bpb.de: Wie ist die Idee zu "Neukölln Unlimited" entstanden?
Agostino Imondi: Das war im Jahr 2006, während der ganzen Interner Link: Debatte um die Rütli-Schule, hier in Berlin-Neukölln. Ich wollte etwas über diese ganze Integrationsgeschichte machen und wurde eingeladen, bei einem Jugendclub ein "Breakdance-Battle" zu begleiten. Und da habe ich dann den Maradona kennengelernt, damals war er 12 Jahre alt. Er ist mir sofort ins Auge geschossen. Ich wurde sofort aufmerksam, weil er auch die Aufmerksamkeit des ganzen Jugendclubs gewonnen hatte. Er hatte damals bei dem Breakdance-Battle getanzt und war wirklich ein sehr guter Tänzer. Ich habe ihn gefragt, ob er Interesse hätte, bei einem Film mitzumachen, da meinte er ganz spontan "Ja". Und dann habe ich auch seinen Bruder Hassan kennengelernt und danach auch die ganze Familie. Und peu à peu hat sich dann der Wille durchgesetzt, einen Film über die Familie zu machen.
Wieviel Überzeugungsarbeit war da nötig?
Agostino Imondi: Das war eigentlich leicht. Als wir die Familie kennengelernt haben, bekam sie gerade eine Negativbescheinigung von der Ausländerbehörde. Die sollten wieder in den Libanon abgeschoben werden, aber es lief noch eine Duldung. Sie haben in dem Film auch eine Gelegenheit gesehen, auf ihre Situation aufmerksam zu machen, deswegen haben Sie unser Projekt unterstützt.
Dietmar Ratsch: Noch ergänzend: Ich hatte schon das Gefühl, dass wir ein bisschen spät dran waren, weil die Familie vorher schon in einigen Medien unterwegs gewesen ist. Die waren schon auch ein bisschen müde von dieser ganzen Kampagne, die dann letztendlich für sie persönlich gar nichts gebracht hatte. Deshalb musste Agostino Imondi erstmal Überzeugungsarbeit leisten, warum gerade wir beide jetzt diesen Film ins Kino bringen und die Geschichte neu erzählen sollen. Da waren einige Besuche nötig, um Vertrauen aufzubauen und ihnen klarzumachen, dass das nicht nur an einem Drehtag funktioniert - so wie es die anderen Teams 2006 gemacht haben - sondern dass wir mit ihnen mindestens ein bis zwei Jahre unterwegs sind.
Agostino Imondi: Das stimmt. Maradona und Lial und auch Hassan haben von Anfang an das Projekt unterstützt. Aber bei ihrer Mutter war Überzeugungsarbeit nötig. Ich glaube, sie hat dann letztlich ihren Kindern zuliebe mitgemacht.
Dietmar Ratsch: Es war okay, als sie gemerkt hat, dass die Kinder auch Spaß daran haben und wir da irgendwie weiterkommen mit ihnen. Wie wir sie beobachtet und mit ihnen gesprochen haben, das hat dann auch der ganzen Familie im Endeffekt geholfen. Viel schwieriger fand ich es, die Förderer und die Sender zu überzeugen, dass der Film gemacht wird.
Was war das Problem? Hatten die Förderer denn andere Erwartungen an "Neukölln Unlimited"?
Dietmar Ratsch: So ein Film muss ja auch finanziert werden und die Redakteure müssen da mitspielen. Und es war erstmal gar nicht so einfach, eine Geschichte zu entwickeln, die ein positives Bild dieser Neuköllner Integrationssituation widerspiegelt. Eigentlich war es von den allgemeinen Medien gewünscht, auch vom rbb, dass man genau in diese Schiene mit der Interner Link: Rütli-Schule einspringt. Und das jetzt wirklich ein positives Beispiel kam, war anfangs gar nicht deren Linie.
Wie entsteht eine solche Geschichte, gibt es da vorher ein klares Drehbuch, oder wird erstmal ganz viel beobachtet und dann das Skript entwickelt?
Agostino Imondi: Das ergibt sich mit der Zeit. Man hat schon eine gewisse Idee im Kopf, was man eigentlich machen möchte, aber Pläne werden auch weggeschnitten, wenn es sich ergibt, dass die Familie und die einzelnen Geschichten ganz andere Wege gehen. Und dann muss das Skript, das Drehbuch, das es beim Dokumentarfilm gibt, immer wieder umgeschrieben werden. Man muss sich auch immer wieder herantasten. Es ist keine festgeschriebene Geschichte, die man sich hier ausdenkt, das sind echte Geschichten. Und im echten Leben ändert sich ja immer wieder etwas. Wir haben dreieinhalb Jahre gedreht und es kamen immer wieder neue Schienen auf, die wir dann auch verfolgt haben, zum Beispiel Maradona Auftritt bei der Show "Das Supertalent".
Dreieinhalb Jahre Drehen, wieviel Material entsteht denn dabei?
