21.März 2007. Die chilenische Tageszeitung La Tercera berichtet, die US-Bürgerin Olga Weisfeiler habe sich auf dem Gelände der Colonia Dignidad mit Führern der "Kolonie der Würde" getroffen. Der Grund: Olga Weisfeiler sucht ihren Bruder Boris. Der Mathematikprofessor war durch Chile getrampt und nicht zurückgekehrt. Das war 1985. Das Land litt damals schon zwölf Jahre unter Militärdiktator Augusto Pinochet. 1987 behauptete ein Zeuge, Boris lebend gesehen zu haben - auf dem Gelände eben jener deutschen Enklave 380 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago. Man habe ihn dort wie ein Tier gehalten. Seitdem fehlt von Boris Weisfeiler jede Spur. Auch Untersuchungsrichter Jorge Zepeda, der seit Ende April erneut in dem Fall ermittelt, konnte bisher nichts Neues über das Schicksal des Professors zu Tage fördern. Das Verschwinden des Mathematikers ist nur eines von vielen Verbrechen, das der Colonia Dignidad und ihrem deutschen Gründer Paul Schäfer zur Last gelegt wird und bis heute nicht aufgeklärt werden konnte.
Die dunkle Geschichte der "Kolonie der Würde" begann 1961. Damals floh der 1921 in Troisdorf geborene, ehemalige evangelische Jugendpfleger Schäfer aus Deutschland, da ihm sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wurde. Gemeinsam mit rund 300 Anhängern, die er in Siegburg in einer "Privaten Socialen Mission" um sich geschart hatte, ließ er sich im Süden Chiles nieder. Die Anhänger folgten ihrem "Messias", weil der ihnen vorgaukelte, "böse Kommunisten" würden kommen und "Deutschland verheeren", berichtet der in der Kolonie aufgewachsene Klaus Schnellenkamp.
Schäfer und seine Getreuen stampften auf dem rund 15.000 Hektar großen Gelände in der Nähe des Städtchens Parral einen landwirtschaftlichen Musterbetrieb aus dem Boden, später kamen ein Steinbruch und ein Restaurant hinzu. Die Kolonie belieferte bald die lokalen Märkte mit Brot und Milchprodukten. In Parral und Umgebung bewunderten viele Bürger die Deutschen für ihren Fleiß. Auf dem mit Stacheldraht hermetisch abgeschlossenen Gelände führte Schäfer jedoch ein grausames Regiment. Die Menschen schufteten sieben Tage die Woche mindestens zwölf Stunden. Wer sich Schäfer nicht bedingungslos unterwarf, hatte mit unmenschlichen Strafen zu rechnen. Handverlesenen Besuchern wurde nur die vermeintliche Sonnenseite gezeigt: der Kinderchor, das Krankenhaus, die Schule.
Ein Verlassen der Kolonie war fast unmöglich. Wolfgang Müller, als Zwölfjähriger von Schäfer 1961 nach Chile entführt, wurde von ihm vergewaltigt und nach einem gescheiterten Fluchtversuch "geschlagen, misshandelt, unter Drogen gesetzt, blutüberströmt in einen für ihn gebauten kleinen Holzkäfig gepfercht". 1967 gelang ihm schließlich die Flucht. Den Wenigen, die entkamen, schenkte jedoch kaum jemand Glauben, da es der Kolonie immer wieder gelang, mit ihren vermeintlichen Wohltaten für die Armen der Region die Öffentlichkeit zu blenden.
