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Historische Entwicklung der Einwanderung und Einwanderungspolitik in Frankreich | Frankreich | bpb.de

Frankreich Frankreich und die Einwanderung

Historische Entwicklung der Einwanderung und Einwanderungspolitik in Frankreich

Dr. Marcus Engler

/ 6 Minuten zu lesen

Frankreich hat eine lange und wechselhafte Migrationsgeschichte, die wesentlich geprägt ist von ökonomischen Modernisierungsprozessen und militärischen Auseinandersetzungen. Dabei wechselten sich Phasen der offenen Aufnahme von Zuwanderern mit Phasen einer restriktiven Zuwanderungs- und Integrationspolitik regelmäßig ab.

Bürgermeister Pierre Ruais empfängt im Hôtel de Ville in Paris Kinder aus den algerischen Krisengebieten, 28.07.1956. (© picture-alliance/akg)

Die Zuwanderung intensivierte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts, da es im Zuge des Industrialisierungsprozesses, bei gleichzeitig sinkenden Geburtenraten, zu einem Mangel an Arbeitskräften gekommen war. Damit stellte Frankreich in dieser Phase eine Ausnahme in Westeuropa dar. Die meisten anderen Industriestaaten, darunter auch Deutschland, hatten höhere Geburtenraten und waren primär Auswanderungsländer. Durch den Bevölkerungsrückgang infolge der Kriege von 1870/71 und 1914–1918 verschärfte sich der Engpass auf dem französischen Arbeitsmarkt weiter. Um diesen zu beseitigen, schloss Frankreich früher als andere europäische Staaten Anwerbeabkommen u.a. mit Italien (1919), Polen (1919), der Tschechoslowakei (1920) und Spanien (1932). Zu Beginn der 1930er Jahre war Frankreich – gemessen in absoluten Zahlen – nach den USA das zweitwichtigste Einwanderungsland der Welt. Damals lebten etwa 2,7 Millionen Einwanderer in Frankreich (6,6 Prozent der Gesamtbevölkerung). Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Wirtschaftsaufschwungs der 1950er und 1960er Jahre warb Frankreich ähnlich wie andere europäische Staaten erneut – überwiegend männliche – Arbeitskräfte auf der Basis bilateraler Abkommen mit Italien (1946), Griechenland (1960), Spanien (1963), Portugal (1964), Marokko (1964), Tunesien (1964), der Türkei (1965) und Jugoslawien (1965) an. Gleichzeitig verstärkte sich die Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien infolge des Prozesses der Interner Link: Dekolonialisierung . Vor allem im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg (1954–1962) und der darauffolgenden Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 kam es zu einer umfangreichen Zuwanderung französischer Siedler und pro-französischer Algerier nach Frankreich. 1964 schloss Frankreich ein Abkommen zur Anwerbung algerischer Arbeitskräfte mit dem nun unabhängigen Land. In der Wirtschaftskrise der frühen 1970er Jahre folgte Frankreich dem Vorbild anderer europäischer Länder und beendete 1974 alle Anwerbeprogramme für ausländische Arbeitskräfte. Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps lebten 3,5 Millionen Migranten in Frankreich, die insgesamt einen Anteil von sieben Prozent an der Gesamtbevölkerung stellten. Portugiesen und Algerier bildeten mit jeweils rund 20 Prozent die größten Gruppen. Das Ende der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte führte jedoch nicht zu einer Rückkehr der Einwanderer in ihre Heimatländer bzw. einem Ende der Einwanderung. Ähnlich wie in anderen Anwerbestaaten blieben viele Einwanderer in Frankreich und holten ihre Familien nach. Die Familienzusammenführung ist seitdem die zahlenmäßig wichtigste Form der Zuwanderung.

Debatten um Zuwanderung und Integration seit den 1980er Jahren

Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre gibt es Debatten um die Integration von Zuwanderern – insbesondere aus den Maghreb-Staaten – und über die Grenzen des republikanischen Integrationsmodells. In diesem Modell erfolgt die Integration von Einwanderern als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Integrationsstrategie, die auf universellen Werten basiert. Grundlage ist ein politisches Nationenkonzept, welches alle Staatsbürger vor dem Gesetz gleichstellt und ethnische oder religiöse Identitäten ausblendet. Immer wieder kommt es – wie im Herbst 2005 und 2007 und im Sommer 2010 – zu gewaltsamen Konflikten, an denen vielfach Jugendliche aus Einwandererfamilien beteiligt sind. Gleichzeitig ist seit den 1980er Jahren ein zunehmender Erfolg rechtsextremer politischer Kräfte, insbesondere des Front National, zu beobachten. Diese beiden Symptome sind jedoch nur die sichtbarsten Ausprägungen der Krise des republikanischen Integrationsmodells in Frankreich.

