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Mythos Mao | China | bpb.de

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Mythos Mao

Gregor Delvaux de Fenffe

/ 12 Minuten zu lesen

Bis zum heutigen Tag wird Mao Zedong in China wie ein Heiliger verehrt. Doch seine Herrschaft von 1949 bis 1973 war gekennzeichnet durch Rechtlosigkeit, Terror und totalitäre Gewalt. Der "Große Steuermann", der den "Großen Sprung" wagte und die Kulturrevolution ausrief, brachte das Reich der Mitte an den Rand des Abgrunds.

Mao Zedong, Begründer der Volksrepublik China, gleichzeitig ihr "großer Vorsitzender". Bis zum heutigen Tag wird Mao in China wie ein Heiliger verehrt. (© AP)

Von 1949 bis 1973 war Mao Zedong, Begründer der Volksrepublik China, gleichzeitig ihr "großer Vorsitzender". Bis zum heutigen Tag wird Mao in China wie ein Heiliger verehrt. Doch Maos Herrschaft war gekennzeichnet durch Rechtlosigkeit, Terror und totalitäre Gewalt. Der "Große Steuermann" brachte das Reich der Mitte an den Rand des Abgrunds.

Auf Jahrzehnte hinaus traumatisierte Mao das chinesische Volk und hemmte seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entfaltung. Nach wie vor wird Mao als mythischer Heilsbringer verklärt, der China einte und in die Moderne führte. Doch Mao steht in einer Reihe mit den großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts Stalin und Hitler. Unbestreitbar hat Mao Chinas Antlitz entscheidend geprägt und – wie niemand neben ihm – die chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts gestaltet.

Vom Bauer zum Berufsrevolutionär

Mao Zedong kommt 1893 in der zentralchinesischen Provinz Hunan zur Welt, seine Eltern sind Bauern, die es zu einem bescheidenen Auskommen gebracht haben. Mao wächst zu einer Zeit auf, in der Chinas Selbstverständnis vom kulturellen und politischen Zentrum der Welt, dem "Reich der Mitte", nachhaltig zerstört ist. Die inneren Zerfallserscheinungen machten den "kranken Mann am gelben Meer" zum willfährigen Spielball ausländischer Interessen. Das Deutsche Reich, Italien, die USA, vor allem aber Japan beuten China aus, ohnmächtig muss die chinesische Bevölkerung den invasiven Machtanspruch fremder Völker erdulden.

Mao entkommt den beengenden Verhältnissen seines Heimatdorfes und arbeitet nach seiner Ausbildung zum Volksschullehrer als Hilfsbibliothekar an der Universität Peking, wo er Kontakt zu kommunistischen Studentenzirkeln aufnimmt. Von der Zerrissenheit seines Landes und der Machtlosigkeit seines Volkes tief empört, sinnt Mao wie viele seiner intellektuellen Landsleute auf Wege zur Befreiung Chinas von der Fremdherrschaft und zur nationalstaatlichen Einigung des Landes. Beeindruckt von den kommunistischen Umbrüchen der russischen Oktoberrevolution, wo eine kleine Gruppe überzeugter Politiker und Berufsrevolutionäre mit großer Entschlossenheit die Macht über ein riesiges Reich übernimmt, drängt Mao darauf, dem sowjetischen Beispiel zu folgen. Prägend ist für Mao die "Bewegung des 4. Mai" (1919), als die studentische Jugend in Peking gegen die japanischen Invasoren rebelliert und zum bewaffneten Widerstand aufruft. Mao wird Berufsrevolutionär. An der Gründung der Kommunistischen Partei (KP) Chinas 1921 in Schanghai hat Mao keinen entscheidenden Anteil, er wird aber 1923 in das Zentrale Exekutivkomitee der Partei gewählt.

