirtschaftssanktionen gegen Russland im Jahr 2014 und der im gleichen Jahr verhängten russischen Gegensanktionen in Form eines Embargos auf bestimmte Lebensmittel aus der EU spielen die LKW-Transporte zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken und verschiedenen Föderationssubjekten Russlands wie auch die innerhalb des Landes eine immer wichtigere Rolle. Umso problematischer ist es, wenn das Transportsystem aus den Fugen gerät, weil sich die LKW-Fahrer landesweit gegen eine von der Regierung initiierte Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur positionieren.

Dieser Beitrag diskutiert die Situation rund um die Arbeitsproteste der LKW-Fahrer in Russland gegen das Mautsystem "Platon", das am 15.11.2015 eingeführt wurde. Die hier dargestellten Erkenntnisse basieren auf einer Auswertung von im Internet veröffentlichten russischsprachigen Medienberichten sowie auf einer Analyse der von den beteiligten Stakeholdern auf Arbeitnehmerseite (selbständige Fernfahrer mit eigenem LKW, Gewerkschaften und Protestbewegungen) verkündeten Positionen aus der Zeit von 2015 bis 2017. Der Beitrag kommt zu drei Schlussfolgerungen: 1) die Arbeitskämpfe der LKW-Fahrer zeigen, dass sich in dieser Branche ein erhebliches Konfliktpotential aufgestaut hat; 2) der Kostenanstieg (für LKW-Fahrer und Konsumenten durch "Platon", bei anderen Branchen durch ähnliche Entwicklungen) wird als systematischer Angriff wahrgenommen. Die gemeinsame Erfahrung führt zu Solidarisierung; 3) die Ausweitung der Proteste auch auf andere Berufsgruppen macht deutlich, dass große Teile der Bevölkerung mit dem heutigen politischen System in Russland und der Machtverteilung in der Gesellschaft unzufrieden sind.

Die Hintergrundinformationen

Die Protestaktionen der LKW-Fahrer sind kein neues Phänomen in Russland und treten vereinzelt, in unregelmäßiger Folge auf (z. B. die mehrtägigen Protestaktionen in der nordkaukasischen Republik Dagestan im Jahr 1998; Proteste in den Jahren 2001, 2002 und 2012 in und rund um Moskau). Steigende Treibstoffkosten, der schlechte Zustand der Autobahnen, hohe Zollgebühren sowie die Erhöhung der Mehrwertsteuer beim Kauf von LKWs aus dem Ausland gehören zu den häufigsten Themen solcher Proteste. Gelegentlich werden die Forderungen der LKW-Fahrer auf angrenzende Themenbereiche ausgeweitet. Dazu gehört das Problem der Korruption und der Bestechungsgelder auf den Verkehrswegen oder die Forderung nach einem Rücktritt des Leiters der Zollbehörde in Dagestan. Die Gemeinsamkeiten solcher Protestaktionen liegen in ihrer Spontaneität und dem lokalen Charakter sowie in jeweils konkreten Forderung überwiegend finanzieller Art. Sie werden auf Initiative individuell betroffener Fernfahrer organisiert, wenn "das Wasser bis zum Hals steht", und finden ohne rückendeckende Unterstützung durch kollektive Formen der Interessenvertretung statt. Solche Protestaktionen ereigneten sich vereinzelt, unzusammenhängend – und endeten häufig ergebnislos.

Eine Ausnahme stellt der Arbeitsprotest der LKW-Fahrer gegen steigende Treibstoffkosten im Jahr 2007 dar, der auf Initiative der 1998 gegründeten "Interregionalen Gewerkschaft professioneller LKW-Fahrer" (russ. Abk.: MPVP) und der 2008 registrierten interregionalen Gewerkschaft "Dalnobojschtschik" (dt.: "Fernfahrer") russlandweit durchgeführt wurde. Trotz eines Teilerfolges, demzufolge die Preisentwicklung von acht auf drei Prozent verlangsamt wurde, besteht das Problem fort. Es wurde 2012 im Rahmen einer Aktion "Postoim, podumajem" ("Wir bleiben stehen und denken nach") erneut aufgegriffen und um die Frage nach dem Korruptionsproblem auf den Verkehrswegen ergänzt. Damals kam es in zahlreichen Großstädten Russlands zu zeitlich abgestimmten 20-minütigen Korsos, die zu erheblichen Verkehrsbehinderungen führten und bei denen die LKW-Fahrer mit Hupen auf ihre schweren Arbeitsbedingungen aufmerksam machen wollten. Ähnlich wie die russlandweiten Arbeitsproteste anderer Berufsgruppen (z. B. der Arbeitskampf der Bauern oder gar der staatlich angestellten Lehrer oder Ärzte) hatten die Protestaktionen der LKW-Fahrer zuvor keine breite Zustimmung in der Gesellschaft gefunden und wurden vielmehr als Störung des öffentlichen Lebens wahrgenommen.