Seit den 1990er Jahren hat sich zudem das Spannungsverhältnis zwischen den republikanisch-glaubensneutralen Werten (laïcité) der Republik und dem Recht auf freie Religionsausübung, insbesondere der wachsenden muslimischen Gemeinschaft, weiter verstärkt und ist zu einem zentralen Streitthema geworden (vgl. das Kapitel Interner Link: Umgang mit dem Islam ), das auch aufgrund mehrerer islamistisch begründeter Terroranschläge seit 2012 viel Aufmerksamkeit erhält.

Gleichzeitig zeichnet sich zu dieser Entwicklung aber auch ein wachsendes Bewusstsein darüber ab, dass Einwanderung einen integralen Bestandteil und eine Bereicherung der französischen Gesellschaft darstellt. Als symbolträchtige Beispiele für diese Entwicklung können die Fußball-Weltmeisterschaft 1998 (die équipe tricolore holte im eigenen Land den Titel, die meisten Spieler hatten einen Migrationshintergrund), die Eröffnung eines Museums zur Geschichte der Einwanderung (Cité nationale de l‘histoire de l’immigration, CNHI, eingeweiht am 10. Oktober 2007) sowie die Ernennung von Rachida Dati zur ersten Ministerin aus einer Einwandererfamilie (im Amt 2007–2009) gelten.

Phasen migrationspolitischer Öffnung und Schließung (1990er bis 2010er Jahre)

Die Einwanderungs- und Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte unterliegt einem permanenten Wechsel, in starker Abhängigkeit von der jeweiligen Regierungskonstellation. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren verfolgte der konservative Innenminister Charles Pasqua (Rassemblement Pour la République, RPR) das Ziel einer Null-Einwanderungs-Politik (immigration zéro). Zahlreiche migrationspolitische Regelungen wurden dabei verschärft. So verlängerte sich die Wartezeit für Familienzusammenführungen von einem auf zwei Jahre und ausländische Absolventen französischer Universitäten durften keine Arbeit in Frankreich mehr aufnehmen. Insbesondere der "Kampf" gegen irreguläre Migration rückte in den Fokus. Die Einführung der sogenannten "Pasqua Gesetze", mit denen u.a. die Einbürgerung erschwert wurde, war heftig umstritten. Die Proteste fanden ihren Höhepunkt 1996 in der Besetzung einer Kirche in Paris durch Migranten aus afrikanischen Staaten und China, die lange Jahre ohne Aufenthaltsstatus in Frankreich gelebt hatten und auf ihre prekäre Situation aufmerksam machen wollten. Tausende von Menschen unterstützten die Protestaktionen der Sans-Papiers.

Die Mitte-Links-Regierung unter Premierminister Lionel Jospin (Parti Socialiste, PS) nahm ab 1997 viele der restriktiven Regelungen zurück oder schwächte sie ab. Zudem schuf sie einen speziellen Einwanderungsstatus für hochqualifizierte Arbeitnehmer, Wissenschaftler und Künstler. Im Jahr 1997 wurde außerdem ein Legalisierungsprogramm für Ausländer aufgelegt, die sich ohne entsprechende Erlaubnis im Land aufhielten (vgl. das Kapitel Irreguläre Zuwanderung ). Bei den Präsidentschaftswahlen 2002 erreichte Jean-Marie Le Pen, der Kandidat des rechtsextremen Front National, überraschend und erstmalig in der Geschichte die zweite Wahlrunde. Mit einem migrations- und europafeindlichen Programm erhielt Le Pen mehr Stimmen als Lionel Jospin und versetzte weite Teile Frankreichs in einen Schockzustand.

Die Jahre 2002-2012, in denen sowohl Regierung als auch Präsident (Jacques Chirac bis 2007 und Nicolas Sarkozy 2007-2012) von Konservativen gestellt wurden, waren geprägt von einer Rückkehr zu einer restriktiveren Einwanderungspolitik und einem konfliktvolleren Umgang mit dem Thema Einwanderung und Integration. Umstritten war insbesondere die Rhetorik des damaligen Innenministers Sarkozy, der im Jahr 2005 Vorstadtbewohner u.a. als "racaille" (dt. Gesindel oder Abschaum) bezeichnet und angekündigt hatte, die Vorstädte mit einem "Kärcher" reinigen zu wollen.

