In der Geschichte moderner Gesellschaften war Wachstum stets gleichbedeutend mit mehr Wohlstand, Freiheit und Verbesserungen der Lebensqualität. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts, spätestens seit dem Bericht "Grenzen des Wachstums" Club of Rome (Meadows et al. 1972), wird jedoch über die Schattenseiten des Wachstums diskutiert. Manche Wissenschaftler*innen vertreten die Position, dass unsere Volkswirtschaften weiterwachsen können, ohne dass wir dabei den Planeten zerstören. Insbesondere eine schnellere Verbreitung von Technologien, wie erneuerbare Energien, soll dies ermöglichen. Eine andere Forschungsströmung tritt für Postwachstum oder Degrowth ein. Die Grundidee dieser Strömung: moderne Gesellschaften müssen sich von der Idee des ewigen Wirtschaftswachstums verabschieden.
Postwachstums- bzw. Degrowth-Wissenschaftler*innen erforschen Optionen und Rahmenbedingungen, unter denen Gesellschaften mit weniger Konsum und Produktion auskommen können (Externer Link: Suffizienz). Mindestens müsse die Lebensqualität vom materiell-ökonomischen Wohlstand entkoppelt werden, also sogenanntes
Erste Entkopplung: der Naturverbrauch wird vom Wachstum entkoppelt.
Zweite Entkopplung: die Lebensqualität wird vom Wachstum entkoppelt.
Was ist Postwachstum?
Unter den Stichworten "Postwachstum" oder "Degrowth" findet seit der
Nach Matthias Schmelzer lassen sich diese Postwachstumsperspektiven unterscheiden (Schmelzer 2017):
Kapitalismuskritik zielt auf eine Abschaffung kapitalgetriebener Akkumulation und Kommodifizierung (d. h. "Zur-Ware-Machen") und hat die zentrale Forderung, Industrie- und Wirtschaftsbereiche zu vergesellschaften (Brand und Wissen 2012; Dengler und Schmelzer 2021).
Feministische Ansätze kritisieren die Ausbeutung nicht-marktförmiger Care- bzw. Sorgearbeit, die insbesondere von Frauen geleistet wird. Ansätze feministischer Ökonomie zielen darauf ab, diese Arbeitsformen in das Zentrum des Wirtschaftens zu stellen (Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften 2013).
Suffizienzorientierte/konservative Autor*innen argumentieren für Reduktion weil nach ihrer Diagnose Bürger*innen und der Staat "über ihre Verhältnisse leben" und sie fordern individuellen Verzicht u. a. zum Zwecke der Entlastung des Sozialstaates (Miegel 2010; Paech 2020).
Sozialreformerische Ansätze zielen darauf ab, Institutionen wie die Alterssicherung, Gesundheitsvorsorge, Arbeit, Steuern und (Staats-) Finanzen wachstumsunabhängig zu gestalten (Petschow et al. 2018; Schneidewind und Zahrnt 2013; Seidl und Zahrnt 2010).
Zusätzlich gibt es auch Wachstumskritik vom rechtsextremen Rand des politischen Spektrums. Diese übt sich in Überbevölkerungs- und Einwanderungskritik, vertritt antimoderne Positionen und einen verklärten Regionalismus (Geffken 2020). Wie reagiert man innerhalb der Postwachstumsdiskussion auf die Vereinnahmungsversuche durch rechte Akteure? Bei den konservativen/ suffizienzorientierten Ansätzen ist kaum Problembewusstsein diesbezüglich erkennbar. In der übrigen Postwachsdiskussion überwiegt dagegen die deutliche Distanzierung gegen diese Art der Wachstumskritik. (Eversberg 2019).
Wie könnte Postwachstum aussehen?
Unabhängig von gesellschaftspolitischen Positionen ist Postwachstumsforschung ein sehr produktives Forschungsfeld. Eine Kernerkenntnis ist, dass Konsum ab einer bestimmten Schwelle nicht mehr mit steigender Lebensqualität einher geht (Burke 2020). Beispielsweise können große Wohnhäuser zu einer Last für die Bewohner*innen werden. Gerade ältere Menschen leiden zum Teil unter Einsamkeit. Am Beispiel von Autos lassen sich einige Zusammenhänge verdeutlichen.
