"Frankreich ist Witwe", sagte Staatspräsident Georges Pompidou im französischen Fernsehen, nachdem Charles de Gaulle am 9. November 1970 im Alter von 80 Jahren verstorben war. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte dieser sich immer wieder als der Retter und Wegweiser der Nation bezeichnet; und in der politischen Ikonografie hatte man ihn gerne als Ehemann der Marianne dargestellt, des weiblichen französischen Nationalsymbols. Pompidou forderte Frankreich auf, sich seines Erbes würdig zu erweisen; für immer solle de Gaulle in der "Seele der Nation fortleben". Kurz vor seinem Tod hatte dieser sich gegenüber dem Schriftsteller André Malraux sehr pessimistisch über sein Nachwirken geäußert: Wenig würde an der Schwelle zum 21. Jahrhundert noch an sein Wirken erinnern: Auf dem Hügel gegenüber seines Landhauses werde man ein großes Lothringerkreuz – das Symbol seiner politischen Bewegung – errichten. "Alle werden es sehen können; und da niemand da ist, wird niemand es sehen. Es wird den Widerstand der Hasen herausfordern. (...) Stalin hatte Recht - am Ende gibt es nur den Tod, der gewinnt."
In den zurückliegenden vierzig Jahren haben die Franzosen de Gaulle einen einzigartigen Ort in ihrem nationalen Gedächtnis zugewiesen: Keine andere historische Gestalt hat so vielen Straßen und Plätzen (nämlich 3633) ihren Namen gegeben; und über keine andere Figur sind so viele Bücher und Aufsätze verfasst worden. 70 Prozent der Staatsbürger halten ihn für die wichtigste Gestalt der französischen Geschichte und halten ihm vor allem zugute, dass er die "Größe" des Landes und seine "Unabhängigkeit" gewahrt sowie die innere "Sammlung" der Franzosen gefördert habe. Es stellt sich die Frage, warum er eine so herausgehobene Stellung im Geschichtsbewusstsein Frankreichs einnimmt. Welche historischen Verdienste kommen ihm zu; warum überragt er an Ruhm und Verehrung selbst Gestalten wie Jeanne d’Arc?
Eine vierfache historische Rolle
Zunächst und vor allem ist de Gaulle bis heute der "Mann des 18. Juni 1940". An diesem Tag lancierte der damals fast gänzlich unbekannte General von London aus einen Appell zum Widerstand gegen Nazi-Deutschland, das soeben mit der französischen Regierung des Marschall Pétain einen Waffenstillstand geschlossen und große Teile des Landes besetzt hatte. "Die Flamme des französischen Widerstands darf nicht und wird nicht erlöschen", sagte de Gaulle. Damals erschien es wie ein völlig aussichtsloses Unterfangen, das Land zum Kampf gegen die Besatzer zu mobilisieren, waren die Franzosen doch durch den katastrophalen Zusammenbruch unter dem deutschen Angriff des Frühjahrs 1940 gedemütigt und wollten abwarten, wie sich der Krieg weiter entwickeln würde. Nur langsam wuchs die Bereitschaft zum Widerstand; Teile der Kolonien in Afrika unterstellten sich General de Gaulles Oberhoheit und ab 1942/43 bildete sich im Inland eine Volksbewegung der
In engem Zusammenhang damit steht de Gaulles zweite große historische Rolle: Die des "Befreiers". Als es 1944 zur Invasion in der Normandie kam, legte er großen Wert darauf, dass französische Truppen Paris befreiten, um in der Hauptstadt umgehend die Autorität seiner provisorischen Regierung zu unterstreichen und die Pläne der Amerikaner zu durchkreuzen, in Frankreich zunächst eine Besatzungsregierung zu etablieren. Am 26. August 1944 erlebte de Gaulle den größten Triumph seines Lebens: Als Befreier und provisorischer Regierungschef nahezu einstimmig akklamiert, schritt er unter dem Jubel der Bevölkerung den Champs-Elysées ab. Die Prophezeiung des 18. Juni 1940 war gemäß seiner Geschichtssicht wahr geworden: Frankreich stand am Ende des Zweiten Weltkriegs auf Seiten der Sieger.
