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"Das große Engagement in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit zeigt: Die Zivilgesellschaft ist offen für Migration." | Zivilgesellschaftliches Engagement in der Migrationsgesellschaft | bpb.de

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"Das große Engagement in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit zeigt: Die Zivilgesellschaft ist offen für Migration." Ein Interview mit dem Migrationsforscher Dr. J. Olaf Kleist.

J. Olaf Kleist

/ 11 Minuten zu lesen

Die stark angestiegenen Flüchtlingszahlen in Deutschland und Europa überforderten im Sommer 2015 vorübergehend staatliche Strukturen zur Registrierung, Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten. Eine zunehmende Zahl von Bürgern, die den Eindruck hatten, Schutzsuchende bräuchten ihre Unterstützung, engagierte sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit. Das zivilgesellschaftliche Engagement hat sich zu einem breiten gesellschaftlichen Phänomen entwickelt, dem sich auch die Wissenschaft widmet.

Freiwillige Helfer haben ein Büffet für Flüchtlinge aufgebaut. Grundsätzlich engagieren sich mehr Frauen in der ehrenamtlichen Arbeit in sozialen Bereichen. (© picture-alliance/dpa)

Ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit hat sich in den vergangenen Jahren zu einem breiten gesellschaftlichen Phänomen entwickelt. Humanitärer Gestus, politisches Statement oder vorübergehender Trend?

Dr. J. Olaf Kleist: Die stark angestiegenen Flüchtlingszahlen in Deutschland und Europa überforderten im Interner Link: Sommer 2015 vorübergehend staatliche Strukturen zur Registrierung, Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten. Eine zunehmende Zahl von Bürgern, die den Eindruck hatten, Schutzsuchende bräuchten ihre Unterstützung, engagierte sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit. Das zivilgesellschaftliche Engagement hat sich zu einem breiten gesellschaftlichen Phänomen entwickelt, dem sich auch die Wissenschaft widmet.

Politikwissenschaftler Dr. J. Olaf Kleist vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück sowie Dr. Serhat Karakayali vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin leiten das Externer Link: Projekt "Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit". In bisher zwei explorativen, nicht-repräsentativen Umfragen gingen sie der Frage nach, wer die Ehrenamtlichen sind, was sie tun, wie sie sich organisieren und was sie dazu motiviert, Geflüchteten zu helfen. An der Externer Link: ersten Umfrage Ende 2014 nahmen über 460, an der Externer Link: zweiten Umfrage Ende 2015 2.291 ehrenamtlich Tätige aus Deutschland teil. Die Redaktion von focus Migration hat mit Olaf Kleist über die Ergebnisse der Studien gesprochen.

Herr Kleist, wer sind die Ehrenamtlichen, die sich für Flüchtlinge einsetzen? Unterscheiden sich Befragte aus der ersten und der zweiten Erhebung?

