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Glaube und Religion in Brasilien
Étienne Roeder
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Der Glaube an Geister ist ein Grundelement von fast allen religiösen Praktiken in Brasilien. Und in keinem anderen Land sind Pfingstkirchen so rasant auf dem Vormarsch wie hier. Als global agierendes Wirtschaftsunternehmen gewinnen sie zudem immer mehr Einfluss auf die brasilianische Politik.
"Deus é brasileiro" – "Gott ist Brasilianer" heißt es im Volksmund. Dieser nur halb ironisch gemeinte Satz bezieht sich nicht nur auf die tropische Schönheit eines Landes, das – darin sind sich viele Brasilianer einig – nur von einem übernatürlichen Schöpfer erdacht werden konnte. Gott ist auch Brasilianer, weil die Geschichte des Landes, spätestens seit der Kolonisierung, eine Religionsgeschichte ist.
Die verschiedenen Weltbilder, die heute das Denken der rund 190 Millionen Brasilianer prägen, haben ihren Ursprung in einer durch Missionierung, Unterdrückung und Vermischung unterschiedlichster Glaubensvorstellungen geprägten Geschichte. Besonders charakteristisch für Brasilien ist dabei weniger die Mitgliederzahl der Katholischen Kirche, die seit 1980 fast 30 Prozent ihrer praktizierenden Anhänger verloren hat, als die Kontaktaufnahme mit dem Übernatürlichen durch Religionen, in denen Medien eine zentrale Rolle spielen. Das ist der Fall in der afrobrasilianischen Religion des Candomblé, in dem neben der katholischen Heiligenverehrung auch afrikanische Götter und Geister von den Menschen Besitz ergreifen, in der Umbanda, die verstorbene Ahnengeister verschiedener Religionen verehrt, oder in den rasant wachsenden charismatischen Pfingstkirchen, die durch Teufelsaustreibung den Heiligen Geist heraufbeschwören. Der Glaube an Geister ist ein von fast allen religiösen Praktiken bedientes Grundelement brasilianischer Religiosität.
Religionsgeschichte
Noch bevor Pedro Alvares Cabral zu Ostern 1500 an der Küste Brasiliens landete, war die mündliche Tradition mythischer Erzählungen in allen indigenen Kulturen Brasiliens so präsent, dass Kultur und Weltanschauung dieser Zivilisationen eine Einheit bildeten. Sogenannte "pajés" oder Schamanen stellten als Heiler die Verbindung zwischen der hiesigen und der transzendenten Welt her. Der christliche Glaube, der mit den Portugiesen nach Brasilien kam, bildete zunächst ein Amalgam aus Evangelium und Politik. Die Verquickung aus Religion und Ökonomie wurde im "Patronat" verbrieft, dem offiziellen Auftrag des Papstes, alle Neuentdeckungen auch im Sinne der Festigung des Glaubens zu erschließen. Die kolonialen Organe, denen die Kirche unterstellt war, ließen die Organisation der Evangelisierung jedoch zu einer administrativen Angelegenheit verkümmern.
Erst 1739, also fast 250 Jahre nach der "Entdeckung" Brasiliens, wurde ein Seminar für den Weltklerus eingeführt. Vorher waren es Benediktiner, Franziskaner, Karmeliter, Kapuziner, Oratorianer und vor allem Jesuiten, die wie selbstverständlich als Missionare den christlichen Glauben ins Landesinnere trugen. Die Jesuiten bemühten sich sogar, das Tupi-Guaraní, die damalige Lingua franca unter den unzähligen indigenen Bevölkerungsgruppen, als allgemeine Kolonialsprache Brasiliens zu etablieren. Denn es eignete sich schlicht und einfach besser für die Missionierung als das Portugiesische. Im Schatten einer relativ langsamen Evangelisierung gedieh eine reiche Volksreligiosität, in deren Praxis sich Aberglaube, entlehnte Gottesvorstellungen, messianische Hoffnungen sowie Ahnenverehrung und Magie zu einer Vorstufe des religiösen Pluralismus heutiger Zeit entwickelten.
Afroamerikanischer Synkretismus
Mit der massenhaften Versklavung und Verschleppung unterschiedlichster afrikanischer Bevölkerungsgruppen, haben sich deren Kosmologien und mythische Geister zunächst mit anderen afrikanischen religiösen Kulten, dann mit Elementen des Christentums und nicht zuletzt mit indigenen, mythischen Elementen vermischt. Dieser beispiellose Prozess kultureller und spiritueller Vermischung unter dem Primat christlicher Vorherrschaft wird oft als "afroamerikanischer Synkretismus" bezeichnet.
