Vorbemerkung: Das Wort "Rassenbeziehungen" ist eine direkte Übersetzung des im Englischen üblichen Ausdrucks "race relations". "Rasse" wird in diesem Artikel als Übersetzung des Begriffes "race" verstanden und nicht als der im deutschen Sprachgebrauch aus historischen Gründen negativ konnotierte Begriff.
"Barack Obama Fulfilling Dr. King´s Dream" stand groß auf einem Plakat, das ein begeisterter Teilnehmer am Parteitag 2008 der Demokraten in Denver hochhielt, wo Obama – nicht zufällig genau am 45sten Jahrestag der berühmten "I Have a Dream"-Rede vom 28. August 1963 – seine offizielle Nominierung zum Präsidentschaftskandidat akzeptierte.
Der Sohn eines nigerianischen Gaststudenten und einer weißen Amerikanerin, der sich selbst aus einfachen Verhältnissen hocharbeitete und jahrelang als "community organizer" im schwarzen Ghetto von Chicago arbeitete, ist der erste Afroamerikaner in der Geschichte der USA, der eine reale Chance auf das höchste politische Amt der Nation hat. Allein diese Tatsache ist sicher ein historisch bedeutender Fortschritt. Aber wie weit ist Amerika tatsächlich auf dem Weg der Rassengleichberechtigung gekommen, von der King in den 1960er Jahren träumte? Der folgende kurze Überblick soll hierzu einige Antworten geben.
Von der Sklaverei zur politischen Partizipation
Nach rund 250 Jahren der Sklaverei und einem weiteren Jahrhundert der Rassentrennung und Diskriminierung konnte die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jahren endlich entscheidende Erfolge im Kampf um die soziale und politische Gleichberechtigung in Amerika erringen. Der erste wichtige Schritt war die Brown v. Board of Education-Entscheidung von 1954, mit welcher der Oberste Gerichtshof der USA die Rassentrennung an öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärte. Eine Dekade später folgten die beiden großen Bürgerrechtsgesetze, der Civil Rights Act (CRA) von 1964 und der Voting Rights Act (VRA) von 1965, deren Verabschiedung nicht zuletzt aufgrund der von King und anderen Aktivisten organisierten Proteste erfolgte. Der CRA hob die bis dahin legale Rassentrennung auf und verbot die Diskriminierung von Schwarzen (sowie anderer Minderheiten und Frauen) in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, in Regierungsprogrammen und auf dem Arbeitsmarkt. Dieses Gesetz stellte ohne Zweifel den bis dahin größten Fortschritt für die Gleichberechtigung schwarzer Amerikaner seit Abschaffung der Sklaverei dar. Allerdings zielte es vor allem auf eine Abschaffung von Diskriminierung im sozialen und im wirtschaftlichen Bereich, weniger auf den Aspekt der politischen Gleichberechtigung, und vielen schwarzen Bürgern im Süden blieb das Stimmrecht verwehrt. Nach einer Reihe weiterer Protestaktionen (vor allem Kings berühmtem Voting Rights March von Selma nach Montgomery, Alabama), wurde schließlich im Sommer 1965 der Voting Rights Act (VRA) verabschiedet, der mit sofortiger Wirkung alle Arten von Wahlsteuern, Tests und Sonderregelungen aufhob, die zur politischen Entmündigung der Schwarzen im Süden beigetragen hatten. Darüber hinaus wurden Inspektoren der US Commission on Civil Rights in die Südstaaten gesandt, um den Wahleinschreibungsprozess dort genau zu überwachen.
