Zusammenfassung
Über politische und gesellschaftliche Gegensätze und die mangelnde politische Kultur in Polen wurde in der letzten Zeit viel geschrieben. Aber was lässt sich über die Brüche in der Gesellschaft sagen? Eine Kategorie stellt dabei die Fähigkeit dar, einander als Gemeinschaft zu vertrauen, sich für gesellschaftliche, soziale, karitative Belange zu engagieren oder starke Interessengruppen zu bilden. Laut Umfragen ist jedoch nur eine verschwindende Minderheit der Polen gesellschaftlich aktiv, gegenüber Nachbarn oder Fremden herrscht überwiegend Gleichgültigkeit, wenn nicht gar deutliches Misstrauen. Die Polen sehnen sich nach gemeinschaftlichen Erlebnissen, die ihre nationale oder religiöse Identität unterstreichen, gleichzeitig bereiten ihnen Formen des täglichen Zusammenlebens in einer nicht homogenen Gruppe Schwierigkeiten. Um "gute Nachbarn" zu sein braucht man, so der Autor, die Fähigkeit, gemeinsam zu handeln und gemeinsame Regeln aufzustellen.
Reist man durch Polen, so fallen einem sofort die neuen Gebäude und Häuser auf, die sich immer weiter jenseits der früheren Stadtgrenzen ausdehnen. Sie zeugen von mehr als nur der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Hierin materialisieren sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in Polen. Jedes Haus unterscheidet sich eindeutig von den anderen. Die Eigentümer, die Form, Farbe und selbst die Dachziegel ausgewählt haben, stellen ihre Besonderheit und Außergewöhnlichkeit unter Beweis. Selbstverständlich wird jedes Haus eingezäunt, obwohl die Kriminalitätsrate in Polen eine der niedrigsten in der ganzen EU ist.
Polen sind schlechte Nachbarn
Dass die Polen eine Neigung haben, aneinander vorbeizureden, zeigt auch die Statistik; etwa Indikatoren, die die Zusammenarbeit, Selbstorganisation und den Grad an Vertrauen messen. Eine Untersuchung zur Bürgerbeteiligung aus dem Jahr 2016 hat ergeben, dass zwei Drittel aller Polen in keinerlei zivilgesellschaftlicher Organisation engagiert waren.
Laut der European Values Study geben 23 Prozent aller befragten Polen an, Mitglied in einer zivilgesellschaftlichen Organisation oder einem Verein zu sein.
Untersuchungen zum gegenseitigen Vertrauen ergeben ein ähnliches Bild. Seit Jahren kommen Studien zu den gleichen Ergebnissen: Polen vertrauen einander in der Regel nicht. Im Jahr 2002 bejahten 19 Prozent die Frage, ob man den meisten Menschen trauen könne; 2008 waren es 26 Prozent und 2016 waren es 23 Prozent. Dass man im Umgang mit anderen vorsichtig sein müsse, sagten stets mehr als 70 Prozent. Meist vertrauten Polen nur ihren Familienangehörigen (81 Prozent). Wenn es um die Nachbarn geht, sagten ganze 60 Prozent der Befragten, dass man ihnen nicht trauen könne.
Das tatsächliche Zusammenleben bereitet den Polen Schwierigkeiten. Sie mögen gemeinschaftliche Symbole und Rituale, aber das gemeinsame Miteinander fällt ihnen schwer. Sie sind anfällig für Parolen, die eine nationale Besonderheit und Homogenität propagieren, etwa in letzter Zeit gegenüber der "Flüchtlingswelle". Allerdings fallen ihnen Bindungen schwer, die nicht auf Ausschluss beruhen oder durch Angst oder Bedrohung wachgehalten werden.
Nachbarschaft kann ein Schlüsselbegriff sein, um dieses Problem zu verstehen: Den Polen gelingt es nicht, gute Nachbarn zu sein. Wenn wir Nachbarschaft als eine bestimmte Form und ein Erleben gesellschaftlicher Verhältnisse definieren, dann existiert sie in Polen eigentlich nicht. Damit Nachbarschaft funktioniert, müssen wir uns darüber klar werden, dass die Menschen um uns herum anders sind als wir selbst. Wir müssen diese Unterschiede als solche akzeptieren. Wenn aber Vorstellungen von einer Einheit und gemeinsamen Identität vorherrschen, dann können Unterschiede einzig an der Grenze der Gemeinschaft auftreten, die sie als solche meist existentiell bedrohen. Meinem Verständnis nach bedeutet Nachbarschaft hingegen die Fähigkeit gemeinsam zu handeln und gemeinsame Regeln aufzustellen. Und zwar ohne die Erwartung, dass alle trennenden Unterschiede verschwinden. Die Bedingung dafür ist, dass Unterschiede gutgeheißen und nicht verneint werden.