Dr. J. Olaf Kleist: Bis 2014 hatten Hilfsorganisationen bereits einen Anstieg des Interesses an ehrenamtlicher Flüchtlingsarbeit um 70 Prozent wahrgenommen. Das war die Motivation für uns, das Phänomen der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit zu untersuchen. Dabei haben wir festgestellt, dass sich unter den Befragten überwiegend Frauen in der Arbeit mit Geflüchteten engagieren; drei Viertel der Ehrenamtlichen sind weiblich. In der Umfrage 2014 zeigte sich im Hinblick auf die Altersstruktur, dass vor allem Bürger im Alter zwischen 20 und 30 Jahren – besonders Studierende – sowie über 50-Jährige in der Flüchtlingsarbeit aktiv waren. Beide Ergebnisse haben uns erstaunt, weil in der ehrenamtlichen Arbeit insgesamt normalerweise Männer (z.B. Freiwillige Feuerwehr) und Helfer mittleren Alters dominieren. In der Regel engagieren sich jene ehrenamtlich, sowohl für Flüchtlinge als auch anderweitig, die eine stabile soziale Position in der Gesellschaft innehaben und gut gebildet sind. Bis zur zweiten Umfrage von 2015 lässt sich jedoch in vielerlei Hinsicht eine Annäherung an den gesellschaftlichen Durchschnitt erkennen: Das ehrenamtliche Engagement verteilte sich unter den Befragten gleichmäßiger auf alle Altersgruppen, der Anteil der Studierenden nahm ab, während der Anteil der Erwerbstätigen stieg. Ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit erfährt ein Mainstreaming. Außerdem konzentrierte sich in der ersten Umfrage der Großteil der Ehrenamtlichen in großen Städten. Das überraschte uns, denn Zeitungen berichteten, dass es große Hilfsbereitschaft vor allem in kleinen Orten gebe. Wir stellten dagegen fest: Je größer die Stadt, desto mehr Engagement gab es. In der zweiten Umfrage stellten wir eine Verteilung auf verschiedene Stadtgrößen fest. Auch Kleinstädte und Landgemeinden sind inzwischen vertreten. Zwar fällt die Hilfe in Großstädten weiterhin überproportional hoch aus, doch zeichnet sich auch eine deutliche Zunahme in den kleinen und mittleren Städten ab. Die nun gleichmäßigere Verteilung nach Alter und Gemeindegröße spiegelt die Gesellschaft eher wider. Eine Angleichung an die gesellschaftlichen Verhältnisse stellt sich hingegen in puncto gender nicht ein. Die Ergebnisse der zweiten Umfrage zeigen, dass Frauen in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit unter den Befragten nach wie vor überrepräsentiert sind.

Warum engagieren sich vorwiegend Frauen?

Dr. J. Olaf Kleist: Das ist nicht unbedingt verwunderlich. Grundsätzlich engagieren sich mehr Frauen in der ehrenamtlichen Arbeit in sozialen Bereichen. In den jüngeren Jahrgängen findet hier jedoch eine Angleichung statt. Der Anteil der Männer im Ehrenamt nimmt im Allgemeinen zu, allerdings nicht in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit, zumindest nicht unter unseren Befragten.

Auffallend ist, dass einerseits mehr Frauen in der Flüchtlingsarbeit aktiv sind und andererseits Organisationen mit zuwandererfeindlichen Positionen einen Männerüberschuss aufweisen. Wenn man in Betracht zieht, dass viele der Ehrenamtlichen als Motivation für ihr Engagement angeben, die Gesellschaft verändern und sich gegen Interner Link: Rassismus einsetzen zu wollen, wird eine je nach Geschlecht unterschiedliche politische Gesinnung deutlich. Diese Beobachtung scheint also eine Wechselbeziehung zwischen Geschlecht und politischem Aktivismus nahezulegen.

Was sind die Aufgabenbereiche, in denen sich Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit engagieren? Wofür wenden sie die meiste Zeit auf?

Dr. J. Olaf Kleist: Auch hier gab es Veränderungen im Zeitraum zwischen den beiden Umfragen. 2014 handelte es sich vorwiegend um Integrationsaufgaben: Begleitung zu Ämtern, Übersetzungsleistungen, Sprachunterricht und Beratung. Ein Jahr danach verlagerte sich der Fokus des Engagements auf Nothilfe; 2015 wurde zum Beispiel mehr Zeit für Essensorganisation und -verteilung sowie ganz praktische Hilfe aufgewendet. In diesen Tätigkeitsbereichen sind Helfer aktiv, die zuvor wenig Erfahrung in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit besaßen. Die anderen Aufgaben werden zwar nach wie vor erfüllt, das Verhältnis hat sich zwischen 2014 und 2015 jedoch verschoben. Viel Zeit wird dafür aufgewendet, die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit zu organisieren. Die befragten Ehrenamtlichen vernetzen sich untereinander, knüpfen Kontakte zu Kommunen, Ämtern und Flüchtlingen – sie bauen Strukturen auf. Entgegen unserer Erwartung engagiert sich der Großteil der Ehrenamtlichen nicht in etablierten Organisationen, sondern in eigenen Initiativen und Projekten. 2015 verzeichnen wir hier eine deutliche Zunahme. Das weist darauf hin, dass in der Gesellschaft ein Bedarf nach Unterstützung der Flüchtlinge im Alltag und deren Aufnahme wahrgenommen wurde, auf den Reaktionen folgten. Um diesem Unterstützungsbedarf auch längerfristig gerecht zu werden, müssten diese spontanen Initiativen und Projekte in Vereine umgewandelt, d.h. in feste Strukturen überführt werden.