Die afrobrasilianischen Religionen orientierten sich in ihrem Kern an dem komplexen Götterpantheon der Yoruba-Kultur aus dem heutigen Nigeria, in der die Orixás als vergöttlichte Naturkräfte hervortreten. Die Orixás wurden jahrhundertelang versteckt hinter den Heiligen der Kirche angebetet und ihre mit christlichen Elementen versetzten Ausprägungen treten heute im Bundesstaat Bahia als "Candomblé", in Pernambuco als "Xangô" oder in Rio Grande do Sul als "Batuque" in Erscheinung. In den "terreiros" (Hinterhöfe), die als rituelle Kultstätten nur von Initiierten, sogenannten filhos do santo (Kinder der Heiligen), besucht werden, offenbaren sich die Orixás in Trancetänzen, indem sie von den Menschen Besitz ergreifen. Jedem einzelnen Orixá werden bestimmte Farben, Opferspeisen, Tänze und Gesänge zugeordnet und die rhythmisch getrommelten Lieder bringen die Orixás dazu, auf die Erde zu kommen. Götterglaube und Ahnenkult stellen im Candomblé eine unlösbare Einheit dar. Generell kann man sagen, dass die Anhänger afrikanisch-brasilianischer Religionen keinen Gegensatz darin sehen, sonntags in die Kirche zu gehen und freitags ins "terreiro". Viele Candomblé-Anhänger geben bei Volkszählungen daher auch unverfänglich an, katholisch zu sein.
Der Kardecismus, eine spiritistische Lehre, die nach dem französischen Esoteriker Allan Kardec benannt ist, gilt in Brasilien – im Gegensatz zu Rest der Welt – als eigenständige Religion. Im Kardecismus werden die Geister der Verstorbenen in okkulten Sitzungen angerufen und inkarnieren sich in sogenannten Medien, d.h. Menschen, die jene Geister empfangen können. Fast vier Millionen Brasilianer bezeichnen sich als Spiritisten und glauben an den evolutionären Prozess der Vervollkommnung der Geister im Jenseits. Besonders in den großen Städten findet der Kardecismus in der gebildeten Mittelschicht leicht Anhänger, denn er versöhnt die religiös-spirituellen Bedürfnisse der Menschen in den urbanen Zentren mit einer modernen, rationalen Weltsicht.
In Rio de Janeiro gründete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Umbanda eine neue Religion, in der neben Elementen der afrikanischen und indigenen Religionen auch Heiligenverehrung und Moralvorstellungen des Volkskatholizismus mit den Zeichen der jüdischen Mystik, der Kabbala, oder anderer esoterischer Vorstellungen verbunden werden. Ihre eigene Reinkarnationslehre entlehnt die Umbanda dem Kardecismus und ostasiatischen Religionen. Neben den Orixás, die bereits im Candomblé auftreten, gibt es weitere Geister, die im "Gewand" ehemaliger Sklaven, der sogenannten Pretos Velhos und ehemaliger (also verstorbener) Indianer, der Caboclos herbeigerufen werden können.
Die Umbanda, die ganz gewollt synkretistisch ist, wird durch diese Widerspiegelung aller brasilianischen Gesellschaftsgruppen, als eine genuin brasilianische Religion, eine Art Nationalkultur, angesehen. Besonders in den Städten übt sie eine ungeheure Anziehungskraft auf das gesamte Spektrum der brasilianischen Gesellschaft aus. Auch weil in den Kulten, im Gegensatz zum Candomblé, in dem die Yoruba-Sprache vorherrscht, portugiesisch gesprochen und gesungen wird. Der Kult selbst besteht aus stundenlangen Sitzungen, bei denen die "mae-de-santo" (Priesterinnen) und die Medien in Trance fallen, um die Geister der Verstorbenen und anderer Wesen in ihren Körpern zu empfangen.
Boom der Pfingstkirchen
Bezeichnen sich auch heute in Volksumfragen noch rund 124 Millionen Brasilianer als Katholiken, so zeigen die Beispiele des Candomblé und der Umbanda deutlich, wie wenig diese Zahlen über den praktisch gelebten Glauben aussagen. In Wahrheit verliert die katholische Kirche jährlich rund 600.000 Mitglieder an die Umbanda und die evangelischen Freikirchen, vor allem aber an die Pfingstkirchen, die mit ihren charismatischen Führern, Teufelsaustreibungen und Wunderheilungen die Gläubigen regelrecht von der Straße fischen. Die katholische Kirche hat die Rolle als theologisch progressive Kirche, aus der während der Zeit des Militärregimes (1963-1985) innovative Impulse in Form der Befreiungstheologie hervorgingen, an die Pfingstkirchen abgeben müssen. Brasilien ist heute nicht nur das katholischste und das spiritistischste, sondern auch das pfingstkirchlichste Land der Welt. Der Begriff Pfingstbewegung steht als Sammelbezeichnung für dogmatische und nicht einheitliche, christliche Denominationen, die heute weltweit auftauchen. In keinem anderen Land jedoch sind Pfingstkirchen so rasant auf dem Vormarsch wie in Brasilien, wo der Siegeszug der Pfingstler sich über den Zeitraum von gerade einmal hundert Jahren vollzog.