Geschichte einer schwierigen Nachbarschaft
Es gibt gesellschaftliche Gründe für die Schwierigkeiten mit der Nachbarschaftlichkeit. Der Sachverhalt ist natürlich deutlich komplexer, als die bloße Feststellung, dass die Polen "schon immer" ein Problem damit hatten, Unterschiede zu akzeptieren. Man sollte sich auch nicht mit einer Geschichte des Niedergangs begnügen: weg von einer viel beschworenen Vielfalt hin zu einer homogenen Gemeinschaft. Ich werde an dieser Stelle drei Aspekte in den Mittelpunkt stellen: die Religion, das polnisch-jüdische Verhältnis und die Klassenverhältnisse. An diesen wird deutlich, woher die polnische "Unnachbarschaftlichkeit" stammt, zugleich aber auch, dass die Polen in ihrer Geschichte auch mit Konzepten von Gemeinschaft operieren konnten, die deutlich weniger homogen waren als heute.
Kirche und religiöse Toleranz
Das beste Beispiel dafür, wie gut Unterschiedlichkeit in Polen auch funktionieren konnte, liefert die Religion. Während Westeuropa im 16. Jahrhundert von Religionskriegen auseinandergerissen wurde, gelang es in Polen, eine Ordnung zu errichten, die das Zusammenleben verschiedener Religionen und Bekenntnisse ermöglichte. In Warschau unterschrieben die Adeligen 1573 die sogenannte Warschauer Konföderation
Die religiöse Toleranz entwickelte sich aus der Erfahrung der Gründung der polnischen Adelsrepublik als Imperium. Sie entstand aus der Einheit mit Litauen als strategisches Bündnis gegen die deutsche Expansion in Preußen. Dadurch lebten unterschiedliche ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen in einem gemeinsamen staatlichen Organismus zusammen. Hätte eine von ihnen versucht, die anderen zu dominieren, wäre es zu gewaltigen Konflikten und Gegenbewegungen gekommen. Auch wenn Toleranz einen Selbstzweck darstellte, wäre es naiv, sie unabhängig von den Interessen des staatlichen Organismus zu betrachten, in dem sie wirkte. Auch darf man nicht vergessen, dass die Toleranz vor allem den Adel vereinte. Er stellte eine privilegierte Klasse dar und beutete die Bauern mit unbezahlter Arbeit aus. Letztere mussten de facto als Sklaven Weizen für die neu entstehenden kapitalistischen Märkte in Westeuropa anbauen.
Betrachtet man Polen heute, so wird deutlich: Ändert sich der institutionelle Kontext, dann ist es um die Anerkennung religiöser Unterschiede schlecht bestellt. Die religiöse Vielfalt ist nach 1945 drastisch geschrumpft, als die heutige Grenze Polens durch eine staatliche Politik der ethnischen Homogenisierung Gestalt annahm.
Man könnte sagen, dass das in einem Land selbstverständlich sei, in dem Katholiken dominieren. Immerhin gehen 35 Prozent von ihnen jeden Sonntag in den Gottesdienst und der größten nicht-katholischen Kirche – der orthodoxen – gehören nur 0,7 Prozent der Bevölkerung an. Mangelnde Reflexion über religiöse Unterschiede prägt auch die Art und Weise, wie sich die Polen zu wichtigen Herausforderungen der Gegenwart verhalten. Gerade jetzt, da sie doch Teil eines Imperiums sind: der Europäischen Union. Die Angst vor Flüchtlingen speist sich auch aus der Ablehnung des Islam als fremder Religion, die eine potentielle Gefahr für die polnische Identität darstellt (obwohl die Angst sicherlich komplexere Ursachen hat). Flüchtlinge oder wahlweise auch Muslime (diese Kategorien vermischen sich im Alltag) möchte man möglichst weit von den polnischen Grenzen entfernt wissen. Das ist eine normale Reaktion, weil die Erfahrung religiöser Nachbarschaft fehlt. Es stellt allerdings auch die Grundlagen europäischer Solidarität infrage und untergräbt das Vertrauen in das gesamte Projekt der EU. Es führt zu einer Situation, in der – mit einem marxistischen Begriff gesprochen – das unmittelbare Interesse gegenüber dem historischen Interesse überhandnimmt.