Migrationspolitische Restriktionen schlugen sich u.a. in einem neuen Einwanderungsgesetz (loi relative à l‘immigration et à l’intégration) nieder, das am 30. Juni 2006 verabschiedet wurde und die Zuwanderung stärker nachfrageorientiert steuern sollte (immigration choisie; dt.: gewählte Einwanderung). Es enthält härtere Auflagen für den Familiennachzug, eine neu geschaffene Aufenthaltserlaubnis für besonders qualifizierte Arbeitnehmer (carte compétences et talents) sowie einen verpflichtenden Aufnahme- und Integrationsvertrag (contrat d‘accueil et d’intégration, CAI) für Ausländer, die dauerhaft im Land bleiben wollen. Der Integrationsvertrag sieht die Teilnahme an zivilgesellschaftlichen Schulungen und Sprachkursen vor. Kommen Zuwanderer ihrer Integrationsverpflichtung nicht nach, so kann dies die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung gefährden. Abgeschafft wurde die automatische Legalisierung von Einwanderern, die ohne Aufenthaltserlaubnis seit mindestens zehn Jahren in Frankreich leben. Die Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy war auch geprägt von einem "Kampf gegen illegale Einwanderung". Die Zahl der Abschiebungen stieg leicht an. Anhaltendes Konfliktthema war der Umgang mit Roma aus Rumänien und Bulgarien, der international zu großer Kritik führte. Seit 2010 wurden illegale Roma-Siedlungen aufgelöst und hunderte Roma in ihre Herkunftsländer abgeschoben, vor allem nach Rumänien und Bulgarien.

Die sozialistische Regierung unter Präsident François Hollande (2012-2017) verfolgte erneut einen moderateren Kurs. Dieser wurden jedoch stark von anhaltenden ökonomischen Problemen, der europäischen "Flüchtlingskrise" und mehreren schweren Terroranschlägen in Frankreich überlagert (vgl. das Kapitel Interner Link: Jüngere migrationspolitische Entwicklungen ).

Fussnoten

Fußnoten

  1. Moch (2017); Weil (1995).

  2. Allein im Ersten Weltkrieg wurden 1,4 Millionen Franzosen getötet bzw. arbeitsunfähig.

  3. Mit Italien hatte Frankreich bereits vor dem Zustandekommen des Anwerbeabkommens vertragliche Regelungen zur Organisation von Arbeitskräftezuwanderung unterhalten. Das Land stellte traditionell die wichtigste Quelle für ausländische Arbeitskräfte dar.

  4. Für detaillierte Informationen zu bilateralen Wanderungsverträgen in Europa zwischen 1919 und 1974 siehe Rass (2010).

  5. Insgesamt handelte es sich um etwa zwei Millionen Personen. Zuwanderer aus Algerien, die europäischer Herkunft waren, wurden meist als pieds-noirs ("Schwarzfüße") bezeichnet. Daneben traten die etwa 100.000 sogenannte Harkis, d.h. muslimische Algerier, die während des Algerienkriegs auf Seiten der französischen Armee gekämpft hatten. Während die Mehrzahl der Harkis nach dem Rückzug der Franzosen ermordet wurde, gelang es einem kleinen Teil, nach Frankreich zu emigrieren. Ihre Rechtslage war lange umstritten.

  6. Bertossi (2007); Heckmann/Tomei (1997).

  7. Siehe Newsletter "Migration und Bevölkerung" 10/05.

  8. Auf Deutsch: "ohne Papiere", wie irreguläre Migranten in Frankreich auch genannt werden.

  9. SVR (2015).

  10. Siehe Newsletter "Migration und Bevölkerung" 4/06.

  11. Siehe Newsletter "Migration und Bevölkerung" 7/10 sowie das Länderprofil Frankreich im Fischer Weltalmanach 2012.

Lizenz

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Marcus Engler ist Sozialwissenschaftler und Migrationsforscher. Seit langem verfolgt er die Entwicklungen in der französischen Migrations- und Integrationspolitik. Er absolvierte einen Freiwilligendienst in einer Beratungsstelle für Migranten in Marseille. Anschließend studierte er Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Institut d’Etudes Politiques in Paris. Derzeit ist er als selbständiger Autor, Referent und Berater tätig und ist Mitglied im Netzwerk Flüchtlingsforschung und im Netzwerk Migration in Europa.
E-Mail: E-Mail Link: engler@migration-analysis.eu