Frankreichs Bevölkerung wächst. Im Jahr 2011 stieg die Einwohnerzahl des Landes um rund 330.000 von 63,1 Millionen auf 63,5 Millionen Menschen. Nach aktuellen Berechnungen dürfte die Bevölkerung bis Mitte des Jahrhunderts um weitere knapp neun Millionen Menschen auf dann 72,3 Millionen Einwohner wachsen. Bevölkerungswachstum, und noch dazu ein derart hohes, ist im Europa des 21. Jahrhunderts eher unüblich. Denn in den meisten Ländern des Kontinents bekommen Frauen im Mittel deutlich weniger als zwei Kinder, wodurch jede neue Generation ihre Elterngeneration nur zum Teil ersetzen kann.
Nicht so in Frankreich: Hier bekamen Frauen im Jahr 2011 im Mittel exakt zwei Kinder. Frankreich verfügte damit nach Island und Irland über den europaweit dritthöchsten Wert. 793.000 neugeborenen Kindern standen im selben Jahr lediglich 540.000 Todesfälle gegenüber. Der sogenannte natürliche Bevölkerungssaldo, also die Differenz zwischen Geburten und Todesfällen, lag mit 253.000 Menschen deutlich im Positiven. Zum Vergleich: In Deutschland standen 663.000 Geburten im gleichen Zeitraum 852.000 Sterbefälle gegenüber. Doch Frankreichs Bevölkerung wächst nicht nur aufgrund von Geburtenüberschüssen – auch durch Zuwanderung gewinnt das Land Jahr für Jahr neue Einwohner. Im Jahr 2011 verzeichnete Frankreich einen Wanderungsüberschuss von 77.000 Personen. Zuwanderer machen also nur knapp ein Viertel des Bevölkerungswachstums aus. Zum Vergleich: In Deutschland ist die Bevölkerung zwischen 1972 und 2002 allein deswegen gewachsen, weil immer neue Einwohner aus dem Ausland den natürlichen Verlust durch mehr Todesfälle als Geburten kompensieren konnten.
Starke Familienförderung – häufig zu Lasten der Mütter
Warum aber verzeichnet Frankreich noch immer eine Geburtenrate, die sicherstellt, dass die Bevölkerung weiter wächst? Ein Blick auf die Geschichte des Landes gibt Hinweise. Denn paradoxerweise lagen die Kinderzahlen in Frankreich bis zum Zweiten Weltkrieg deutlich niedriger als in Deutschland. Aus Furcht vor dem wachsenden Nachbarn erlangte das Thema aktive Familienpolitik dort sehr viel früher eine besondere Bedeutung als etwa in Deutschland. Vor allem aber führte die Regierung nach Ende des Krieges die Förderung von Familien fort. Auch deswegen war der sogenannte Babyboom der 1950er und 1960er Jahre dort im internationalen Vergleich besonders ausgeprägt. Im Spitzenjahr 1964 konnten Frauen in Frankreich im Laufe ihres Lebens fast drei Kinder erwarten.
Fußte die französische Familienpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst noch auf dem traditionellen Familienmodell des arbeitenden Ehemanns und der Hausfrau, die sich zu Hause um den Nachwuchs kümmert, bemühte sie sich schon ab den 1970er Jahren darum, vermehrt auch Frauen am Erwerbsleben teilhaben zu lassen. Um dies zu erreichen, schuf sie öffentliche Betreuungsmöglichkeiten schon für unter Dreijährige, die sogenannten crèches (Krippen). Sie bestehen noch heute, und wer sein Kind nicht in einer Krippe unterbringt, nimmt häufig die Leistungen einer der staatlich ausgebildeten Kinderfrauen in Anspruch. Dies hat zur Folge, dass ein vergleichsweise hoher Prozentsatz von Müttern erwerbstätig ist, nämlich über 70 Prozent aller Frauen mit einem oder zwei Kindern. Die Möglichkeit, Berufsleben und Familie unter einen Hut zu bringen, führt in Frankreich auch dazu, dass vergleichsweise wenige Frauen überhaupt keine Kinder bekommen.
Doch nicht alles ist rosig, was auf den ersten Blick positiv erscheint. Denn Frauen in Frankreich erhalten im Haushalt noch immer vergleichsweise wenig Unterstützung von ihren Männern und sind daher häufig einer Doppelbelastung ausgesetzt. Dies wird dadurch verstärkt, dass die Angebote an Teilzeitarbeit begrenzt sind. Wie weit Frankreich bei der Geschlechtergleichstellung etwa gegenüber skandinavischen Ländern und auch Deutschland zurückliegt, verdeutlicht der geringe Prozentsatz von 2,5 Prozent der Väter, die Erziehungsurlaub nehmen. In Deutschland sind es derzeit 27 Prozent und in Schweden nehmen gar zwei Drittel aller Väter eine mehrmonatige Auszeit vom Berufsleben.