Das polnisch-jüdische Verhältnis
Die Frage nach dem Judentum verbindet Religion und Ethnie. Seit dem Mittelalter lebten Juden auf polnischem Gebiet und machten vor dem Zweiten Weltkrieg circa zehn Prozent der Bevölkerung aus. Es gibt ein idyllisches Bild der Juden in der polnischen Kultur: Sie werden als exotische Gruppe dargestellt, die trotzdem harmonisch mit den anderen zusammenlebt und ein wichtiges Stück im Mosaik der multiethnischen Adelsrepublik bildet. Dieses Bild ist allerdings sehr weit von den wirklichen gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Platz, den Juden in der polnischen Kultur eingenommen haben, entfernt.
In jedem Falle stellten die Juden in der polnischen Wirklichkeit eine deutlich andersartige Gruppe dar. Ihre Andersartigkeit war offensichtlich und unbestreitbar. Die Juden waren gleichzeitig nah – in einem physischen Sinne, denn sie lebten in den gleichen Städtchen, wo sie zum Beispiel Gaststätten oder Handwerksbetriebe führten. Sie waren der ideale Typus des Nachbarn, könnte man meinen. Doch das Verhältnis der Polen zu den Juden war von Misstrauen, Argwohn und einem gleichzeitigen Gefühl der Selbstüberhöhung gekennzeichnet.
Der Volksglaube über jüdische Rituale war eng mit christlichen Stereotypen verbunden: Es ist eine pervertierte Vorstellung des Verzehrs der christlichen Hostie, dass Juden Kinder rauben, um aus ihrem Blut Maze zu machen. Ebenso die Vorstellung, dass Juden in die Hostie stächen, um zu überprüfen, ob Blut aus ihr hervortrete. Hinzu kommt das Stereotyp, dass Juden unermesslich reich seien und christlichen Frauen auflauerten.
Es ist also schwer, die Juden "Nachbarn" zu nennen. Sie sind nicht von den Polen abgesondert, sondern auf eine vertrackte Art mit den Polen verbunden. Die Juden seien, so das gängige Vorurteil, ein Beispiel für eine ungeheuerliche und schwer erträgliche Andersartigkeit. Sie flößten Angst ein, weil sie als Gruppe betrachtet werden, deren Existenz unsere Regeln unterwandere. Sie seien eine anhaltende Gefahr für unsere Welt, die es vor ihnen zu schützen gelte.
Sicherlich gehören offen antisemitische Diskurse heute nicht zum Mainstream in der polnischen Öffentlichkeit. Man sollte aber auch nicht irren, dass nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Ermordung der überwiegenden Mehrheit der polnischen Juden durch die Nationalsozialisten diese spezifische Verbindung zwischen der polnischen Identität und den Juden verschwunden sei.
Zurzeit zeigt sich das vor allem im Bereich der historischen Erinnerung. Dafür lohnt sich ein kurzer Überblick über die Veränderung der Erinnerung in den letzten zwanzig Jahren. Im Jahr 2000 stieß das kurze Buch "Nachbarn" von Jan T. Gross in Polen die größte Geschichtsdebatte nach 1989 an.
Die jüdische Erinnerung wird als Gefahr für die polnische Erinnerung betrachtet. Man fürchtet, dass polnische Opfer international keine Anerkennung finden würden, vor allem im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Wenn der Holocaust als wichtiger Bezugspunkt für die globale Erinnerung und Universalgeschichte genommen wird, sieht man das in Polen recht häufig als eine unrechtmäßige Überhöhung der Juden an. Dies ginge auf Kosten der Polen: Erstens, weil die Polen als Antisemiten präsentiert würden und zweitens, weil die Juden das polnische Leid marginalisierten und die Welt es daher nicht anerkenne. Vor diesem Hintergrund wird auch das "Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens" verständlich, das die PiS Anfang 2018 mit ihrer Stimmmehrheit verabschiedete.
Klassenverhältnisse in Polen
Klassenverhältnisse sind eine dritte Sphäre, in der es Polen schwerfällt, Unterschiede anzuerkennen. Nicht aber in dem Sinne, dass hier ein Geist der Gleichheit und der Abschwächung von Spannungen herrschte. Im Gegenteil: Die Kraft der Klassenverhältnisse in Polen führt dazu, dass sehr große soziale Unterschiede entstehen. Außerdem erschweren sie eine Politik der Begrenzung und Rationalisierung dieser Unterschiede. Das führt zu Spannungen, die sich in regelmäßigen Erregungs- und Säuberungskampagnen gegen Privilegierte entladen.