Dietmar Ratsch: Das sind ja Projekte der Langzeitbeobachtung und teilweise auch auf Video gedreht. Angefangen haben wir noch, auf Kassetten zu drehen, später haben wir dann auf Speicherkarten gedreht in HD. Das ist immer so ein Drehverhältnis zwischen 1 zu 100 und 1 zu 150, es können dann locker 150 bis 200 Stunden Filmmaterial entstehen.
Nach welchen Kriterien wird das Material gesichtet?
Dietmar Ratsch: Es wird ja dauernd gedreht, beobachtend gedreht. An einem Tag wird zum Beispiel vier Stunden gedreht, aber mit dem Wissen, das 97 Prozent rausfliegen. Weil man hofft, dass dann in der Drehsituation etwas Spontanes, etwas Situatives passiert, sodass man einen möglichst authentischen Eindruck vermittelt. Und deshalb lässt man oftmals laufen, laufen, laufen. Weil das ja nicht sehr viel kostet. Aber in der Auswertung und im Schnitt dauert das nachher sehr lange. Dadurch entstehen so große Drehverhältnisse. Bei diesem Film finden wir, dass es dann auch fast irgendwie szenisch oder authentisch rüberkommt - sodass manche meinen, es sei eher ein Spielfilm als ein Dokumentarfilm.
Haben die Protagonisten Einfluss auf den Schnitt nehmen können?
Agostino Imondi: Also mitgeredet im Sinne von was reindarf und was nicht haben Sie nicht. Wir haben ihnen von Anfang an klargemacht, dass sie sich den Rohschnitt anschauen können, bevor der Film irgendwo gezeigt wird, dass Sie zuerst einmal den Film sehen, damit Sie auch sehen können, dass Sie da nicht falsch repräsentiert werden, dass Sie nicht irgendwie bloßgestellt werden. Das haben wir dann auch gemacht und sie haben - die Mutter vor allem - uns dann den Segen gegeben, dass wir vom Rohschnitt aus mit dem Feinschnitt weitermachen können.
Der Rütli-Campus war auch einer der Drehorte, das Thema "Rütli-Schule" war damals in den Medien sehr präsent. Inwiefern ist "Neukölln Unlimited" denn auch eine Antwort auf Klischees, die es um Jugendliche im "Problemkiez" oder an "Problemschulen" gibt?
Agostino Imondi: Also damals als der Film entstand, war das genau die Grundidee, dass es eben auch eine andere Seite von dieser Problematik gibt und diese Problematik oft von den großen Medien aufgebauscht und eigentlich ein sehr verzerrtes Bild gezeigt wurde. Es wurden sehr viele Vorurteile aufgebracht - als ob alle Türken oder Araber hier "Schmarotzer" sind, oder "Jugendkriminelle". Ich wollte zeigen, dass die Realität eigentlich ganz anders aussieht. Natürlich gibt es viele Probleme, aber wir haben den Fokus auf die große Mehrheit der Leute gelegt, die eben nicht in den Medien repräsentiert werden. Aber in den Köpfen mancher Leute scheint diese andere Realität nicht zu existieren. Das sind die Leute die wir auch erreichen wollten.
Freut es Sie, wenn sich junge Menschen den Film auch heute noch ansehen?
Agostino Imondi: Als Filmemacher freut es mich natürlich schon, anderseits wäre es mir aber lieber wenn Filme wie "Neukölln Unlimited" nicht mehr nötig wären, weil unsere Gesellschaft einen Wandel in der Mentalität vollzogen hat. Das wäre schön. In den letzten Jahren haben wir in Deutschland zwar große Schritte nach vorne gemacht, aber es gibt immer noch viel zu tun in Sachen Akzeptanz und beim Abbauen von Vorurteilen. Es scheint mir auch als hätte sich der Fokus nun von den türkisch- oder arabischstämmigen Menschen auf die Sinti- und Roma-Communities verschoben. Wenn ich Schlagzeilen wie "Sozialtourismus" und ähnliches lese, wird mir schon mulmig - vor allem wenn man sich daran erinnert, dass vor Jahrzehnten neben den Juden auch die Sinti und Roma verfolgt wurden aufgrund von Vorurteilen, die heute immer noch bestehen. Aus diesem Grund betrachte ich Filme wie "Neukölln Unlimited" immer noch als sehr wichtig, solange solche Vorurteile existieren.
Für welche Themen der politischen Bildung könnte oder sollte "Neukölln Unlimited" sensibilisieren?
Dietmar Ratsch: Also auf jeden Fall für mehr Toleranz, ein differenzierteres Hingucken, nicht jeden Asylbewerber über einen Kamm zu scheren oder zu pauschalisieren, sondern um genau hinzugucken. Mut dem Einzelnen zu geben, dass er, wenn er etwas will, es auch erreichen kann, das als positives Beispiel zu sehen!
Agostino Imondi: Und es geht auch um "Self-Empowerment", wie man auf Englisch sagt. Dass man, wenn man selber keine Perspektiven vom Umfeld bekommt, daran arbeiten kann, sich selber welche zu schaffen. Ich glaube, dass ist auch die positive Botschaft, die dieser Film rüberbringt.
Das Interview führte Johannes Zerbst.