Der in vielen Ländern hohe Anteil an Vätern, die für ihre Kinder zu Hause bleiben, ist eine Folge gezielter von der Politik gesetzter Anreize, die die Höhe, Länge und teilweise die generelle Auszahlung des Elterngeldes an die Teilnahme von Vätern knüpfen. In Frankreich geschieht dies bislang nicht und darüber hinaus ist die Elternzeit mit drei Jahren sehr lang bemessen. Dies erschwert den Wiedereinstieg in den Beruf. Um mehr Väter dazu zu bewegen, ihre Frauen im Haushalt zu unterstützen, wäre es auch notwendig, die Höhe des Elterngeldes anzupassen, um die Verdienstausfälle für die noch immer meist besser verdienenden Männer zu begrenzen. In Frankreich erhalten Familien derzeit einen monatlichen Festbetrag, der sich an der Zahl der Kinder orientiert, nicht aber am Einkommen. In Deutschland wird dagegen der vorherige Lohn zu zwei Dritteln, in Norwegen gar gänzlich erstattet – allerdings gibt es auch hierbei Höchstgrenzen.
Trotz der öffentlichen Betreuungsmöglichkeiten erziehen vor allem einkommensschwache Familien ihre Kinder häufig zu Hause. Gerade sie könnten aber besonders von frühkindlicher Förderung in Krippen profitieren. Verbesserungsbedarf bei der Versorgung mit öffentlichen Betreuungseinrichtungen gibt es zudem generell in ländlichen Regionen. Dies hängt auch damit zusammen, dass der Beruf der Tagesmutter an Renommee verliert, da sich vielen Frauen heutzutage auch finanziell interessantere Beschäftigungsmöglichkeiten bieten.
Herausforderung Alterung
Wie in allen Industriestaaten altert auch die Bevölkerung Frankreichs im Durchschnitt. Dies liegt einerseits an der steigenden Lebenserwartung, andererseits und vor allem aber daran, dass auch in Frankreich die Kinderzahlen im Vergleich zum Baby-Boom der Nachkriegszeit gesunken sind. Die älteren Altersgruppen sind also stärker besetzt als die nachkommenden jüngeren. Da diese sogenannten Baby-Boomer in den nächsten zwei Jahrzehnten das Rentenalter erreichen, wird der Anteil der zu versorgenden Ruheständler im Vergleich zur erwerbstätigen Bevölkerung steigen. Dies zieht Kosten nach sich, die in Frankreich besonders hoch ausfallen, da das offizielle Renteneintrittsalter mit 60 Jahren weiterhin sehr niedrig liegt. Nach aktuellen Vorausberechnungen dürften die ab 60-jährigen im Jahr 2050 etwa 32 Prozent aller Einwohner stellen – derzeit sind es lediglich 22 Prozent.
Und die Kosten werden nicht nur im Rentensystem steigen – auch in der Krankenversicherung wird sich bemerkbar machen, dass die über 74-jährigen die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe stellen. Ihre Zahl wird sich bis 2050 auf dann 10,9 Millionen Menschen verdoppeln. Schon heute sind die französischen Sozialkassen defizitär. Und die demografische Entwicklung wird dieses Problem weiter befeuern. Ob eine höhere Produktivität den Wohlstand des Landes steigern und Mittel für die Versorgung der Älteren zur Verfügung stellen kann, bleibt fraglich. Denn die französische Wirtschaft befindet sich in einer strukturellen Krise, die sich unter anderem durch die jüngste Herabstufung der Kreditwürdigkeit manifestiert.
Die wirtschaftliche Lage ist auch deswegen besorgniserregend, da das Bevölkerungswachstum in Frankreich in Zukunft immer stärker von Zuwanderung abhängen wird. Denn im Moment gibt es wegen der extrem hohen Kinderzahlen der Vergangenheit noch sehr viele junge Frauen und damit potenzielle Mütter. Mit der Alterung der Gesellschaft wird aber auch ihre Zahl zurückgehen. Eine effektive Zuwanderungspolitik sollte einerseits daher gezielt gut qualifizierte Fachkräfte ins Land bringen. Gerade in diesem Bereich hat Frankreich allerdings Nachholbedarf. Denn selbst die einheimischen Fachkräfte verlassen häufig das Land. So verzeichnete kein Land der "alten“ EU-Mitgliedsstaaten im Zeitraum von 1999 bis 2006 höhere Verluste an Hochqualifizierten durch inner-europäische Wanderungen als Frankreich.
Nicht alle Regionen Frankreichs stehen vor den gleichen demografischen Herausforderungen. So wächst die Bevölkerung gerade im Norden durch Geburtenüberschüsse, da hier viele junge Menschen im Familiengründungsalter wohnen. Im Süden dagegen, vor allem im Landesinneren, sterben aufgrund der fortgeschrittenen Alterung der Bevölkerung vielerorts mehr Menschen als geboren werden. Hier wächst die Bevölkerung dafür durch Zuwanderung, während viele Gegenden im Nordosten mehr Abwanderung als Zuwanderung verzeichnen. Mit der fortschreitenden Alterung der Bevölkerung auch im Norden, dürften gerade die strukturschwachen Regionen in Lothringen, dem Burgund und der Auvergne in Zukunft schrumpfende Bevölkerungen aufweisen. Im Verbund mit der ohnehin dünnen Besiedlung vieler Landstriche wird dies dazu führen, dass auch Frankreich sich Wege überlegen muss, um in ländlichen Gebieten die Versorgung der Bevölkerung mit sozialen Dienstleistungen aufrecht zu erhalten.