Ihre Blütezeit erlebte die Colonia Dignidad während der Militärdiktatur. Nach dem Putsch vom 11. September 1973 wurde Schäfers Kolonie zu einem Konzentrationslager des berüchtigten Geheimdienstes DINA. 1977 berichtete dann Amnesty International erstmals über das Folterlager der Deutschen. Auch der Deutschen Botschaft war damals bereits bekannt, dass die Kolonie des Kinderschänders Schäfer als Gefängnis für Oppositionelle diente und diese dort offensichtlich misshandelt wurden. Doch es geschah nichts. Auch ein schriftlicher Hilferuf von sechs deutschen Koloniebewohnern an die Botschaft verhallte, obwohl er ebenfalls von Misshandlungen und Freiheitsentzug berichtete. Bis 1985 soll die Botschaft sogar Kolonie-Flüchtlinge zurückgeschickt haben, berichtete zwölf Jahre später der chilenische Fernsehsender TVN. Die Kolonie überzog derweil jeden mit Klagen, der ihre Verbrechen anprangerte. Sie genoss inzwischen Zollfreiheit und wurde von den Behörden als gemeinnützig anerkannt.
Nach dem Ende der Diktatur stellt die "Nationale Kommission für Wahrheit und Versöhnung" in ihrem Bericht über die Verbrechen der Diktatur 1991 dann ebenfalls fest, dass auf dem Gelände der deutschen Enklave gefoltert worden ist, und zwar auch von Mitgliedern der Kolonie. Ebenso konstatiert die Kommission, dass zumindest ein Gefangener, wahrscheinlich aber mehrere Menschen, dort spurlos verschwunden sind. Der neue, demokratisch gewählte Präsident Patricio Aylwin erkennt der Colonia Dignidad denn auch die Gemeinnützigkeit ab. Schäfer kann dies zwar nicht gerichtlich abwenden, doch es gelingt ihm, die ertragreichen Betriebe vorher auszugliedern, indem er sie seinen engsten Vertrauten überschreibt. Zudem nennt sich die Kolonie fortan Villa Baviera, Bayerndorf.
In den folgenden Jahren dringen immer neue kriminelle Machenschaften Schäfers und seiner Getreuen ans Licht, und es kommt zu zahlreichen Anzeigen wegen Steuerhinterziehung, Zollbetrug, Verstößen gegen das Arbeits- und Schulrecht, Zwangsadoption und Entführung Minderjähriger. Trotz der über dreißig Verfahren gegen die Chefs des Bayerndorfes und immer neuer Medienberichte über Übergriffe der Deutschen blieb alles beim Alten, denn die Richter von Parral ließen Akten verschwinden und schlugen die Prozesse nieder. Niemals blieb ein Zeuge bei der Stange. Präsident Aylwins Nachfolger Eduardo Frei erklärte zwar, die Verbrechen der Kolonie müssten aufgeklärt werden, doch ansonsten verhielt die Politik sich still. Ab März 1996 scheint sich dann endlich etwas zu bewegen. Der neue Richter von Parral will durchgreifen, und er setzt einen Sonderermittler durch, denn wieder hatten zwei Mütter Anzeige gegen Schäfer erstattet. Ende des Jahres wird ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Zwar versuchte das in der Gegend mächtige Freundschaftskomitee der Kolonie mit seinen gut 3.000 Mitgliedern, die Mütter unter Druck zu setzen, in dem es ihnen drohte, sie verlören ihre Arbeit, doch die beiden Frauen ließen sich nicht erpressen.
Rosa, die Mutter des damals zehnjährigen Jaime, hatte ihren Jungen auf das Internat der Kolonie geschickt, in der Hoffnung, dass Jaime es dort besser haben würde als in ihrer armseligen Hütte. Rosa wurde allerdings misstrauisch, als man ihr verbot, ihren Sohn zu sehen. Richter Jorge Norambuena zwang dann die Deutschen, den Jungen herauszugeben. Als er untersucht wurde, stellten die Ärzte fest, dass er vergewaltigt worden war. Der Anwalt Hernán Fernández erklärte sich bereit, Rosa kostenlos zu vertreten, und bald fassten immer mehr Mütter Mut und zeigten die Vergewaltigung ihrer Söhne an. Schließlich blieb kein Zweifel mehr: Das Internat, das angeblich armen Kindern eine gute Erziehung angedeihen ließ, diente lediglich dem Zweck, kleine Jungen für Paul Schäfers perverse Gelüste zu beschaffen.