Als Folge des VRA verdoppelte sich die Anzahl aktiver schwarzer Wähler in weniger als vier Jahren, und die Zahl der gewählten schwarzen Amtsinhaber in den Südstaaten stieg zwischen 1965 und 1970 von 72 auf 711; heute sind es über 5.000. Gab es im gesamten Bundesgebiet 1965 weniger als 300 schwarze Amtsinhaber, so sind es heute mehr als 9.000. Nicht nur auf lokaler und einzelstaatlicher Ebene, sondern auch auf nationaler Ebene hat die afroamerikanische Repräsentanz seit den 1960er Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht: Im US-Kongress gibt es heute 43 schwarze Abgeordnete (immerhin 8% aller Kongressmitglieder bei einem schwarzen Bevölkerungsanteil von rund 12,5%; zum Vergleich: Die sogenannten Hispanic Americans, die mittlerweile 13% der Bevölkerung ausmachen, verfügen nur über 5% der Sitze im Kongress); zahlreiche amerikanische Großstädte werden von schwarzen Bürgermeistern regiert, und seit März 2008 gibt es erstmals zwei schwarze Gouverneure in den USA (in Massachusetts und New York). Außerdem wurden seit den 1990er Jahren zahlreiche Ministerposten mit Afroamerikanern besetzt, darunter 2000 sogar das mächtige Amt des US-Außenministers, das zunächst von Colin Powell und seit 2005 von Condoleezza Rice ausgeübt wurde.
Dass nun ein Mann mit der Hautfarbe Barack Obamas ein veritabler Kandidat für das Präsidentenamt ist und 70% der an einer Meinungsumfrage teilnehmenden weißen Amerikaner im Juli 2008 meinten, Amerika sei durchaus bereit dazu, einen schwarzen Präsidenten zu wählen (wenn auch nicht unbedingt Obama), scheinen überzeugende Indizien für eine weitgehende Realisierung von Kings Traum der Rassengleichberechtigung zu sein.
Ökonomische und soziale Aufholjagd
Heute gehören fast 40% der Afroamerikaner zu einer wachsenden, erfolgreichen schwarzen Mittelschicht, und während 1960 nur weniger als 3% aller Afroamerikaner einen Hochschulabschluss erreichten, sind es heute rund 18%. Die schwarze Kindersterblichkeitsrate hat sich halbiert. Und während in den 1960er Jahren noch über die Hälfte aller Afroamerikaner unterhalb der Armutsgrenze lebte, ist es heute "nur" noch ein Viertel. Es gibt viele prosperierende schwarze Unternehmen, und die Anzahl der schwarzen Topmanager in anderen Unternehmen ist ebenfalls um über 50% gestiegen. Schwarze Musik-, Medien- und Sport-Superstars erfreuen sich größter Popularität und sind künstlerisch sowie finanziell immens erfolgreich (die Moderatorin Oprah Winfrey verfügt zum Beispiel über ein Jahreseinkommen von 275 Millionen Dollar). Zwar gibt es nach wie vor Fälle von Rassismus in den USA, man denke z.B. an das chronische Problem weißer Polizeibrutalität gegenüber Schwarzen, aber insgesamt gesehen hat sich die Integrationsbereitschaft der amerikanischen Gesellschaft seit den 1960er Jahren enorm gesteigert, und in der jüngeren Generation finden sich kaum noch Anhänger der damals noch weit verbreiteten Ideologie der inhärenten Minderwertigkeit schwarzer Menschen.
Trotz aller Fortschritte – es gibt nach wie vor auch noch gravierende Unterschiede zwischen schwarz und weiß.Im Bildungsbereich ist zum Beispiel die de facto Rassentrennung an Schulen immer noch ein Problem, das seit dem Nachlassen staatlicher Förderungsmaßnahmen zur Integration sogar wieder größer geworden ist. So besuchen heute fast 70% der afroamerikanischen Kinder chronisch unterfinanzierte Schulen, auf denen es keine oder kaum weiße Mitschüler gibt, und die Rate schwarzer Hochschulabsolventen ist trotz der o.g. Fortschritte auch heute nur halb so hoch wie die weißer Amerikaner. Die schwarze Kindersterblichkeitsrate beträgt dagegen das Doppelte der weißen, nicht zuletzt weil über die Hälfte aller Afroamerikaner über keinerlei Krankenversicherung verfügt, und die Lebenserwartung schwarzer Amerikaner liegt zurzeit sechs Jahre unter derjenigen ihrer weißen Mitbürger. Weiter beträgt trotz der insgesamt gestiegenen Verdienstmöglichkeiten für Schwarze das Durchschnittseinkommen einer vierköpfigen schwarzen Familie nur 64% dessen einer gleichgroßen weißen Familie, und der durchschnittliche Gesamtbesitz einer schwarzen Familie macht gerade einmal 25% des Besitzes einer weißen Familie aus. Es gibt deutliche Benachteiligungen schwarzer Amerikaner auf dem Arbeitsmarkt, nicht nur bei der Einstellung, sondern auch bei der Beförderung, Urlaubs- und Pensionsansprüchen, Krankenversicherung usw., und die schwarze Arbeitslosenquote ist seit den 1960er Jahren konstant doppelt so hoch wie die weiße.