Können Sie etwas zur Verortung der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in der Zivilgesellschaft sagen?

Dr. J. Olaf Kleist: Ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit gibt es bereits sehr lange. Schon im 19. Jahrhundert nahmen sich ehrenamtliche Initiativen der Neuankommenden an. Bis vor fünf, sechs Jahren war die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit aus wissenschaftlicher Sicht allerdings zu vernachlässigen: 2009 engagierten sich weniger als ein Prozent der Ehrenamtlichen für Flüchtlinge. Heute ist das anders, die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit hat sich zu einem Massenphänomen entwickelt: 2015 engagierte sich jede zehnte Person über 14 Jahren für Flüchtlinge! Wir stellen eine neue Formierung der Interner Link: Zivilgesellschaft fest. In der Forschung wurde Zivilgesellschaft bislang als die Sphäre zwischen dem Privaten und dem Staat verstanden, die ihr Engagement auf die eigene Gemeinschaft richtet. Eine solche Perspektive wird nun infrage gestellt. Die Zivilgesellschaft öffnet sich für Neuankommende und entwickelt somit ein neues Selbstverständnis. Das wiederum ist ein bedeutender Faktor für das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft. Zwar fördert die Politik seit 15 Jahren die Entwicklung hin zu einer Einwanderungsgesellschaft, zum Beispiel mit der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts und der Einführung des Zuwanderungsgesetzes; das große Engagement in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit führt nun dazu, dass Bürgerinnen und Bürger quasi von unten die Gesellschaft für Migration öffnen. Die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit ist nicht nur eine Integrationshilfe für die Neuankommenden, sondern auch indirekt eine Integrationshilfe in die Einwanderungsgesellschaft für diejenigen, die schon lange hier leben. Die Zivilgesellschaft eröffnet aktuell eine neue Perspektive auf die deutsche Gesellschaft.

Was motiviert die Ehrenamtlichen, sich freiwillig für Flüchtlinge zu engagieren?

Dr. J. Olaf Kleist: Ehrenamtliche wollen die Gesellschaft im Kleinen verändern. Sie machen auf unmittelbarer Ebene einen Missstand aus und wollen diesem entgegenwirken. Während es sich 2014 primär um einen humanitären Gestus handelte, sehen wir 2015 eine Motivationsverschiebung. Die Medienberichterstattung motivierte die Menschen vermehrt zu ehrenamtlicher Flüchtlingsarbeit; der "Sommer des Willkommens" schuf ein Gemeinschaftsgefühl: Als Helfer war man Teil einer größeren Sache. Diese Motivation dauerhaft aufrechtzuerhalten, dürfte schwierig werden. Ein weiterer Motivationsfaktor ist das politische Bewusstsein. Nicht alle, die Flüchtlingen helfen wollen, tun dies aus einem politischen Bewusstsein heraus. Häufig entsteht jedoch gerade dann ein politisches Bewusstsein, wenn man sich freiwillig engagiert. Dabei stehen das Eigenengagement und die Verantwortung des Staates in einem Spannungsverhältnis. Der überwiegende Teil der Ehrenamtlichen sieht sowohl sich selbst als auch den Staat zu gleichen Teilen in der Verantwortung, den Flüchtenden zu helfen. Sie fühlen sich nicht überlastet oder gar vom Staat allein gelassen. Im Gegenteil: Sie wollen sich explizit ehrenamtlich engagieren. Ihre Motivation ist hoch und sie schöpfen neue Motivation aus ihrem Ehrenamt. Als frustrierend empfinden sie allerdings das Verhältnis zur Politik, die der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit immer wieder Steine in den Weg legt. So fand z.B. in Bayern am 1. Oktober ein Externer Link: Warnstreik von Ehrenamtlichen gegen die dortige Integrations- und Flüchtlingspolitik statt.