Die fehlende Akzeptanz von Unterschieden hat in Polen eine lange Geschichte. Sie hängt mit der besonderen Lage der Eliten zusammen und der Legitimierung ihrer Position. In der Adelsrepublik verlief der offensichtliche Klassengegensatz zwischen den Adeligen (zu denen zeitweise sogar bis zu zehn Prozent der Bevölkerung gehörten) und der Bauernschaft, die eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung darstellte. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Klassen war feudaler Natur. Die Bauern waren zu unentgeltlicher Arbeit verpflichtet und ökonomisch von den Gutshöfen abhängig. Dort unterstanden sie auch juristisch dem Adel, der das Recht repräsentierte, z. B. auch durch körperliche Züchtigung. Dies führte zu Ausbeutung und einem systematischen Missbrauch der Bauern. Die symbolische Herrschaft wurde dadurch verstärkt, dass der Adel die Herkunft der Bauern auf den biblischen Ham zurückführte.
Ebenso wichtig war der Gegensatz, der zwischen dem niedrigen und dem hohen Adel, also den Magnaten, verlief – obwohl dies meist verschleiert wurde. Die Magnaten repräsentierten große und vermögende Adelsgeschlechter, die einen gewaltigen Reichtum kontrollierten und großen Einfluss auf die Politik hatten. Letzterer war so groß, dass die Magnatenfamilien eine eigenständige Außenpolitik betrieben, durch die sie ihren ökonomischen Einfluss ausweiteten. Sie organisierten ihre politischen Verbündeten und waren bei der Wahl des Königs enorm wichtig und hatten großen Einfluss auf seine Politik.
Es gab während der Teilung Polens (1795–1918) zwei Diskurse, die die Eliten stützten: Zum einen betonten die Eliten ihre Schwäche gegenüber fremden Mächten. Ihre eigene Position begründeten sie durch den Kampf gegen diese Mächte. In diesem Diskurs vermischt sich das vermeintliche Opferdasein mit Heroismus und der Aufopferung für die Gemeinschaft. Kampf und Widerstand werden so zum moralischen Kapital der Elite. Nachdem sie aber selbst die Macht übernommen hatten, legitimierten sie ihre Herrschaft durch ihre früheren Verdienste. So geschah es mit dem Adel und der Aristokratie während der andauernden nationalen Erhebungen im 19. Jahrhundert, dann mit den politischen Freiheitskämpfern der Jahrhundertwende, die nach 1918 in der Zweiten Republik an die Macht kamen, anschließend mit den Kommunisten nach 1945, die ihre Bedeutung im Kampf gegen die deutschen Besatzer herausstellten und endlich mit den Eliten, die aus der Solidarność hervorgegangen sind und ihre Macht mit dem Widerstand gegen die "Kommunisten" legitimierten. Auch die Eliten der PiS präsentieren ihre Politik als anhaltenden Kampf gegen die Volksrepublik, den sie nach 1989 gegen das Establishment der Dritten Republik fortsetzten. Der Kampf um die Befreiung der ganzen Nation führt dazu, dass die Fragen nach Privilegien und Ungleichheiten grundsätzlich unangemessen erscheinen. Personen an der Macht stellt man keine Bedingungen, weil sie ihren Verdienst doch schon bereits früher unter Beweis gestellt haben. Das macht es unmöglich, Herrschaftsverhältnisse zu rationalisieren. Ein Nährboden für Machtmissbrauch, da die Eliten aus einer Position der moralischen Überlegenheit und höheren Rechtmäßigkeit zu handeln scheinen.
Es gibt noch einen zweiten Diskurs, der die Eliten rechtfertigt – und zwar mehr die wirtschaftlichen als die politischen und kulturellen. Er hat seinen Ursprung in der Entwicklungsverzögerung Polens und lautet in etwa so: Die polnischen Eliten sind gegenüber Eliten aus entwickelten Ländern immer schwächer. Sie verdienen daher Schutz und besondere Zuneigung, von der die Modernisierung des Landes abhängt. Dieser Diskurs entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie nach 1918, als einheimische Unternehmer massiv unterstützt wurden. Auch nach 1989 ist die Sprache vom Wiederaufbau einer kapitalistischen Wirtschaft besonders populär geworden. Hinzu kam die Leugnung, dass es überhaupt wirtschaftliche Eliten im Land gebe. Man sagte, in Polen gebe es keine Eliten, weil die "kommunistische Gleichmacherei" alle ausgemerzt habe. Noch bis heute gibt es die Ansicht, dass man in Polen keine Eliten finde und die Anhäufung von Reichtum mindestens einige Generationen dauern werde – und das, obwohl jedes Jahr die Liste der 100 reichsten Polen veröffentlicht wird, von denen sechs zu den 2.000 weltweit reichsten Menschen gehören und mindestens zwei Milliarden Dollar besitzen. Es ist für die Eliten bequem, denn es lenkt die Aufmerksamkeit von ihrem Vermögen ab. Offene Ungleichheiten führen häufig zu moralischer Entrüstung und dem Verdacht, dass sie ihren Reichtum nicht ehrlich erworben haben könnten.
