Migrations- und Fluchtpfade aus Afrika nach Europa
Benjamin Etzold
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Migrationen aus Afrika nach Europa stehen immer wieder im Fokus der Aufmerksamkeit – nicht zuletzt aufgrund tragischer Schiffsunglücke auf dem Mittelmeer. Auf welchen Migrations- und Fluchtpfaden versuchen Menschen aus afrikanischen Staaten den europäischen Kontinent zu erreichen? Der Beitrag stellt die Migrationsrouten und humanitären Konsequenzen langer und unsicherer Flucht- und Migrationswege vor.
Zwischen 2005 und 2010 sind 8,7 Millionen Menschen aus außereuropäischen Ländern nach Europa zugewandert, davon kamen 18,3 Prozent aus afrikanischen Ländern (875.000 aus Nordafrika, 1,2 Millionen aus Subsahara-Afrika, insgesamt: 2,1 Millionen). Das zentrale Problem, dem sich die Migrantinnen und Migranten aus Afrika gegenübersehen, ist der Mangel an legalen Migrationswegen. Die Bürger aus allen afrikanischen Ländern benötigen ein Visum, um legal und sicher mit dem Flugzeug in die Europäische Union (EU) einreisen zu können. Doch nur die politischen und ökonomischen Eliten haben die Möglichkeit, ein Visum zu erhalten, da sie die von den EU-Mitgliedstaaten festgelegten Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis erfüllen. Der Großteil der Afrikanerinnen und Afrikaner, die Schutz oder eine bessere Lebensperspektive in Europa suchen, ist daher darauf angewiesen "klandestine Wege" der Migration zu nutzen.
Diese Migrationspfade aus Afrika nach Europa sind häufig unterbrochen und nicht geradlinig: Je nach den zur Verfügung stehenden Informationen, finanziellen Ressourcen und Reisedokumenten, und je nach den Chancen und Gefahren, die sich Migrantinnen und Migranten auf dem Weg bieten bzw. stellen, verläuft die Reise über viele Länder und Etappen. Es gibt längere Phasen des Aufenthaltes sowie Vor- und Zurück-Bewegungen. Organisationen, die Migrationsbewegungen weltweit beobachten und für die Sicherung der EU-Außengrenzen zuständige politische Akteure fassen diese vielen einzelnen multi-direktionalen Bewegungen in größeren Migrationskorridoren zusammen. Für die Bewegungen der Migranten und Flüchtlinge aus Afrika in die Europäische Union verzeichnen sie in ihren Karten vier Hauptrouten: die westafrikanische Route, die westliche Mittelmeerroute, die zentrale Mittelmeerroute und die östliche Mittelmeerroute.
Laut Angaben der Interner Link: Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind 2015 1.047.000 Menschen über Seewege (1.012.000) und Landwege (35.000) aus Afrika in die EU gelangt und wurden beim Überqueren einer Außengrenze erfasst. 2016 waren es bis Ende November 374.000 Menschen, davon 351.000 auf dem Seeweg. Die Zahl der Menschen, die auf den jeweiligen Routen reisen, kann mit Hilfe von Grenzaufgriffsstatistiken abgeschätzt werden (siehe Abbildung 1). Im Zeitraum zwischen 2001 und 2016 wurden an den EU-Außengrenzen auf den jeweiligen Routen insgesamt 2,5 Millionen Migrantinnen und Migranten aus Afrika und Asien aufgegriffen. Bemerkenswert sind nicht nur die sehr starken Schwankungen, sondern auch drei räumliche Verschiebungen.
Abbildung 2: Zahl der an den EU-Außengrenzen aufgegriffenen Personen nach Migrationsrouten 2010-2016 (bpb)
Bis Anfang der 2000er Jahre reisten auf der westlichen Mittelmeerroute über Mali, Algerien und Interner Link: Marokko insbesondere Migrantinnen und Migranten aus Westafrika bis nach Spanien. Sie überquerten in kleinen Booten die Meerenge von Gibraltar oder überwanden die Zäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Nordmarokko. Als im Herbst 2005 hunderte Migranten über die Grenzzäune kletterten, wurden die Zäune erhöht und auch mit Hilfe des marokkanischen Militärs besser gesichert. Die Meerenge von Gibraltar riegelte Spanien mit finanzieller Unterstützung der EU durch das SIVE-Grenzüberwachungssystem hermetisch ab. In der Folge verlagerte sich die Migration auf die westafrikanische Route. Boote legten schon im Interner Link: Senegal oder an den Küsten Mauretaniens und Südmarokkos ab und steuerten die Kanarischen Inseln an. 2006 kamen dort 32.000 Migranten an. Die Zahl der Migranten auf der westafrikanischen Route und der westlichen Mittelmeerroute ging aufgrund von Patrouillen der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex an Mauretaniens und Marokkos Küsten sowie der verschärften Grenzsicherung an den Küsten Südspaniens stark zurück; die Migrationsbewegungen verlagerten sich nach Osten. Mittlerweile kommen nur noch wenige Migranten über die beiden westlichen Routen nach Europa; 2016 waren es lediglich etwa 8.400 Menschen.