Die soziokulturellen Besonderheiten der LKW-Branche

Die Bildung einer Grassroots-Bewegung in der Branche der LKW-Gütertransporte in Russland, die einer stark zerklüfteten Landschaft gleicht, ist ein schwieriges Unterfangen. Neben den Großunternehmen existieren dort zahlreiche kleinere und mittlere Firmen, die bis zu 60 Prozent des Fuhrparks (nach manchen Schätzungen sogar bis zu 90 Prozent) ausmachen. Neben den zahlreichen Freiberuflern, die ihr Einkommen je nach Auftrag mal legal, mal durch die Schwarzarbeit bestreiten, ist eine Großzahl selbständiger LKW-Fahrer tätig, die in Besitz eines eigenen LKWs sind. Die Einstiegshürden in das Transportgeschäft sind im Falle von Angestelltenverhältnissen eher gering: Es reicht ein Führerschein der entsprechenden Klasse, eine Erfüllung konkreter medizinischer und anderer formaler Auflagen, minimale Fahrerfahrung von nur einem Jahr und ggf. eine Berufsausbildung oder fachliche Fortbildung.

Auch die Berufsgruppe der LKW-Fahrer weist kaum Homogenität auf. Die Dominanz des männlichen Geschlechts zählt wohl zu den wenigen Gemeinsamkeiten, obwohl vereinzelt auch LKW-Fahrerinnen anzutreffen sind. Angesichts der statistischen durchschnittlichen Lebensdauer von 65 Jahren stehen die männlichen LKW-Fahrer in Russland mit ihrem Durchschnittsalter von 40 Jahren daher als Selbständige oder Freiberufler unter einem hohen Druck, die Familie langfristig zu versorgen. Selbst die sogenannten "professionellen Fahrer" haben sehr unterschiedliche Lebensläufe. Quereinsteiger sind unter den LKW-Fahrern keine Seltenheit. Hierzu gehören Frührentner mit einem militärischen Hintergrund, die bereits im Alter ab 40 Jahren die Möglichkeit der Frühverrentung in Anspruch nehmen und einen zweiten Berufsweg einschlagen. Ehemalige Strafgefangene, die aufgrund ihrer Vorbestrafung kaum eine Chance auf eine andere gut entlohnte Arbeit haben, übernehmen häufig schwierige Routen und erreichen dadurch eine gewisse Einkommenssicherheit und Ansehen. Zu den Beweggründen insbesondere der selbständigen LKW-Fahrer bei der Berufswahl zählt die Unabhängigkeit vom Arbeitgeber, die Selbstbestimmung und die Eigenverantwortung in Bezug auf die Wahl von Transportgütern, Zeiten und Transportrouten sowie Aussicht auf Einkommensstabilität. Doch der Preis des "Lebens auf Rädern" ist hoch und wird durch einen konstanten Druck bei der Suche nach den Anschlussaufträgen, hohe Reparatur- und Wartungskosten sowie fehlende Sicherheit bei unerwarteten Ausfällen technischer oder gesundheitlicher Art geprägt. Wegen der bis zu 26 Arbeitstage pro Monat bleiben lediglich wenige Tage für die Familie.

Anhand dieser kurz skizzierten Heterogenität der Berufsgruppe der LKW-Fahrer in Russland wird deutlich, dass die Ausgangsvoraussetzungen für einen effektiven und langfristigen Zusammenschluss in einer Gewerkschaft oder für eine Beteiligung an einer Protestbewegung eher ungünstig sind. Der stark individualistischen Gruppe der LKW-Fahrer, in der zudem eine ständige Konkurrenz um neue Aufträge herrscht, fehlt es zudem am räumlichen Zusammenhalt. Auf der anderen Seite bieten Umstände wie die starke berufliche Identität und gegenseitige Hilfsbereitschaft, die geteilten Probleme technischer und finanzieller Art sowie die gemeinsamen Zwänge etwa durch das "Platon"-System einen gemeinsamen Nenner für kollektive Arbeitskämpfe. Die Mobilität der LKW-Fahrer, praktische Erfahrungen aus den früheren beruflichen Tätigkeiten und die verbreitete Nutzung digitaler Interneträume (Foren, Youtube, digitale Automobilzeitschriften) gehören zu den begünstigenden Faktoren für eine Organisierung.