Die Verschleierung der Elite wird in Polen von etwas ergänzt, das man als "Hegemonie der Mittelklasse" bezeichnen könnte. In der Popkultur, in Filmen, Serien und der Werbung erscheinen "normale Menschen" als Repräsentanten der Mittelklasse: Sie haben ein gutes Auskommen (sind aber nicht reich), sind "Kopfarbeiter", die in der Stadt oder den Vororten leben. Die Biographie solch eines "normalen Polen" ist der Lebensweg einer Person aus der Mittelklasse: erst intensives Lernen in Schule und Studium, danach die Suche nach einem Arbeitsplatz und ein Darlehen für eine Wohnung in einer bewachten Neubausiedlung. Die Hegemonie dieser Klasse ist nicht bloß reine Ideologie, denn ihre Größe und Bedeutung wächst in Polen seit den 1970er Jahren tatsächlich beständig. Gegenwärtig kann man über 30 Prozent der Berufstätigen der Mittelklasse zuordnen. Was aber ist mit den übrigen Menschen? Für Menschen mit einer geringeren Bildung, die körperlich arbeiten, auf dem Land oder in kleinen Ortschaften leben, ist kein Platz in der polnischen Kultur des Mainstreams. Wenn sie überhaupt darin vorkommen, dann meist als alberne und zu belächelnde Figuren.
Die PiS hat erfolgreich die Spannungen zwischen den Klassen ausgenutzt, die aus dem symbolischen Ausschluss der einen sowie der Mystifizierung des Status der anderen entstanden sind. Man sagt zwar häufig, dass die PiS ihren Erfolg der ökonomischen Ausgrenzung der sogenannten Transformationsverlierer verdanke. Das ist allerdings ein nur sehr kleiner Teil der Wahrheit. Das Jahrzehnt vor 2015 war die Zeit eines gewaltigen wirtschaftlichen Erfolgs und des materiellen Aufstiegs der meisten Polen. Die Reallöhne stiegen um 50 Prozent, die Arbeitslosigkeit fiel von 20 Prozent am Anfang des Jahrtausends auf nur wenige Prozentpunkte. Auch die Ungleichheiten sind kleiner geworden. Entscheidend waren die nicht-ökonomischen Spannungen. Der Anti-Eliten-Diskurs der PiS rief zu einer Säuberung Polens auf.
Die gegenwärtige Atmosphäre in Polen ist nicht allein das Werk geschickter Manipulatoren. Man muss sie als Konsequenz des Fehlens von Nachbarschaft betrachten. Nachbarschaft als Begreifen, Akzeptieren und Umgehen mit Unterschieden. Eine Politik der Nachbarschaft ist nötig, wenn man gesellschaftliche Veränderung grundlegend neu denken will: als Veränderung der Gesellschaft in Polen und nicht nur als Wechsel der Personen, die an der Spitze der Macht stehen. Erst dann entsteht ein Raum, in dem man all das findet, was verbindet – ohne dass man dafür einen Feind braucht. Erst dann entsteht die Möglichkeit, mit Verschiedenheit zu experimentieren und sich einander anzunähern – ohne Uniformierung und den Kitsch nationaler Einheit. So legt man die Bedingungen für eine Politik der Gleichheit: Sie begreift Gleichheit als ein Moment von Gemeinschaftlichkeit und nicht als substantiellen Inhalt. Wenn die Polen es zu Hause nicht schaffen, einander Nachbarn zu werden, dann kann man sich auch nur schlecht vorstellen, dass sie in Europa zu Nachbarn werden.
Übersetzung aus dem Polnischen: Jerzy Sobotta
Erstabdruck des Textes: Maciej Gdula: Die unnachbarschaftlichen Polen, in: Jahrbuch Polen 2019. Band 30/Nachbarn, hrsg. v. Deutschen Polen-Institut Darmstadt, Wiesbaden 2019, S. 9–20.