14 Jahre vergingen, bis de Gaulle in einer neuerlichen Krisensituation zum dritten Mal eine entscheidende Rolle spielte: Nachdem es ihm nicht gelungen war, die Neuordnung des Landes nach 1944/45 in seinem Sinne zu beeinflussen, hatte er die parlamentarisch verfasste IV. Republik zunächst heftig bekämpft und sich dann aus dem politischen Alltag zurückgezogen. Als es 1958 angesichts des Algerienkriegs zu einer Staatskrise kam, wirkte erneut der Rettermythos, der de Gaulle seit Kriegstagen umgab. Als letzter Regierungschef der IV. Republik schuf er eine auf ihn zugeschnittene Verfassung, die dem Staatspräsidenten eine Schlüsselposition zuweist. Somit ging er als Schöpfer der V. Republik in die Geschichte ein. In engem Zusammenhang damit steht die vierte historische Rolle des Generals, nämlich die des Mannes der Dekolonisation. Unter ihm wurde der Algerienkrieg, der gleichzeitig ein innerfranzösischer Bürgerkrieg war, beendet; die verbliebenen afrikanischen Kolonien wurden 1960 in die Unabhängigkeit entlassen.
Kein Konsens über das Erbe de Gaulles
Das Leitmotiv des politischen Lebens de Gaulles blieben Einheit und Größe Frankreichs. Von seinem Land hatte er eine "besondere Vorstellung": es könne nur dann es selbst sein, wenn es Großes leistet. Doch immer wieder sah er es bedroht von einer Tendenz der Franzosen zur Zwietracht und zur inneren Spaltung. Immer wieder schien es ihm, als ob nur er selbst die Franzosen einen und ihnen den Weg zur Größe weisen könne. Paradoxerweise blieb er aber in keiner seiner großen historischen Rollen unumstritten. Vielmehr provozierte er wiederholt erbitterte Gegnerschaft und spaltete das Land in Gaullisten und Anti-Gaullisten. Die Befürworter der Kollaboration mit Nazi-Deutschland verunglimpften ihn als Vaterlandsverräter, während die kommunistische Partei in ihm einen autoritären Militär sah, dem sie nicht die Vorherrschaft über die Résistance überlassen wollte. Nach der Befreiung stritt man sich heftig darüber, wem die Erinnerung an die Widerstandszeit gehörte: De Gaulle pochte auf den Gründungsakt des 18. Juni 1940, während die Kommunisten sich zur "Partei der 75.000 Erschossenen" stilisierten.
Als der General begann, die IV. Republik heftig zu bekämpfen, erblickten viele Kritiker in ihm den Anwärter auf eine Diktatur, der einen ungehemmten Kult um seine eigene Person betrieb. Gegner wie François Mitterrand bezeichneten seine Verfassungspraxis nach 1958 als "permanenten Staatsstreich", da er die Vollmachten des Staatspräsidenten ständig überschritt. Befürworter des europäischen Integrationsprozesses Europapolitik konnten sich nicht mit seiner Außenpolitik anfreunden, die Frankreichs "grandeur" stark betonte, die Eigenständigkeit und Souveränität des Landes. Und die ca. 1,4 Millionen Algerienfranzosen standen zwar zunächst auf seiner Seite, als er ihnen 1958 zurief: "Ich habe Euch verstanden", da sie glaubten, er wolle Algeriens Zugehörigkeit zu Frankreich bewahren. Die Zustimmung schlug allerdings in Ablehnung und Hass um, nachdem er den Weg zur Unabhängigkeit Algeriens geebnet hatte. 1962 entging de Gaulle nur knapp einem Attentat der OAS, einer Terrororganisation von Algerienfranzosen.