In vielen Städten verstopft ein wachsender Autobestand die Wege, so dass das
Dennoch wächst der Fahrzeugbestand bisher ungebremst weiter. Dieses Wachstum verhindert die schnelle Umstellung auf Elektromobilität. Die Bundesregierung hat 2009 das Ziel formuliert, bis 2020 sollten 1 Million Fahrzeuge in Deutschland angemeldet sein. Dieses Ziel wurde Anfang 2021 mit 1,3 Million E-Fahrzeugen zwar erfüllt – aber nur wenn Hybrid-Fahrzeuge mitzählen, die einen großen Teil der Zeit nicht elektrisch fahren. Vor allem aber ist der Bestand um ca. 7 Million Fahrzeuge angewachsen. Durch dieses Wachstum wurden die Nachhaltigkeitsfortschritte durch E-Mobilität stark beeinträchtigt und überkompensiert.
Reduktion als Voraussetzung
Es zeigt sich, dass Suffizienz – die Verkleinerung des Bestandes – eine Voraussetzung für das schnelle Gelingen der technischen Transformationsstrategien ist. Jedoch: das Ziel der Ampel-Koalition aus dem Jahr 2021, dass bis 2030 15 Million batterieelektrische Autos in Deutschland angemeldet sind, bleibt ebenfalls in der Wachstumslogik stecken. Die Reduktion des Fahrzeugbestandes sollte ergänzend als Ziel aufgenommen werden. Maßnahmen dafür wären bspw. die dauerhafte Möglichkeit vom Home-Office, guter Ausbau von sicheren Fahrradwegen, gute ÖPNV-Anbindung (mindestens 20m-Takt) fußläufig, die Abschaffung oder ökologische Ausrichtung vom Dienstwagenprivileg und Pendlerpauschale und Einfahrbeschränkungen in Innenstädte (z.B. nur für Elektrofahrzeuge).
Eine Reduktion des Autobestandes und die Einschränkung anderer energieintensiver Konsummuster muss nicht mit Einbußen an Lebensqualität einher gehen. Autofreie Siedlungen sind ruhiger, auch die Wäsche kann draußen an sauberer Luft trocknen. Fahrradfahren wirkt sich positiv auf das Herz-Kreislaufsystem aus und eine autoarme Stadt ist tendenziell auch kindgerechter. Eine Postwachstumsgesellschaft soll daher zahlreichen menschlichen Bedürfnissen nach Ruhe, Nähe, Zeitsouveränität und Sicherheit entgegenkommen (Max-Neef 1991). Tatsächlich wirkt sich ein Lebensstilwandel positiv auf die überwiegende Mehrzahl der
Übergang zum Postwachstum
Zugleich bedeutet Suffizienz "weder Mangel noch Übermaß" (Linz 2013), also ein "Genug" in beide Richtungen: weder zu wenig noch zu viel. Hiermit wird der Punkt der Verteilungsgleichheit adressiert, denn es geht einerseits um die Absenkung von Überkonsum und andererseits darum, genug Energie und Ressourcen für die Sicherung von Grundbedürfnissen zu haben.
Gemessen an dem Ziel, bis zur Mitte des Jahrhunderts oder früher Klimaneutralität zu erreichen, ist Suffizienz notwendig, damit der technologische Umbau ausreichend schnell wirksam werden kann. Dabei hängen Suffizienz und Postwachstum mittelbar zusammen, da durch Suffizienz weniger gekauft wird. Der Jurist und Sozialwissenschaftler Felix Ekardt schreibt dazu: "Genau das könnte, sofern es einen erheblichen Umfang annimmt, einen ungeplanten Übergang zu einer Postwachstumsgesellschaft bedeuten, also zu einer Gesellschaft, die dauerhaft ohne Wachstum auskommen, oder sich sogar auf Schrumpfungsprozesse einstellen muss."