Neben anderen Faktoren führt mangelnde Ausbildung zu Arbeitslosigkeit und oft zu Armut, Drogensucht und Kriminalität. Heute befindet sich fast ein Viertel aller schwarzen Männer zwischen 18 und 28 Jahren in Untersuchungshaft und im Gefängnis oder verbüßt eine Bewährungsstrafe. Dies liegt zum einen an der bedauerlich hohen Kriminalitätsrate der schwarzen Jugendlichen, aber auch daran, dass Schwarze sich meist keine guten Anwälte leisten können und dass in den USA auch nicht-gewalttätige Drogendelikte oft mit langen Gefängnisstrafen geahndet werden. Außerdem kann man das amerikanische Justizsystem nicht gerade als "farbenblind" bezeichnen, denn die Hautfarbe von Opfer und Täter spielt immer noch eine nachweisliche Rolle bei Verurteilungen, insbesondere im Süden der USA, wo schwarze Mörder mit einem weißen Opfer viermal so oft zum Tode verurteilt werden wie weiße Mörder mit schwarzen Opfern. Nicht zuletzt infolge der Kombination der o.g. Faktoren liegt der Anteil schwarzer Kinder, die bei nur einem Elternteil aufwachsen, in den USA mittlerweile bei 65%, und über die Hälfte dieser Kinder schwarzer Alleinerziehender lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Status Quo
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Amerika trotz all der genannten Fortschritte zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch von der Erfüllung des Traumes von Martin Luther King entfernt ist, für den soziale Gerechtigkeit ein ebenso großes Anliegen wie die Rassengleichberechtigung war. Das Problem der schwarzen Armut insbesondere der sogenannten "urban underclass" hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend verkompliziert, da seit der gesetzlichen Gleichstellung der Schwarzen der Einfluss der Faktoren "Rasse" und "soziale Klasse" kaum noch voneinander zu trennen sind. Zudem gibt es neben der realen Benachteiligung der schwarzen Ghettojugend mancherorts auch kulturell bedingte Verhaltensmuster, die sehr destruktiv sind, beispielsweise die Geringschätzung guter schulischer Leistungen, die im Gegensatz zu gefährlichen Dealertätigkeiten von den Jugendlichen als "uncool" angesehen werden.
Der Kampf gegen Armut und Hoffnungslosigkeit bleibt in den schwarzen Ghettos zusammen mit dem Kampf gegen Rassismus die größte Herausforderung für alle Bürgerrechtler und Politiker, die sich als Erben von Martin Luther King verstehen. Um in diesem Bereich wirklich nachhaltige Verbesserungen zu erzielen, wären allerdings fundamentale Veränderungen in der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der USA nötig bzw. eine echte "Revolution der Werte", so wie King sie schon 1967 gefordert hatte. Eine solche radikale Neuausrichtung der gesellschaftlichen Prioritätensetzung würde jedoch von der großen Mehrheit der (mehrheitlich weißen) amerikanischen Wähler, die die Nutznießer des gegenwärtigen Systems sind, nicht gebilligt werden. Darum wird keine amerikanische Regierung – egal welcher Präsident ihrer Exekutive vorsteht – in absehbarer Zeit die Durchsetzung solch radikaler Maßnahmen befürworten.
Nichtsdestoweniger ist die Kandidatur Barack Obamas ein enormer Meilenstein auf dem Weg einer Normalisierung der Rassenbeziehungen, denn aufgrund seines persönlichen Hintergrunds verfügt er über ein besonderes Potential, die Frustrationen, Wut und Ängste schwarzer und weißer Amerikaner zu verstehen und für mehr gegenseitiges Verständnis zu werben. In jedem Fall besteht das Vermächtnis von Martin Luther King weiter, die gesellschaftliche Herausforderung, Rassenhass, Diskriminierung, Armut und Krieg ganz zu überwinden – und dies nicht nur in den USA.