Das Mautsystem "Platon"

Eine Grassroots-Bewegung der LKW-Fahrer mit dem Ziel einer kollektiven Verteidigung ihres Rechts auf Arbeit und zur Verbesserung ihrer Arbeitssituation ist dann im Zusammenhang mit der Einführung des LKW-Mautsystems "Platon" (eine Abkürzung von "plata sa tonnu", dt.: "zahlbar pro Tonne") entstanden. Das am 15.11.2015 eingeführte System "Platon" gilt für LKWs mit einem Gewicht ab 12 Tonnen und betrifft ca. 2 Millionen Fahrzeuge. Es etabliert eine in Russland bislang kaum verbreitete (mit Ausnahme von wenigen zahlpflichtigen Autobahnabschnitten rund um Moskau) Maut für die (Ab-)Nutzung der "Verkehrswege föderaler Bedeutung". Die Gebühr pro gefahrenem Kilometer in Höhe von 1,53 russische Rubel sollte ab November 2015 kontinuierlich steigen – und zwar auf 3 Rubel im Februar 2016, auf nachträglich beschlossene 3,06 Rubel ab April 2017 (am 22.03.2017 wurde allerdings von Ministerpräsident Medwedew eine Reduzierung des Anstiegs auf 25 Prozent – von 1,53 auf 1,91 Rubel – erlassen), und schließlich – wie ursprünglich beabsichtigt – auf 3,73 Rubel ab dem Jahr 2019. Des Weiteren müssen die LKW-Fahrer eine kostenlose Vorrichtung für eine satellitengesteuerte Überwachung der zurückgelegten Fahrtwege in ihrem Fahrzeug installieren, um eine korrekte Zahlung auf der Grundlage einer lückenlosen Nachvollziehbarkeit der Transportroute zu gewährleisten.

Die Absicht des Staates zur Einführung eines Mautsystems auf den russischen Verkehrswegen besteht seit dem Jahr 2011. Lediglich aufgrund der EU-Sanktionen wurden im September 2014 drei seit der Ausschreibung von 2013 bereits in einer engeren Wahl stehenden Firmen mit einer ausländischen Beteiligung durch ein einheimisches Unternehmen ersetzt, das ohne jegliche Ausschreibung bestimmt wurde. Bereits im Vorfeld der Einführung von "Platon" wurden in 40 Regionen Russlands zahlreiche Warnstreiks der LKW-Fahrer am Straßenrand durchgeführt. Die LKW-Fahrer drohten mit einem motorisierten Marsch nach Moskau, falls "Platon" nicht gestoppt werde. Infolge dessen versammelten sich am 4. Dezember 2015 zahlreiche LKWs aus 17 Regionen Russlands rund um Moskau (in Chimki und auf der Kaschirskoje-Chaussee), daraus haben sich mehrere Protestgruppen gebildet. Die Forderungen der Beteiligten variierten. Manche verlangten die Abschaffung des gesamten Systems "Platon" inklusive der dazugehörigen Überwachungsvorrichtung (so die MPVP und die Protestbewegung in Chimki), andere wollten nur die Aufschiebung der Einführung um weitere drei Jahre mit einer vorangehenden einjährigen Testphase (so die großen Transportunternehmen).

Nach dem offiziellen Start des Systems folgten weitere Arbeitsproteste der LKW-Fahrer unter dem Motto "Nein zu Platon". Mit der Aktion "Ulitka" (dt.: "Schnecke"), die mittels einer Kolonnenbildung von mit einer Geschwindigkeit von 10 bis 40 km/h fahrenden LKWs in ganz Russland kilometerlange Blockaden von Verkehrswegen herbeiführte, machten die LKW-Fahrer lautstark hupend auf die bevorstehende Zerstörung von kleinen und mittleren Firmen zugunsten von Großunternehmen, auf die Ruinierung von Existenzen und die steigenden Kosten für die Endverbraucher aufmerksam. Ein Tag nach der Einführung von "Platon" verweigerte bis zur Hälfte der LKW-Fahrer die Durchführung der bereits geplanten Transporte aufgrund der zu erwartenden Systemstörungen und der hohen Strafen.