Auf der zentralen Mittelmeeroute laufen die Migrationspfade aus West-, Zentral- und Ostafrika zusammen. Die wichtigsten Transitländer sind der Sudan, Niger und Libyen. Libyen war aufgrund seiner boomenden Wirtschaft und der hohen Arbeitskräftenachfrage ein wichtiges Ziel für viele Arbeitsmigranten aus Subsahara-Afrika; nur wenige wollten weiter nach Europa. In den Jahren 2001 bis 2007 überquerten im Jahresdurchschnitt nur etwa 22.000 Migranten das Mittelmeer von Libyen nach Italien oder Malta. Nachdem sich 2008 die Zahl der in Italien und Malta angekommenen Migranten auf 40.000 erhöht hatte, unterzeichneten Italien und Libyen ein "Freundschaftsabkommen", in dem die Kooperation bei der Grenzsicherung, die Bekämpfung von Schleppern und somit das Verhindern der Abfahrt von Booten aus Libyen sowie die Rücknahme von in Italien angelandeten Migranten und Flüchtlingen vereinbart wurde. In der Folge sank die Zahl der Überfahrten drastisch: 2010 erreichten nur noch 4.500 Menschen Südeuropa über die zentrale Mittelmeerroute. Dies änderte sich im Zuge des Arabischen Frühlings und des Interner Link: Krieges in Libyen. 2011 stieg die Zahl der Überfahrten und somit auch der Grenzaufgriffe an Südeuropas Küsten sprunghaft auf 64.000 an; im östlichen Mittelmeerraum waren es im gleichen Jahr 57.000. Im Jahr darauf, als sich die Situation in Libyen zunächst wieder beruhigte, ging auch die Zahl der Überfahrten nach Lampedusa, Sizilien und Malta wieder zurück. Die chaotische politische Situation und die höchst prekären Lebensumständen in Libyen führten dann aber zu ganz neuen Dimensionen. So stieg die Zahl der Flüchtlinge und Migranten auf der zentralen Mittelmeerroute von 40.000 im Jahr 2013 auf 170.000 in 2014. Im Jahr 2015 sank sie auf 154.000, stieg aber 2016 wieder auf über 173.000 an.
Schon seit 2007 kommen – mit Ausnahme der Jahre 2011, 2013 und 2014 – die meisten Migranten und Flüchtlinge über die östliche Mittelmeerroute in die EU, d.h. über die Türkei auf dem Seeweg auf die griechischen Ägaisinseln (Lesbos, Kos, etc.) und in geringerer Zahl auch auf dem Landweg nach Nordgriechenland und Bulgarien. In den letzten drei Jahren ist die Zahl der über diesen Weg Ankommenden exponentiell gestiegen – und somit rückte dieser Weg auch verstärkt ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der Anstieg von 25.000 Menschen im Jahr 2013 auf 51.000 in 2014 und 885.000 in 2015 ist vor allem auf die Eskalation des Interner Link: Bürgerkrieges in Syrien und auf die verheerenden Lebensumstände der Flüchtlinge im Interner Link: Libanon, Interner Link: Jordanien und der Interner Link: Türkei zurückzuführen. Diesen Weg nutzen aber auch zahlreiche Flüchtlinge und Migranten aus dem Interner Link: Irak und aus Interner Link: Afghanistan, aus Interner Link: Somalia und Eritrea, oder auch aus Interner Link: Marokko und Algerien. Seit der sukzessiven "Schließung" der Grenzen auf der sogenannten Westbalkanroute (Ungarn-Serbien, Mazedonien-Griechenland) und dem Rücknahme- bzw. Grenzsicherungsabkommen zwischen der EU und der Türkei im Interner Link: März 2016 sank die Zahl der in Griechenland Ankommenden rapide. Dennoch waren es auf das ganze Jahr 2016 betrachtet immer noch 180.000. Stattdessen legen wieder mehr Boote von der libyschen und ägyptischen Küste ab. Bis Ende November 2016 kamen über die zentrale Mittelmeerroute 173.000 Menschen nach Europa – Nigeria, Eritrea, Gambia, Elfenbeinküste, Guinea und Sudan sind die wichtigsten afrikanischen Herkunftsländer. Die Interner Link: Türkei und Libyen bleiben die beiden Schlüsselländer für die Sicherung der EU-Außengrenzen, das angestrebte bessere Management der Migrationsbewegungen und den Flüchtlingsschutz.
