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INES - Die Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse

Lutz Mez

/ 5 Minuten zu lesen

Die Bewertungsskala INES klassifiziert atomare Störfalle und Unfälle nach sieben Stufen. Der Super-GAU von Tschernobyl fällt unter die Stufe 7, ein katatrophaler Unfall. Nach einigen Kontroversen gilt mittlerweile auch Fukushima als solch ein Unfall. Wer bewertet bei INES? Und wie kommen Einordnungen zustande?

Eine Expertengruppe der Internationalen Atomenergie-Organisation besichtigt das havarierte Atomkraftwerk in Fukushima knapp zwei Monate nach dem GAU. (© picture alliance / Photoshot)

Die Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES)

Die Internationale Bewertungsskala für nukleare und radiologische Ereignisse (INES = International Nuclear and Radiological Event Scale) dient der Einordnung von Störfällen und Unfällen in kerntechnischen Anlagen. Seit 1945 hat es in kerntechnischen Anlagen immer wieder Unfälle, darunter auch schwere oder katastrophale Unfälle mit Freisetzung von Radioaktivität gegeben. Aber erst 1989 – drei Jahre nach dem Super-GAU im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl im April 1986 - haben sich Experten der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und der Kernenergieagentur der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD/NEA) zusammengesetzt und ein Bewertungssystem entwickelt, mit dem Atomunfälle kategorisiert werden können. Dabei griff man unter anderem auf die Erfahrungen in Frankreich und Japan mit Bewertungsskalen für Atomunfälle zurück.

Auslegungsstörfall, GAU und Super-GAU

Der Auslegungsstörfall ist ein Unfall, der bei der Auslegung einer kerntechnischen Anlage angenommen wurde. GAU steht zwar für "Größter anzunehmender Unfall", damit ist aber der sogenannte Auslegungsstörfall einer kerntechnischen Anlage gemeint. Also ein Ereignis, das technisch noch beherrscht werden kann. Atomunfälle ab INES Stufe 5 sind "auslegungsüberschreitende Störfälle" und werden gemeinhin als Super-GAU bezeichnet. Die bekanntesten Beispiele sind die Katastrophen von Fukushima (2011) und Tschernobyl (1986). Weitere schwere auslegungsüberschreitende Störfälle ereigneten sich 1957 im britischen Nuklearkomplex Sellafield (früher Windscale) und 1979 im amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island.

Im Jahr 1990 lag das erste INES-Handbuch vor. Nach einem Atomunfall soll anhand der INES-Skala die Öffentlichkeit möglichst schnell und zuverlässig über die sicherheitstechnische Bedeutung und das Ausmaß möglicher Auswirkungen des Ereignisses informiert und die Kommunikation zwischen Politik, Industrie, Fachwelt, Medien und Öffentlichkeit ermöglicht werden. Wie die Richter-Skala bei Erdbeben sollte die INES-Skala der Öffentlichkeit eine nachvollziehbare Einstufung des Atomunfalls sowie Informationen über die sicherheitstechnische Bedeutung liefern.

INES ist eine logarithmische Bewertungsskala, die ursprünglich sieben Stufen hatte. Jede Stufe bezeichnet ein Ereignis (engl. Event), dessen Auswirkungen zehnmal größer sind als der Störfall bzw. Unfall der darunterliegenden Stufe. Ereignisse der Stufen 1 bis 3 werden als Störfälle (engl. Incident) und der Stufen 4 bis 7 als Unfälle (engl. Accident) bezeichnet. Für Ereignisse ohne sicherheitstechnische Bedeutung wurde später noch die Stufe 0 hinzugefügt. Interner Link: Hier finden Sie eine Tabelle mit der Systematik der internationalen Bewertungsskala INES

Das Bewertungssystem wurde ursprünglich für Kernkraftwerke entwickelt, aber umfasst inzwischen alle Bereiche – ausgenommen sind militärische Anlagen -, in denen es zu nuklearen oder radiologischen Unfällen kommen kann. Das sind die zivilen Anlagen der Atomindustrie (Anreicherungsanlagen, Forschungsreaktoren, Kernkraftwerke, Wiederaufarbeitungsanlagen und die Lagerung von Atommüll in speziellen Gebäuden) und der Transport von radioaktiven Materialien und die Anwendung für medizinische Zwecke.