Bürgerkrieg in China

1927 kommt es zum Bruch des fragilen Bündnisses zwischen den Kommunisten und der damals führenden Guomindang-Partei (Nationalchinesische Volkspartei). Die Folge ist ein blutiger Bürgerkrieg. Der Vorsitzende der Guomindang, Chiang Kaishek, bekämpft die Kommunisten mit eiserner Faust, Tausende von ihnen werden verfolgt und liquidiert. Der Bürgerkrieg zwischen den verfeindeten Lagern hinterlässt bei Mao tiefe Spuren und wird sein Verhältnis zur Gewalt maßgeblich bestimmen; Massenhinrichtungen, Massaker, rebellierende Bauern und marodierende Soldatenbanden – die Wirren des Bürgerkrieges legen den Grundstein für den später systematisch angewandten revolutionären Terror unter seiner Herrschaft. Mao entkommt der grausamen Hetzjagd auf die Kommunisten und findet zusammen mit versprengten kommunistischen Parteikadern Unterschlupf in einer abgelegenen Bergregion der zentralchinesischen Jiangxi-Provinz, die zum Sowjetgebiet erklärt wird. Mit äußerster Brutalität arbeitet Mao ebenso systematisch wie planvoll in dieser ersten aus dem Boden gestampften kommunistischen Mikrogesellschaft auf seine Vorherrschaft hin. Doch die Kommunisten müssen bald nach verlustreichen Scharmützeln der ständig vorrückenden, vielfachen Übermacht der Guomindang-Truppen weichen.

Der "lange Marsch"

Diese panische Flucht vor den Schergen Chiang Kaisheks wird Mao später zum legendären "Langen Marsch" (1934/35) verklären und zum Gründungsmythos der chinesischen Revolution erheben. Die strapaziöse, äußerst verlustreiche Wanderbewegung der Kommunisten erstreckt sich über eine Länge von 12.000 Kilometern. Von ursprünglich 100.000 bis 120.000 Kommunisten, die sich auf den Weg machen, überleben nur etwa 8.000 bis 10.000 Menschen die Entbehrungen des ungeordneten Fluchtmanövers. Es ist der "Lange Marsch", der Mao schließlich nach erbitterten Grabenkämpfen zwischen den moskautreuen Kommunisten und dem chinesischen Flügel, dem er vorsteht, den Weg nach ganz oben ebnet: Mit 41 Jahren avanciert Mao zur Nummer Eins in der KP Chinas.

Maos Gefolgsleute lassen sich in der Stadt Yan'an am Yanhe-Fluss nieder. Hier graben sich die Überlebenden der Odyssee im Lössbergland Höhlen auf primitivstem Niveau. Mao regiert die kommunistische Kolonie mit unerbittlicher Härte, degradiert seine Gefolgsleute zu willfährigen Erfüllungsgehilfen. Wer nicht Folge leistet, wird schikaniert, "umerzogen" oder liquidiert. Aus den anfänglichen kommunistischen Idealisten formt Mao ein kleines Heer ideologisch gleichgeschalteter, einzig auf seine Person ausgerichteter Vasallen. Durch eine taktische Politik der Annäherung gewinnt Mao zusehends die bäuerliche Bevölkerung der Umgebung für sich. 1937 erreicht der Zweite Weltkrieg China.

Mao Zedong spricht zu Anhänger, 1939. (© Public Domain)

Der japanisch-chinesische Krieg erzwingt einen Burgfrieden zwischen den Truppen von Chiang Kaishek und denjenigen von Mao. Der massive Anbau von Opium und schwunghafte Handel mit Rauschgift sowie die ständige finanzielle Unterstützung durch Moskau sichern Mao den kontinuierlichen Aufbau der Roten Armee. Als 1945 nach der Kapitulation Japans der Bürgerkrieg zwischen der KP Chinas und der Guomindang-Partei mit unverminderter Härte fortgesetzt wird, erfährt Mao anfänglich eine breite Unterstützung durch die ländliche Bevölkerung. Bauern, die Maos Anhängern ihre Unterstützung verweigern, werden durch Terroraktionen der kommunistischen Kader eingeschüchtert. Die bei der einfachen Landbevölkerung zusehends verhassten, korrupten Einheiten der Guomindang werden von den rotchinesischen Truppen systematisch zurückgedrängt, Chiang Kaishek flieht mit seinen Anhängern auf die Insel Taiwan.