Obwohl das "Platon"-System nicht verhindert werden konnte, wurde Ende 2015 durch diesen groß angelegten Widerstand eine temporäre Verringerung der Gebühr von 3,73 auf die ursprünglichen 1,53 Rubel, eine Reduzierung der anfangs geplanten Strafen auf 5.000 Rubel (1,1 Prozent des ursprünglichen Betrages) sowie eine von Präsident Wladimir Putin vorgeschlagene Aufhebung der Transportsteuer erreicht. Die Meinungen der Organisationen kollektiver Interessenvertretung hinsichtlich des Arbeitskampfes fielen jedoch sehr unterschiedlich aus: Während die Gewerkschaft MPVP mit vielen Aktionen rund um Moskau aktiv gegen "Platon" mobilisierte, sah die interregionale Gewerkschaft "Dalnobojschtschik" keinen Kampfbedarf, weil "das System [unweigerlich] zu einem eigens verursachten Transportkollaps" führen werde. Die Grassroots-Widerstandsgruppen hingegen reagierten mit der Bildung einer eigenen Berufsvereinigung (etwa der "Vereinigung der Transportunternehmer", russ.: OPR).

Die Arbeitskämpfe der LKW-Fahrer boten zudem eine offene Plattform für Diskussionen zu weiteren bestehenden Problemen wie etwa dem schlechten Zustand der Verkehrswege, der fehlenden begleitenden Infrastruktur (Rast- und Reparaturstätten, Übernachtungs- und Einkaufsmöglichkeiten), der hohen Transportsteuer, der Korruption und den nicht überwachten Arbeitszeiten der LKW-Fahrer (Seit April 2014 besteht für juristische Personen in Russland – wie in Deutschland – die Pflicht zur Nutzung von Fahrtenschreibern, aber nur bis zu sieben Prozent aller LKWs sind tatsächlich damit ausgestattet. Der Grund dafür liegt darin, dass über 60 Prozent aller LKWs auf natürliche Personen angemeldet sind – Tendenz steigend. Dies sichert geringere Sanktionen im Falle von Verstößen gegen die Regeln des Gütertransports.).

Die gesellschaftspolitische Dimension des Konfliktes

Das Bestreben der Regierung zur Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur und zur Regulierung der heterogenen Güterverkehrsbranche in Russland trifft seit ihrer Initiierung auf heftigen Widerstand seitens der LKW-Fahrer und auf eine starke Ablehnung in der breiten Bevölkerung. Eine Knappheit an Transportmitteln aufgrund der Verdrängung von kleineren und mittleren Unternehmen vom Markt und die daraus resultierende künstliche Verteuerung von Gütertransporten bis zu acht Prozent aufgrund von "Platon" gehören zu den ersten negativen Folgen. Die Abwälzung der gestiegenen Transportkosten auf die Endverbraucher und die zu erwartende Lebensmittelknappheit beunruhigt die Bevölkerung und verstärkt die Unzufriedenheit mit der Arbeit staatlicher Behörden.

Eine Solidarisierungswelle der Bevölkerung mit den LKW-Fahrern (laut Umfragen des Lewada-Zentrums wurden die LKW-Fahrer im Dezember 2015 russlandweit von über 60 Prozent und in Moskau von über 70 Prozent der Befragten unterstützt) aktivierte unerwartete Ressourcen für den Widerstand, wie etwa die Versorgung der Streikenden mit Lebensmitteln und Treibstoff, mit Angeboten professioneller juristischer Beratungen sowie mit einer finanziellen und logistischen Unterstützung. Die Grassroots-Bewegung der betroffenen LKW-Fahrer und breite Teile der ansonsten gegenüber Arbeitsprotesten gleichgültigen Bevölkerung finden angesichts der finanziellen und gar existenziellen Bedrohung zueinander. Denn die um ihre wirtschaftlichen Rechte kämpfenden LKW-Fahrer stehen als Berufsgruppe stellverstretend für in der Gesellschaft stark verbreitete und allgemein anerkannte Werte wie Respekt für harte maskuline Arbeit, Patriotismus, Befürwortung des und Loyalität gegenüber dem aktuellen politischen System. Selbst wenn in letzter Zeit der Arbeitskampf der Fernfahrer deutliche politische Züge (wie etwa die Äußerung des Misstrauens gegenüber dem Präsidenten und die Forderung nach einem Regierungsrücktritt durch die Gewerkschaft OPR) jenseits der ursprünglichen Reaktion auf das Mautsystem "Platon" annimmt, kann man die LKW-Fahrer kaum bezichtigen, im Auftrag "ausländischer Agenten" zu handeln.