Die Bewertung der Ereignisse nach drei Aspekten:

  • Radiologische Auswirkungen außerhalb der Anlage – Auswirkungen auf Mensch und Umwelt

  • Radiologische Auswirkungen innerhalb der Anlage – Beeinträchtigung radiologischer Barrieren und Überwachungsmaßnahmen

  • Beeinträchtigung der Sicherheitsvorkehrungen der Anlagen – Sicherheitsbarrieren.

Die Definition der Bewertungsstufen 4 bis 7 erfolgt auf der Grundlage der freigesetzten Aktivität. Für die Berechnung der freigesetzten Nuklide werden Äquivalente des Nuklids Jod-131 (I-131) genommen. Die Gewichtungsfaktoren für Isotope sind im INES-Handbuch in einer Äquivalenztabelle festgelegt. Beispielsweise wird Cäsium-137 mit dem Faktor 40 und Plutonium-239 mit dem Faktor 10.000 multipliziert. Bei der ersten Abschätzung eines Unfalls kann die Freisetzung folglich nur annäherungsweise bestimmt werden. Damit eine international einheitliche Interpretation erfolgen kann, wurden die Werte 500, 5.000 und 50.000 Terabecquerel als Grenzen zwischen den Ereignissen vorgeschlagen. Ein weiteres Kriterium ist die Strahlenexposition von Personen. "Die Stufen 1 bis 6 beinhalten eine Definition, die auf diesem Kriterium basiert" (RS-Handbuch 2015, S. 13).

Becquerel

Eine radioaktive Substanz hat eine Aktivität von einem Becquerel (1 Bq), wenn darin pro Sekunde ein Atom zerfällt. In Deutschland ist der amtliche Grenzwert für Lebensmittel 600 Becquerel pro Kilogramm eines Lebensmittels. Für Milch und Babynahrung gibt es den strengeren Grenzwert von 370 Becquerel pro Kilogramm. In der INES-Skala wird mit Terabequerel (TBq) – Tera gleich Billion oder 1012 gerechnet.

Stufe 7: "Ein Ereignis, das zu einer Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung führt, die radiologisch äquivalent ist zu einer Freisetzung von mindestens 50.000 Terabecquerel I-131 in die Atmosphäre". Weiträumige Effekte auf Gesundheit und Umwelt. Evakuierung notwendig, um die Bevölkerung zu schützen. Gesundheitliche Spätschäden können in mehr als einem Land auftreten und langfristige Auswirkungen auf die Umwelt sind wahrscheinlich.

Stufe 6: "Ein Ereignis, das zu einer Freisetzung radioaktiver Stoffe (…) von mindestens 5.000 bis zu 50.000 TBq I-131 in die Atmosphäre (führt)". Voller Einsatz von Katastrophenschutzmaßnahmen erforderlich.

Stufe 5: "Ein Ereignis, das zu einer Freisetzung radioaktiver Stoffe (…) von mindestens 500 bis zu 5.000 TBq I-131 in die Atmosphäre (führt)". Teilweise Zerstörung des Reaktorkerns und Freisetzung großer Mengen von Nukliden in der Anlage. Mehrere Todesfälle durch Strahlenexposition und Einsatz einzelner Katastrophenschutzmaßnahmen.

Stufe 4: "Ein Ereignis, das zu einer Freisetzung radioaktiver Stoffe (…) von mindestens 50 bis zu 500 TBq I-131 in die Atmosphäre (führt)". Freisetzung bedeutender Mengen radioaktiver Stoffe innerhalb der Anlage. Auftreten eines unmittelbaren Todesfalls als Folge einer Strahlenexposition. Schutzmaßnahmen wahrscheinlich nicht notwendig, aber lokal begrenzte Überwachung von Lebensmitteln.