Im Laufe des Jahres 2015 wurde zwar zunächst auch in den Medien viel über die große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung berichtet, im letzten Quartal wurden dann aber Stimmen laut, die vor einem "Kippen der Stimmung" warnten. Politische Maßnahmen zur Einschränkung des Asylbewerberzuzugs werden darüber hinaus auch mit dem Verweis darauf betont, dass man das ehrenamtliche Engagement nicht überbelasten dürfe. Stellen Sie einen Wandel in Bezug auf die Hilfsbereitschaft Flüchtlingen gegenüber fest? Welche Rolle spielt die Medienberichterstattung bei der Mobilisierung von Ehrenamtlichen?

Dr. J. Olaf Kleist: Ein Wandel oder ein Nachlassen in der Hilfsbereitschaft ist mit unseren Studien bisher nicht belegbar. Was wir aber sagen können, ist, dass Medien einen wichtigen Faktor für das Engagement in der Flüchtlingsarbeit darstellen. Der Umschwung in der Medienberichterstattung zog auch einen Umschwung im Engagement nach sich. Die Ehrenamtlichen sind von unterschiedlichen Motivationen angetrieben. Das Gemeinschaftsgefühl hat sich angesichts der negativen Berichterstattung sicherlich abgeschwächt. Das politisch motivierte Engagement hat sich dagegen durch die negative Berichterstattung noch verstärkt. Es handelt sich um ein hybrides Phänomen: Die Zivilgesellschaft ist auch eine politische Bewegung. Wie sich dies fortsetzen wird, bleibt abzuwarten. Erfahrungen können Motivationen verändern. Für die Motivation ist die Medienberichterstattung entscheidend.

Welche Rolle spielt die Geschichte deutscher Nachkriegsflüchtlinge für das breite Engagement?

Eine unserer Ausgangsthesen war, dass eigene oder über die Familienbiografie vermittelte Erfahrungen mit Interner Link: Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg ein Motivationsfaktor sein könnten, um sich ehrenamtlich für Flüchtlinge zu engagieren. Diese These hat sich letztlich nicht bestätigt. Allerdings entdecken die ehrenamtlichen Helfer ihre eigene Familiengeschichte wieder, die häufig eine Flucht- und Migrationsgeschichte ist: Die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit erinnert sie an die Vertreibung bzw. Flucht ihrer Eltern oder Großeltern. Unter den ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern befinden sich leicht überdurchschnittlich viele Migranten bzw. Menschen mit Migrationshintergrund. Es gibt also durchaus einen Zusammenhang zwischen dem ehrenamtlichen Engagement in der Flüchtlingsarbeit und der eigenen Migrationserfahrung.

Mit welchen Herausforderungen sind Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit konfrontiert?

Die Ehrenamtlichen sind tagtäglich mit Herausforderungen konfrontiert. Politische Hürden, wie neue Gesetze, die die Arbeitsaufnahme, Bildung und den Spracherwerb von Geflüchteten erschweren, führen zu Frustration. Die Ehrenamtlichen fühlen sich vor diesem Hintergrund nicht ernst genommen. Dabei läuft die Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene mit Behörden und der Wirtschaft in der Regel sehr gut. Strukturen werden geschaffen und Beratung wird angeboten. Auf Landes- und Bundesebene wird die Kommunikation zwischen Zivilgesellschaft und Behörden dagegen immer schwieriger. Die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit wird von den Behörden zwar toleriert, doch die Bedürfnisse der Ehrenamtlichen werden zu wenig beachtet.

Wie könnten behördliche Strukturen verbessert werden, damit Flüchtlinge beim Behördenbesuch nicht mehr oder zumindest seltener auf die Begleitung von Ehrenamtlichen angewiesen sind?