Was bleibt im heutigen Frankreich von de Gaulle? Hier ist zunächst die wesentlich auf ihn zurückgehende Verfassung der V. Republik zu nennen. Sie ist in den letzten 40 Jahren freilich mehrfach verändert worden (so wurde etwa die Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre reduziert) und seine Nachfolger praktizierten sie anders als der General, wenn sie etwa (wie François Mitterrand und Jacques Chirac) mit einem Premierminister der Oppositionspartei zusammenarbeiteten. Doch werden die Grundprinzipien der Verfassung der V. Republik heute kaum angefochten, wie etwa die herausgehobene Stellung des Staatspräsidenten und die vergleichsweise schwache Rolle der Legislative. Die Mehrzahl der Bürger erblickt in ihr eine stabile Ordnung, welche die gegenläufigen Traditionen der französischen Geschichte miteinander versöhnt und eine Synthese zwischen Republik und starkem Staat gewährleistet.
Ende des Gaullismus als politische Bewegung
Eine politische Bewegung, die sich auf de Gaulle beruft, gibt es allerdings nicht mehr. Über drei Jahrzehnte hinweg waren die Gaullisten, die Anhänger de Gaulles, die bestimmende Strömung des bürgerlichen Lagers. Was den Wesenskern des Gaullismus als politische Bewegung ausmachte, wurde indes nie geklärt: De Gaulle hatte sich stets geweigert, in dem für die französische politische Kultur so kennzeichnenden Rechts-Links-Schema eindeutig Stellung zu beziehen: Er trete für Frankreich ein, nicht für eine politische Strömung. Auch vermied er es konsequent, den Gaullismus als eine Partei zu beschreiben. Vielmehr stand dieser gemäß seiner Selbstdarstellung über den Parteien und sollte Franzosen jeglicher Herkunft sammeln. Vor diesem Hintergrund konnte de Gaulle auch einst linke Intellektuelle wie André Malraux für sich gewinnen, die in ihm einen entschlossenen Verteidiger der menschlichen Freiheit und ein Bollwerk gegen den Totalitarismus erblickten. Von Malraux stammt der berühmte Satz: "Jeder Franzosen war, ist oder wird einmal Gaullist sein". Damit meinte er, dass alle Bürger zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens sich in den politischen Grundwerten de Gaulles wiedererkennen würden.
Nach de Gaulles Tod wurde der Gaullismus immer mehr zu einer Partei des rechten Flügels. Er verlor seine noch in den 60er Jahren viele soziale Milieus umfassende Integrationskraft und büßte seine politische Vorherrschaft ein. 1974 wurde mit Valéry Giscard d’Estaing zum ersten Mal ein Nicht-Gaullist aus dem bürgerlichen Lager zum Präsidenten gewählt; 1981 folgte der erbitterte Anti-Gaullist François Mitterrand. Erst 1995 gelang es mit Jacques Chirac wieder einem Gaullisten die Präsidentschaft zu erringen, doch verlor er 1997 die Parlamentswahlen und musste über fünf Jahre einem Sozialisten die innenpolitische Gestaltungsmacht überlassen. In Folge der Präsidentschaftswahl 2002 vereinigten sich die verschiedenen Strömungen der bürgerlichen Rechten zu einer Einheitspartei unter dem Namen "Union pour un mouvement populaire (UMP)". Damit endete vorläufig die Geschichte des Gaullismus als politische Bewegung. Nicolas Sarkozy unterließ es weitgehend, sich in die Tradition de Gaulles einzureihen und sich als Sachwalter seines Erbes zu inszenieren.
Für die heutige politische Kultur Frankreichs hat de Gaulle nur noch wenige Botschaften zu vermitteln: Teils sind seine politischen Ziele eingelöst (wie etwa die Präsidialverfassung), teils haben sie an Relevanz verloren: Sein nationalistischer Grundzug und sein Beharren auf Souveränität und Eigenständigkeit wirken in einem Zeitalter wachsender globaler Interdependenz und europäischer Integration antiquiert. Sein einst sehr verbreitetes Geschichtsbild, das die Kollaboration mit Nazi-Deutschland aus der französischen Geschichte ausblenden wollte, ist mittlerweile abgelöst: Frankreich hat viele Tabus gebrochen und sich rückhaltlos seiner Verwicklung in die nationalsozialistischen Massenverbrechen gestellt. Es bleibt der Mythos um eine außergewöhnliche politische Figur des 20. Jahrhunderts, die seinem Land den Weg in die Moderne weisen wollte und die Zusammenarbeit mit der schlimmsten Diktatur dieser Epoche verweigerte.