Der Sonderermittler ordnete zahlreiche Durchsuchungen der Enklave an, doch weder fand man Schäfer, noch sonst gerichtlich Verwertbares. Freunde in der Polizei hatten die Deutschen jeweils vor den Razzien gewarnt. Mehrfach wurden Mitglieder der Führungsriege festgenommen, doch sie waren immer bald wieder auf freiem Fuß. Erneut stockten die Verfahren, und einige Abgeordnete der Sozialistischen Partei erklärten, die Kolonie habe trotz Demokratie immer noch gute Freunde in Politik und Justiz, die verhinderten, dass man ihr zu nahe trat.
Die entscheidende Wende bahnte sich erst 2004 an, 14 Jahre nach dem Ende der Diktatur. Inzwischen hatte der Sozialist Ricardo Lagos das Präsidentenamt übernommen. Zunächst befand ein chilenisches Gericht den Koloniegründer Schäfer in Abwesenheit des sexuellen Missbrauchs von 27 Kindern für schuldig, und 22 Mitglieder seiner Führungsmannschaft wurden wegen Vertuschung und Behinderung der Justiz mit fünf Jahren Haft bestraft. Im März 2005 wird Schäfer in Argentinien festgenommen und nach Chile ausgeliefert. Lagos hatte offensichtlich seinen Einfluss in Argentinien geltend gemacht. Wenig später wird Schäfer zu zwanzig Jahren Haft sowie Schadenersatz für seine Opfer verurteilt. Ein gutes Jahr später, nachdem man auf dem Gelände der Kolonie den größten Waffenfund der chilenischen Geschichte ausgemacht hat, erfolgt eine zweite Verurteilung wegen illegalen Waffenbesitzes zu weiteren sieben Jahren. Inzwischen weiß man ziemlich sicher, dass auf dem Gelände der Colonia Dignidad über 120 Oppositionelle umgebracht wurden und im Hospital Kinder mit Elektroschocks und unnötigen psychiatrischen Behandlungen gequält worden sind. 140 Mitglieder der deutschen Enklave haben sich 2006 in einem offenen Brief zu einer Mitschuld an den Menschenrechtsverbrechen bekannt, weil sie sich nicht gegen "den despotischen Leiter" erhoben haben. Dass auf ihrem Gelände Menschen gefangen gehalten wurden, gaben sie zu, doch von Morden und Verschwundenen wollen sie nichts gewusst haben. So nimmt es nicht Wunder, dass die Schwester von Boris Weisfeiler die Colonia Dignidad ohne neue Erkenntnisse verließ.
Literatur:
Gero Gemballa: Colonia Dignidad. Ein Reporter auf den Spuren eines deutschen Skandals, Frankfurt 1998.
F. Paul Heller: Colonia Dignidad. Von der Psychosekte zum Folterlager, Stuttgart 1993.
Eva Karnofsky: Im Dorf der geilen Onkels, in: Süddeutsche Zeitung v. 02.05.1997, S. 3.
Eva Karnofsky: Stillgestanden, glücklich sein!, in: Süddeutsche Zeitung v. 27.05. 1997, S. 3.
Klaus Schnellenkamp: Geboren im Schatten der Angst. Ich überlebte die Colonia Dignidad. München 2007.
Links:
Externer Link: Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag zur Colonia Dignidad v. 17.07.1997
Homepage des von Wolfgang Müller gegründeten Vereins "Externer Link: Flügelschlag e.V.", der sich bis heute um die Aufklärung der Verbrechen bemüht
Externer Link: Amnesty International zur Colonia Dignidad I
Externer Link: Amnesty International zur Colonia Dignidad II
Externer Link: Zeit-Dossier zur Colonia Dignidad, Nr. 42/1997