Humanitäre Konsequenzen langer und unsicherer Flucht- und Migrationswege
2016 wurde ein neuer trauriger Rekord erreicht. Nach Angaben der IOM kamen 4.700 Flüchtlinge und Migranten auf den Mittelmeerrouten nach Europa ums Leben. Diese Menschen hatten nicht die Möglichkeit, ein Visum zu erhalten und auf sicherem und legalem Weg Europa zu erreichen. Stattdessen wagten sie die Überfahrt in überfüllten Schlauchbooten oder Fischkuttern und ertranken, als ihr Schiff sank. Tagtäglich spielen sich solche Tragödien an den südlichen Rändern Europas ab. Die IOM schätzt, dass seit dem Jahr 2000 über 46.000 Menschen auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen sind. Die zentrale Mittelmeerroute ist die gefährlichste, denn hier ist die Überfahrt am längsten und hier setzen die von Libyen agierenden Schlepperorganisationen besonders häufig seeuntaugliche Boote ein. 90 Prozent der 2016 im Mittelmeer Gestorbenen waren auf dieser Route unterwegs.
Trotz der zahlreichen "großen" Schiffsunglücke im Mittelmeer, wie z.B. im Oktober 2013, als 380 Menschen vor Lampedusa starben, welche das Thema in das Licht der Öffentlichkeit gerückt haben, und trotz Rettungsaktionen durch Schiffe von Hilfsorganisationen, Marineeinheiten und Küstenschutzbooten fehlt bislang eine konsequente politische Antwort. Mehr Interner Link: legale Möglichkeiten der Einreise und sichere Passagen für Schutzsuchende und Migranten, die den Interner Link: Schleppern ihre Geschäftsgrundlage entziehen würden, sind bislang nicht geschaffen worden. Die extrem hohe Verwundbarkeit der Migranten ist somit letztlich auch eine Folge der europäischen Migrations-, Asyl- und Grenzsicherungspolitik.
Doch die gefährliche Passage über das Mittelmeer ist für die meisten Migrantinnen und Migranten aus Afrika nur die letzte Etappe einer Reise, die sich über Monate – und manchmal Jahre – hinzieht. So waren 22 Prozent der Migranten und Flüchtlinge aus West-, Zentral- und Ostafrika, die nach ihrer Ankunft in Italien befragt wurden, über zwei Jahre unterwegs. Auf ihrem Weg sind sie oft zu Zwischenstopps gezwungen, da sie die nächste Etappe nicht finanzieren können und in den auf den Hauptmigrationsrouten liegenden Städten arbeiten oder auf eine Geldüberweisung ihrer Familienangehörigen warten. Teilweise werden sie auch von Grenzbeamten verhaftet und in Lagern inhaftiert oder von kriminellen Gruppen verschleppt, eingesperrt und zur Zwangsarbeit gezwungen. Die Zahl der Menschen, die auf dem Weg durch die Saharawüste ums Leben gekommen sind, kann nur erahnt werden. Die Dunkelziffer liegt höher als die der Toten im Mittelmeer.
Die Wege aus Afrika nach Europa sind nicht schnell und direkt, sondern verschlungen und multidirektional – und für die meisten Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge lebensgefährlich.
Dr. Benjamin Etzold arbeitet am Friedens- und Konfliktforschungszentrum Bonn International Centre for Conversion (BICC) im BMBF-Projekt "Flucht: Forschung und Transfer". Er ist promovierter Geograph und hat sich in seinen Arbeiten mit Verwundbarkeit, Lebenssicherung, Raumaneignung und Mobilität in Bangladesch sowie mit Migration in Afrika und im europäischen Grenzraum auseinandergesetzt.
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