Trotz der bereits hohen finanziellen Belastung für die LKW-Fahrer wird die Einnahmenbilanz des "Platon"-Systems von Verkehrsbehörden aktuell als ausbaufähig eingestuft: Nach dem ersten Jahr wurden 19 Milliarden Rubel statt der ursprünglich geplanten (mit dem Tarif von 3,73 Rubel pro gefahrenen Kilometer prognostizierten) 45 Milliarden Rubel eingenommen. Mittels einer Disziplinierung der LKW-Fahrer durch verschärfte Kontrollmaßnahmen und der infolgedessen höheren Zahlungsbereitschaft sollen die Einnahmen steigen. Vom Transportministerium wird gar eine Übererfüllung der im Jahr 2017 geplanten Einnahmen angestrebt (30 statt 21 Milliarden Rubel). Neben einer Tariferhöhung soll die Verbesserung der flächendeckenden Durchsetzung von "Platon" dazu beitragen – denn bei nur 60 Prozent aller Gütertransporte wird tatsächlich gezahlt. Zum einen sollen die Strecken, die die LKW-Fahrer mit einer ausgeschalteten Überwachungsvorrichtung zurückgelegt haben, rekonstruiert und in Rechnung gestellt werden. Darüber hinaus sollen ausstehende Strafzahlungen gezielter eingetrieben werden, was aufgrund der behördlichen Zuständigkeitsüberschneidungen lediglich in vier der über achtzig Regionen systematisch erfolgt; zudem soll die Höhe der Strafen künftig wachsen. Zu den weiteren drakonischen Maßnahmen zählt der vorgeschlagene Wegfall eines 50-Prozent-Rabattes auf die Zahlung der ersten Geldstrafe (5.000 statt 10.000 Rubel) sowie der Wechsel vom Prinzip "nur eine Strafe pro Tag" zur Bestrafung jedes festgestellten Regelbruchs.

Aus der Perspektive der LKW-Fahrer besteht im Zusammenhang mit dem "Platon"-System ein begründeter Verdacht auf Vetternwirtschaft und Korruption – die Mautgebühr ist auch als sogenannte "Rotenberg-Steuer" bekannt. Denn der Entwickler und Betreiber des Mautsystems, die Firma "RT-Invest Transportsysteme" (russ. Abk.: RTITS), gehört zu gleichen Teilen Igor Rotenberg, dem Sohn von Arkadij Rotenberg, eines engen Vertrauten von Präsident Wladimir Putin, und dem Investmentfond "RT-Invest" (Besitzer: Arkadij Rotenberg…). Als Gegenleistung für den Aufbau der gesamten "Platon"-Infrastruktur darf RTITS diese 13 Jahre lang betreiben und wird jährlich mit 10,6 Milliarden Rubel staatlich subventioniert, wobei 46 Prozent dieser Summe jährlich dem Inflationsausgleich unterliegen. Da die "Platon"-Zahler von der Transportsteuer befreit werden sollen, verlieren die Regionalhaushalte nach eigenen Angaben bis zu 8,7 Milliarden Rubel, erhalten aber dafür einen Ausgleich aus dem Zentralhaushalt. Zudem investiert der Staat weitere 22,9 Milliarden Rubel in die Erneuerung und den Neubau von Straßen und Brücken in den Großstädten und Regionen. Unter dem Strich schreibt das "Platon"-System trotzdem, sogar im Fall einer Planübererfüllung im laufenden Jahr, für den Staat rote Zahlen.

Das "Platon"-System wird von den LKW-Fahrern als ein Instrument wahrgenommen, mit dem ihnen ihr hart verdientes Geld weggenommen und zwischen den Wirtschaftseliten verteilt wird – ohne Garantie auf eine reale Verbesserung ihrer Arbeitssituation oder der Verkehrswege. Daraus resultieren zwei Konfliktlinien: 1) LKW-Fahrer gegen die Ausbeutung durch den Staat in der besonders schwierigen Situation der aktuellen Wirtschaftskrise und 2) der Ärger der LKW-Fahrer darüber, dass sich die Oligarchen, vom Staat toleriert, nun an der hart arbeitenden Bevölkerung bereichern. Diese Situation verstärkt die Empfindung von Ungerechtigkeit, Alternativ- und Hilflosigkeit beim "einfachen Volk".