China wird Volksrepublik

Maos Alleinherrschaft über China steht nun nichts mehr im Weg. Seit 1945 führt Mao offiziell den Vorsitz im Zentralkommitee und im Politbüro der KP Chinas. Am 1. Oktober 1949 proklamiert er in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Volksrepublik (VR) China. Mao übernimmt den Vorsitz im Revolutionären Militärrat und im Zentralen Volksregierungsrat. 1954 wird er Staatsoberhaupt der VR China. Doch das "Reich der Mitte" liegt wirtschaftlich am Boden. Krieg und Bürgerkrieg haben tiefe Wunden hinterlassen. Ströme von Flüchtlingen und Vertriebenen durchqueren das Land. Die ohnehin marginale Infrastruktur ist zerstört. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 54 US-Dollar zählt China zu den ärmsten Ländern der Erde. 70 Prozent der Bevölkerung sind besitzlose Bauern, Tagelöhner und Wanderarbeiter. Die beginnende kommunistische Diktatur erwirtschaftet anfangs sogar zarte Erfolge. Das Bruttosozialprodukt erreicht Vorkriegsniveau, die Inflation wird eingedämmt.

In den Jahren 1949 bis 1952 startet die kommunistische Führung die radikale "Bodenreform". Kleine und große Landbesitzer werden systematisch enteignet, das Land an arme oder noch ärmere Bauern verteilt. Die wenigen industriellen Großbetriebe des Landes, zumeist im Besitz ausländischer Investoren, werden zwangsverstaatlicht. Noch zu Bürgerkriegszeiten erlaubten und förderten Maos Kader die gewaltsame Aneignung des Bodens durch die Besitzlosen. Jetzt fordert die kommunistische Partei die Bauern auf, sich flächendeckend gewaltsam Land anzueignen und an denjenigen, die Land bisher besaßen, Rache und Vergeltung zu üben. Mao versteht es, durch die brachiale Umsetzung der Bodenreform, den Volkszorn gezielt zu entfesseln, zu kanalisieren und zu instrumentalisieren. Eine Welle der Gewalt ergießt sich über China. Überall im Land kommt es zu improvisierten Schauprozessen und hysterischen Übergriffen. Auf Dorfversammlungen werden Menschen zu Hunderttausenden in aller Öffentlichkeit vorgeführt, gefoltert, getötet. Bis zu fünf Millionen Menschen fallen so den Hetzkampagnen zum Opfer.

Der chinesische Weg

Bereits 1927 hatte Mao verkündet, dass sich in China der Kommunismus auf das Bauerntum stützen müsse. Im zunehmend offenen Gegensatz zum "Großen Bruder UdSSR" formuliert Mao Zedong einen eigenen, den "chinesischen Weg" der Revolution: Nicht das Proletariat, die Bauern, stellen die revolutionäre Massen. Mao erzwingt den "chinesischen Weg" mit Maßnahmen, die unerbittlich ins Leben der ländlichen Bevölkerung Chinas eingreifen und welche die seit Generationen gewachsenen Gebräuche und die Arbeitskultur zerstören. Besitzverhältnisse und jahrhundertelang gewachsene Gesellschaftsstrukturen der traditionell familiär ausgerichteten Landbevölkerung werden rücksichtslos zerschlagen, die Bauern zwangskollektiviert und zu großen genossenschaftlichen Großverbänden zusammengefasst. Die Menschen verlieren jegliches Recht auf Selbstbestimmung und Selbstorganisation. Von 1953 bis 1957 etabliert die chinesische Führung den ersten Fünfjahresplan. Nach sowjetischem Vorbild soll durch die landesweite Entfesselung der Arbeitskräfte eine chinesische Schwerindustrie auf Kosten der Landwirtschaft aus dem Boden gestampft werden. Dagegen steht die rapide anwachsende chinesische Bevölkerung, die eine Steigerung landwirtschaftlicher Erzeugnisse dringend notwendig macht. Doch für Mao sind realpolitische und ökonomische Sachzwänge zweitrangig. Für ihn steht einzig die ständige Revolutionierung des Bewusstseins im Vordergrund, die Erziehung zum "Neuen Menschen" auf dem Weg zur "klassenlosen Gesellschaft".