Verbreitete sich die Kunde der realen Gegenwart des Heiligen Geistes, die sich durch Zungenrede und göttliche Wunderheilung den Gläubigen offenbart und allen pfingstkirchlichen Denominationen gemein ist, zu Beginn noch per Mundpropaganda, so lassen sich die aktuellen Zuwachsraten nur durch den Einsatz modernster Technik und gezielter missionarischer Propaganda erklären. Die Pfingstkirchen versprechen nicht weniger als die sofortige Lösung aller aktuellen Probleme der Gläubigen in den Bereichen Gesundheit, Gemeinschaft, Glück und Erfüllung. Unter dem Namen Christi werden all diese "Produkte" über das Radio, das Fernsehen und die neuen sozialen Medien verbreitet. Der biblische Inhalt spielt dabei weniger eine Rolle, als die Beschwörung des Heiligen Geistes in öffentlichen Teufelsaustreibungen und die auf das Seelenheil hoffenden Massen. Die Pastoren binden, theologisch und sprachlich perfekt geschult, immer mehr Gläubige an die Gottesdienste und fordern zu Spenden auf, die den "dízimo", den zehnten Teil des Einkommens weit übersteigen. Sie stehen in ihren adretten Anzügen selbst für den persönlichen und gesellschaftlichen Erfolg, den sie bei guter Spendenmoral versprechen. Neu-pfingtskirchliche (neopentekostale) Denominationen lehren in einer aggressiven "teología da prosperidade" (Theologie des Wohlstandes), dass die Liebe zu Gott sich nicht nur im materiellen Wohlstand ausdrückt, sondern durch großzügige Spenden an die Pfingstkirchen sogar forciert werden kann. Ökonomischer Misserfolg wird dabei dem Einfluss dämonischer Kräfte anderer (vor allem afrobrasilianischer) Religionen zugeschrieben.
Die protestantischen und evangelikalen Freikirchen sowie traditionelle Pfingstkirchen, die noch mehrheitlich von Immigranten aus Nordamerika und Europa während des 19. und 20. Jahrhunderts nach Brasilien kamen, zeichneten sich durch Askese und die Abkehr von weltlichen Versuchungen aus. Die autonomen neopentekostalen Kirchen der jüngsten Generation gewähren ihren Gläubigen heute mehr Freizügigkeiten. Zwar lehnen sie den Genuss von Alkohol, sowie jeglicher Drogen immer noch ab, Frauen dürfen sich jedoch mittlerweile schminken und auch in Fragen wie Abtreibung oder Homosexualität gibt es erstaunliche Positionen unter der schier unzählbaren Vielzahl der Pfingstkirchen.
Eine von ihnen ist die Igreja Universal Reino de Deus. Sie ist unter diesen Bedingungen innerhalb der vergangenen zehn Jahre auf 1,87 Millionen Gläubige allein in Brasilien angewachsen. Weltweit sind es sechs Millionen. Sie kann als modernes und höchsteffizientes Wirtschaftsunternehmen bezeichnet werden, das global agiert und dazu immer mehr Einfluss auf die Politik des Landes gewinnt. Sie besitzt Zweigstellen in nahezu allen südamerikanischen Ländern, den USA, Afrika und Europa, unterhält die zweitgrößte kommerzielle Fernsehanstalt Brasiliens, Rede Record, und verfügt über ein Zeitungs- und Rundfunkimperium mit 63 Fernseh-und 62 Radioanstalten, die es ihr erlaubt theoretisch alle Brasilianer zu jeder Tages-und Nachtzeit zu erreichen. Ihre "Cátedral Mundial da Fé" (Weltkathedrale des Glaubens) in Rio de Janeiro fasst rund 45.000 Gläubige.
Das Phänomen der Pfingstkirchen stellt in all seiner Heterogenität einen neuen Typus von Kirche dar, der den spirituellen Bedürfnissen einer nach Heilsversprechungen und Wohlstand eifernden modernen Bevölkerung entgegenkommt. Fraglich bleibt jedoch, ob die charismatischen Botschaften der Theologie des Wohlstandes und die missionarische Tätigkeit des "Guerra espíritual" (geistlichen Krieges) gegen böse Dämonen, Raum für wirkliche soziale Verbesserungen lassen, oder ob diese erneute Verbindung von Religion und Ökonomie wie in den Zeiten der "Entdecker" Brasiliens nur die Kassen der Pfingstkirchen bereichern. "In Brasilien", heißt es in einem anderen Sprichwort, "wird eben alles zur Religion!" Selbst das Bankkonto.
Étienne Roeder ist Journalist und Übersetzer und hat zahlreiche Artikel zu Religionsthemen veröffentlicht.
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