Zusammenfassung

Die heterogene Berufsgruppe der LKW-Fahrer wird durch die Einführung des "Platon"-Mautsystems zu der Einsicht gezwungen, dass die aktuelle Problemlage ausschließlich durch gemeinsame, systematische Anstrengungen gelöst werden kann. Der seit dem Jahr 2015 andauernde Arbeitskampf der LKW-Fahrer hat ihre bereits ausgeprägte berufliche Gruppenidentität noch weiter gestärkt (z. B. in Form der Gründung der "Vereinigung der Besitzer von Transportkraftfahrzeugen und Objekten der Transportinfrastruktur "Dalnobojschtschik" " im Jahr 2016, die sich Seite an Seite mit der "Dalnobojschtschik"-Gewerkschaft mit den strategischen Fragen der Geschäftsoptimierung im Gütertransport befasst). Der Organisationsbedarf zur Sicherstellung einer effektiven Interessenvertretung der LKW-Fahrer ist groß – doch mindestens genauso groß sind die Meinungsunterschiede der beteiligten Gewerkschaften und der Protestbewegungen hinsichtlich der dafür am besten geeigneten Methoden und der ideologischen Annahmen. Während die ersteren ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der kommunistischen Partei signalisieren und die Liste ihrer Forderungen bis hin zu Misstrauenserklärungen gegen den Präsidenten ausweiten, lehnen letztere jegliche politische Einflussnahme kategorisch ab und bleiben bei ihrer sachlich begründeten Ablehnung des "Platon"-Systems. Der Arbeitskampf der LKW-Fahrer geht weiter – sie bilden aber trotz eines gemeinsamen Ziels immer noch keine geeinte politische Front.

Am 27.03.2017 steht eine weitere großangelegte, unbefristete Streikaktion der LKW-Fahrer in ganz Russland an. Durch die beabsichtigte Lahmlegung des Güterverkehrs auf der Straße möchten sie sich ein Gehör hinsichtlich ihrer weiter fortbestehenden Probleme verschaffen und ihrem Ärger über Gerüchte Luft machen, dass "Platon" auf LKWs mit einem Gewicht ab 3,5 Tonnen ausgeweitet werden soll. Auch wenn daraufhin keine gravierenden Veränderungen des "Platon"-Systems zu erwarten sind, entfaltet der mehrjährige, hartnäckige Arbeitskampf der LKW-Fahrer eine unerwartete Wirkung: Neben einer Solidarisierung der Bevölkerung mit den der LKW-Fahrern lenken deren Proteste die Aufmerksamkeit auch auf Missstände in weiteren Berufsgruppen. So unterstützt die "Vereinigung der Transportunternehmer Russlands" (OPR), die ihre Wurzeln in der Protestbewegung in Chimki hat, die Bauernproteste im Süden Russlands. Zwar wurde der Anfang September 2016 erfolgte Traktorenmarsch der Bauern nach Moskau verboten und von der Polizei aufgelöst (ein erneuter Protest der Bauern ist am 28.03.2017 geplant) [vgl. den Interner Link: Artikel von Hans Schmidt]. Doch die bislang isoliert voneinander erfolgten Arbeitskämpfe der LKW-Fahrer gegen das "Platon"-System sowie der Bauer gegen den Landraub gewinnen durch die gemeinsamen Auftritte an Einfluss und erzielen eine hohe Öffentlichkeitswirkung.

Über die Autorin

Valentina Mählmeyer ist Gastwissenschaftlerin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in der Projektgruppe "Globalisierung, Arbeit und Produktion". Sie promoviert am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört die international vergleichende Forschung der Arbeitsbeziehungen in der Automobilindustrie.

Lesetipp

Vesnin, A.: Russian truckers take it to the streets, in: New Eastern Europe, 21.2016, Nr. 2, S. 146–152.

Hörtipp

Treffen der Gewerkschaft OPR mit der Gewerkschaft Verdi in Berlin, 23. März 2017; Audio [russ./dt.]: http://opr.com.ru/info/news/vstrecha-delegatsii-opr-s-predstavitelyami-nemetskogo-profsoyuza-verdi-/.

Fussnoten

Valentina Mählmeyer ist Gastwissenschaftlerin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in der Projektgruppe "Globalisierung, Arbeit und Produktion". Sie promoviert am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört die international vergleichende Forschung der Arbeitsbeziehungen in der Automobilindustrie.