Die Stufen 1 bis 3 betreffen Störungen bzw. Störfälle, bei denen die Exposition die Jahresdosis für beruflich exponierte Personen übersteigt. Bei Stufe 2 übersteigt die Dosisleistung im Anlageninneren 50 mSv/h und für eine Einzelperson außerhalb der Anlage 10 mSv. In der Stufe 3 ist die Strahlenexposition außerhalb der Anlage mehr als das Zehnfache der Jahresdosis für beruflich exponierte Personen und im Anlageninneren mehr als 1 Sv/h.

Sievert

Ein Sievert (1 Sv) ist jene Strahlendosis, die der Absorption einer Energiemenge von einem Joule je Kilogramm Körpergewicht entspricht. Das bezeichnet man als Äquivalenzdosis. In der Praxis wird meist mit Millisievert (1 mSv), dem tausendsten Teil eines Sievert, gerechnet. Die natürliche Strahlenbelastung beträgt in Deutschland im Mittel 2,4 mSv pro Jahr. Die Strahlenschutzverordnung erlaubt durch die technische Nutzung von Radioaktivität - etwa durch Kernkraftwerke - zusätzlich 1 mSv. Für beruflich Strahlenexponierte gilt ein Jahresgrenzwert von 20 mSv.

Die Teilnahme an INES ist freiwillig und für alle IAEO-Mitgliedsstaaten offen. Inzwischen wurde das System von über 70 Ländern übernommen, die durch ihre nationalen "INES-Officers" repräsentiert werden. Alle zwei Jahre findet ein INES Technical Meeting statt. Ferner werden die Entscheidungen über die Anwendung der Skala diskutiert. Die Ersteinstufung eines Störfalls bzw. Unfalls nach INES erfolgt durch den Betreiber der Anlage. Diese wird zusammen mit der Meldung des Ereignisses an die zuständige Aufsichtsbehörde weitergeleitet. Die Einstufung wird durch den nationalen INES-Officer überprüft. In Deutschland macht das im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) ein Experte der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit mbH (GRS). Ergibt die Überprüfung des INES-Officers eine andere Einstufung, wendet er sich zunächst an den Betreiber. Erfolgt keine Anpassung der INES-Stufe durch den Betreiber, muss der INES-Officer die zuständige Landesbehörde und das BMUB informieren. Ab der INES-Stufe 2 meldet der INES-Officer den Störfall bzw. Unfall unmittelbar an die IAEO in Wien. Die IAEO stellt die Meldungen in einem webbasierten Informationssystem der Öffentlichkeit zur Verfügung.

Der INES-Officer hat neben der Überprüfung der Ersteinstufung noch weitere Aufgaben. Er ist der fachliche Ansprechpartner für Betreiber und beteiligte Behörden. Ferner ist er für den Austausch der international gesammelten Erfahrungen aus der Anwendung von INES zuständig und ist an der Weiterentwicklung des Systems im Rahmen der IAEO sowie an der nationalen Umsetzung von Änderungen beteiligt.

Aufgaben des INES-Officers:

  • Überprüfung der INES-Einstufung

  • Weiterleitung der Ereignisse ab INES-Stufe 2 an die IAEO

  • fachlicher Ansprechpartner für Betreiber und Behörden

  • Austausch der Erfahrungen im Umgang mit INES

  • Weiterentwicklung des Systems im Rahmen der IAEO

Quellen:

Fussnoten

Weitere Inhalte

Lutz Mez, PD Dr. habil, Dr. rer. pol. ist Politikwissenschaftler und hat 1986 zusammen mit Martin Jänicke und Thomas Ranneberg die Forschungsstelle für Umweltpolitik an Freien Universität Berlin gegründet. Seit November 2009 ist er Koordinator des Berlin Centre for Caspian Region Studies (BC CARE) der FU. Er ist Mitglied im Editorial Board von Journal of Transdisciplinary Environmental Studies und Mitherausgeber der Reihe "Energiepolitik und Klimaschutz" bei VS Research und der Schriftenreihe "Horizonte 21" bei Welttrends e.V..