"Lasst hundert Blumen blühen"

"Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern" – so lautet die Kampagne, die Mao 1956 ins Leben ruft. Mao ist auf dem Gipfel seiner Macht. Selbstgefällig verkennt er die Stimmung im Volk. Sieben Jahre nach seiner Machtübernahme lädt er das chinesische Volk zur konstruktiven Kritik am System, an der Partei, an der politischen Führung ein. Mao will Chinas Intelligenz mit der Aussicht auf mehr Freiheit aus der Reserve locken, um sie besser in den kommunistischen Apparat einzubinden und für den Aufbau des Landes zu gewinnen. Mao ist überzeugt, in der Bevölkerung großen Rückhalt zu finden. Anfangs wird Kritik nur verhalten geäußert. Doch bald kommt eine Bewegung ins Rollen, die den Kommunisten gefährlich wird. China revoltiert gegen die Repressalien der Einparteiendiktatur, rechnet mit Maos Unterdrückungsstaat ab. Die Menschen fordern die Beseitigung der kommunistischen Diktatur und gehen für Reformen, Presse-, Rede- und politische Freiheit auf die Straße. 1957 schlägt die KP Chinas zurück. Aus der Hundert-Blumen-Kampagne wird eine Kampagne gegen die Abweichler. Kritiker, die sich mit ihrer Systemkritik zu weit vorgewagt haben, werden systematisch psychisch gebrochen und mundtot gemacht. Rigoros werden Menschen verhaftet, gefoltert, hingerichtet; Willkürlich ordnet Mao die Festnahme von zehn Prozent der chinesischen Intellektuellen an. Viele Hunderttausende werden deportiert, in Umerziehungslagern interniert oder liquidiert.

"Der Große Sprung nach vorne"

Der Name der Kampagne "Großer Sprung nach vorne", die von Mao Ende der Fünfzigerjahre proklamiert wurde, geht auf die Lehren Georg Friedrich Hegels zurück, welche die Entwicklung einer Gesellschaft als eine Abfolge von "qualitativen Sprüngen" ansah. Moderate Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft verleiteten Mao dazu, die Losung einer ruckartig zu bewerkstelligenden Umstellung von einer agrarisch geprägten zu einer industriellen Gesellschaft zu "verordnen".

China sollte aus seiner ländlichen Rückständigkeit gerissen und als wirtschaftliche Großmacht etabliert werden – es galt, "in 15 Jahren Großbritannien einzuholen oder zu überholen". Mao ruft das Land auf, in einer konzertierten, kollektiven Aktion auf jedem Bauernhof, in jedem Hinterhof unter Heranziehung selbst primitivster Arbeitsmittel Hochöfen zu errichten und Stahl zu produzieren. Doch Maos Kampagne mündet in einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Statt ihre Felder zu bewirtschaften und die dringend benötigten Ernten einzufahren, produzieren die Bauern nach Maos unerbittlicher Vorgabe auf selbstgebauten Stahlkochern nur minderwertiges Eisen. Das Massenexperiment scheitert, die Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage. Landesweit wurden selbst die unentbehrlichsten landwirtschaftlichen Werkzeuge eingeschmolzen. Die Folge der vernachlässigten und zerstörten Landwirtschaft sind brachliegende Felder und Missernten. China erleidet in den Jahren von 1960 bis 1962 die größte Hungerkatastrophe der Menschheitsgeschichte. Schätzungsweise 30 bis 40 Millionen Chinesinnen und Chinesen verlieren ihr Leben.

Durch die verheerenden Folgen des Großen Sprungs hat Mao sich als politischer Führer ins Abseits manövriert. Die Pragmatiker um Deng Xiaoping übernehmen jetzt in der Partei das Ruder und führen China in politisch ruhigere Gewässer.

Die "Große Proletarische Kulturrevolution"

Im Zentralkomitee der KP Chinas sitzen zu Beginn der Sechzigerjahre mehr Mao-Gegner als Befürworter. Von der eigenen Partei zur Randfigur degradiert, verwindet Mao den Machtverlust nicht und sinnt auf Rache. Er plant eine großangelegte Säuberung der Partei, die politische und physische Vernichtung der verhassten, abtrünnigen Kader. Der gemäßigte Konsolidierungskurs der Partei ist ihm zutiefst suspekt. Er fürchtet die schleichende Restauration des von ihm so erbittert bekämpften "bürgerlichen Humanismus" mit seinen Traditionen, Skrupeln und zivilisatorischen Sicherungen. Auf zwei Säulen der chinesischen Gesellschaft kann er sich noch stützen: Mao hat weiterhin den Oberbefehl über die Armee, und er weiß Chinas seit nunmehr zwei Jahrzehnten erfolgreich indoktrinierte Jugend hinter sich.

1966 ist es soweit, als er die "Große Proletarische Kulturrevolution" ausruft. Beinahe harmlos beginnt 1965 Maos Rückkehr an die Macht, als er die chinesische Kultur als "bourgeois und reaktionär" brandmarkt. Doch Mao steigert die anfängliche Kulturkritik zur permanenten Revolution gegen die sogenannten "konservativen", "reaktionären" und "konterrevolutionären" Elemente im Staat, in der Gesellschaft – und im Parteiapparat. Mao verführt Chinas Jugend. Mit einem beispiellosen Personenkult schwört er die jungen Menschen auf seine Führung ein, entfesselt eine fanatische, religiös anmutende, kollektive Hysterie. "Bombardiert das Hauptquartier" ruft er den jungen Chinesen zu. Ein Freibrief für die jungen Erfüllungsgehilfen, ihm blindlings zu folgen, gegen alle öffentlichen und privaten Autoritäten, Zwänge und Institutionen vorzugehen.

Mobilisierung der Roten Garden

1966 bis 1968 herrscht in China wieder Bürgerkrieg. Fanatisiert, im rauschhaften Wahn des kollektiven Exzesses beginnen Studenten und Schüler in den Städten und auf dem Land mit der gnadenlosen Hetzjagd und willkürlichen Lynchjustiz gegen die von Mao gebrandmarkten "konterrevolutionären Elemente" der Gesellschaft. Die allerorten mobilisierten jugendlichen Massen organisieren sich in den sogenannten Roten Garden. Keiner wagt sich Ihnen zu widersetzen, sie stehen unter dem besonderen Schutz des "Großen Vorsitzenden". Ihn zu schützen, ihn zu ehren und ihn zu preisen, schwärmen sie aus. Die Rotgardisten nutzen kostenlos die öffentlichen Verkehrsmittel, reisen im ganzen Land umher, veranstalten Exzesse der Gewalt. Eltern werden von den eigenen Kindern denunziert, Menschen auf offener Straße, in Schulen, Universitäten und Betrieben unter Druck gesetzt, öffentlich gequält, ermordet. Kinder beschimpfen willkürlich Erwachsene als Verräter und Feinde des großen Mao, foltern und erschlagen Eltern, Lehrer, Gelehrte, Wissenschaftler, Dozenten und Intellektuelle. Jeden kann es treffen, jeder kann als "konterrevolutionär" denunziert und "entlarvt" werden. Es reicht ein falsches Wort, eine verdächtige Geste, eine Denunziation. Einmal stigmatisiert, haben die Opfer kaum noch eine Chance, der Lynchjustiz zu entkommen. Militär und Polizei schauen auf Maos strikten Befehl tatenlos zu.

Es herrscht ein Klima der totalen Anarchie. Das Land versinkt im Chaos. Millionen Menschen fallen dem jugendlichen roten Mob zum Opfer. Schließlich bekriegen sich Fraktionen und Splittergruppen der Rotgardisten gegenseitig. Der Kulturbetrieb kommt zum Erliegen. Universitäten und Schulen schließen, Betriebe und Bauernhöfe, ganze Industrien werden lahmgelegt. Mao hat sein Ziel erreicht. Die Woge der marodierenden Massen hat den Parteiapparat zerstört, unliebsame Kader und Kritiker mundtot gemacht. Jede Opposition ist beseitigt. Schließlich schickt Mao die Armee gegen die Rotgardisten aus, die er nun nicht länger benötigt. Die jungen Chinesen werden aufs Land zur Umerziehung geschickt.

Anatomie des maoistischen Terrors

Mao setzte die Mechanismen des Terrors, die das chinesische Volk unfreiwillig und freiwillig bediente, gezielt für seinen Machterhalt ein. In den drei Dekaden der maoistischen Herrschaft denunzierten sich die Menschen auf Maos ausdrückliche Weisung in immer neuen von oben verordneten Kampagnen gegenseitig, bezichtigten einander konterrevolutionärer Vergehen, ergingen sich in Gewalt- und Mordexzessen. Anders als in den ausgeklügelten Mechaniken totalitären Terrors der Diktaturen unter Stalin oder Hitler, die über einen eigenen, mitunter streng hierarchisch strukturierten Terrorapparat verfügten, band Mao die eigene Bevölkerung von Anfang an in das System des sich selbst erhaltenden Terrors ein.

Mao machte die eigene Bevölkerung zu Opfern und zu Tätern – oft zu beiden gleichzeitig. Die zentralen Motive des "Mitmachens" waren Angst und permanenter Druck, Mitläufertum und Opportunismus, Ehrgeiz, schließlich Überzeugung und Fanatismus. Für Mao war der Terror das zentrale Instrument, das ihm die Erhaltung uneingeschränkter Macht garantierte. Mao hatte zum Terror, zur Unterdrückung, zur politischen Verfolgung und zur Tötung ein ganz bewusstes Verhältnis. Er war es, der vorgab, den Willen der Massen zu erkennen und zu vertreten. Er, der "Große Steuermann", war es, der entschied, was die Massen denken, fühlen, wollen und wie sie handeln sollten. Wer nach Maos Lesart vom sogenannten "Willen der Massen" abwich, der wurde von ebenjenen Massen aussortiert, stigmatisiert oder liquidiert. Absoluter Staatskonformismus, bedingungslose Gefolgschaft, Unterdrückung der eigenen Entfaltung, permanente Indoktrination durch Staatspropaganda, Unterbindung jeglicher Privatsphäre, Herabwürdigung menschlichen Lebens und ein beispielloser Personenkult sind die programmatischen Leitlinien der maoistischen Diktatur.

Mao Zedong – ein chinesisches Tabu

Bis zu Maos Tod 1976 herrschte in China die bleierne Zeit wirtschaftlicher, politischer und kultureller Stagnation. Auf Jahrzehnte hinaus hatte Mao Zedong China das Rückgrat gebrochen, ein Volk, in dem Opfer und Täter der maoistischen Kampagnen bis heute gezwungen sind, nebeneinander her zu leben. Rehabilitierungen gab es nur wenige, kaum jemand wurde für begangene Verbrechen zur Verantwortung gezogen, Opfer wurden nicht entschädigt. Eine Aufarbeitung der tragischen Exzesse der Kulturrevolution hat bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht stattgefunden. Bis heute unterliegt in China die Deutungshoheit über Mao Zedong und die chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts allein der KP Chinas. Anders als die anderen großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts wurde Mao in seinem Land bisher nicht vom Thron gestoßen. Immer noch wird ihm kultische Huldigung zuteil. Eine historisch-kritische Hinterfragung und Aufarbeitung der maoistischen Terrorherrschaft ist in der VR China bis zum heutigen Tag tabu und wird von der Partei unterbunden.

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Gregor Delvaux de Fenffe, Studium der Geschichte und Romanistik in Konstanz und Florenz. Er ist freier Publizist, Autor für Rundfunk und Fernsehen mit Schwerpunkt Geschichte. TV-Arbeiten u.a. für "planet wissen" (WDR/ SWR). Preisträger des Grimme Online Awards 2004 für SWR-Projekt "Stauffenberg – Der Film". Jüngste Publikationen (TV): RAF – Deutschland im Fadenkreuz; Die 20er Jahre.