Deutschland entwickelt langsam sein Selbstverständnis als Einwanderungsland. Die vergangenen Jahre erforderten eine Öffnung und neue Strukturen, auch in den Behörden. Mehrsprachigkeit, Übersetzung, Offenheit und interkulturelle Kompetenz sind inzwischen in ein paar Ausländerbehörden zu finden. Doch das reicht nicht und da ist noch viel zu verbessern. Vor allem in Schulen müssen diese Kompetenzen vermittelt werden, um eine mehrsprachige multikulturelle Gesellschaft zu gewährleisten. Derzeit fällt die Umsetzung noch recht unterschiedlich aus. Außerdem ist ein telefonischer Übersetzungsdienst in allen Behörden notwendig, wie ihn Australien bereits hat. Bei den Abläufen in den Behörden handelt es sich allerdings um komplizierte bürokratische Verfahren, bei denen Asylbewerber über Sprachfragen hinaus Unterstützung benötigen. Daher ist es wichtig, aus den Erfahrungen im Bereich der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit zu lernen: In diesem Kontext ist zum einen deutlich geworden, an welchen Stellen unnötige Hürden für Asylsuchende und Flüchtlinge entstanden sind. Zum anderen werden wir ohne ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge aber auch in Zukunft nicht auskommen.

Ehrenamtliche müssen sich häufig selbst um die Organisation ihrer ehrenamtlichen Arbeit kümmern, da entsprechende rahmende Strukturen fehlen. Dadurch wird ein Teil ihrer Energie gebunden, die gut an anderer Stelle eingesetzt werden könnte. Was können Städte und Gemeinden sowie bereits etablierte Organisationen in der Flüchtlingsarbeit konkret tun, um hier zu unterstützen und spontanes Engagement in längerfristige Bahnen zu lenken?

Dr. J. Olaf Kleist: Die Unterstützung fällt je nach Kommune und Stadt ganz unterschiedlich aus. Einige Gemeinden arbeiten vorbildlich. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Bedürfnisse ganz unterschiedlich sind und Herausforderungen in Kleinstädten beispielsweise ganz andere sind als in Großstädten. In einigen größeren Städten gibt es speziell für die Koordination und Vermittlung von Ehrenamtlichen geschaffene Stellen, wo auch organisatorische Fragen geklärt werden: wie man einen Verein gründet, wie man sich finanziert, wer Fördergelder bereitstellt und wie man sie erhält. Mit ihrem know how ermöglichen diese Koordinatoren es den Ehrenamtlichen, sich nicht in bestehende Organisationen integrieren zu müssen, sondern ihre eigenen Strukturen aufzubauen. Es gibt so viele tolle neue Initiativen, die gefördert werden müssen. Die Möglichkeiten sind jedenfalls da, Muster gibt es. Hier wäre best practice-Forschung notwendig.

Wie nachhaltig ist die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit organisiert? Wird sie dauerhaft eine die staatlichen Maßnahmen stützende Funktion übernehmen können?

Dr. J. Olaf Kleist: Das bleibt abzuwarten. Die Zeichen sprechen dafür, dass sich etwas Dauerhaftes etabliert. Ein Vergleich mit der Friedensbewegung der Interner Link: 1970er/1980er Jahre zeigt, dass sich die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit in ähnlicher Weise entwickelt: Es gibt viele lokale Initiativen und ein dauerhaftes Interesse sich einzusetzen. In den kommenden Jahren werden weiterhin Flüchtlinge zu uns kommen. Vor allem beginnt die Integration erst jetzt, die in hohem Grade davon abhängt, wie gut und wie schnell es Flüchtlingen gelingt, sich vor Ort zu vernetzen. Die Notwendigkeit für ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit besteht also fort. Strukturen bestehen bereits jetzt. Der Staat muss diese unterstützen, denn für eine gute Integration ist das zivilgesellschaftliche Engagement genauso entscheidend wie Bildung und Arbeit.

Die Ergebnisse der ersten explorativen, nicht repräsentativen, quantitativ angelegten Untersuchung liegen in zwei Projektberichten vor. In einer zweiten Projektphase sollen sich qualitative Forschungen anschließen. Können Sie bereits etwas aus der zweiten Projektphase berichten?

Anders als in den beiden quantitativen Untersuchungen 2014 und 2015 werden wir uns in der qualitativen Forschung nicht nur auf Deutschland beschränken. Stattdessen führen wir qualitative Studien zur ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit Externer Link: auch auf der sogenannten Balkanroute durch und befragen Akteure im ehemaligen Jugoslawien und in Griechenland. Wir sprechen mit Flüchtlingen und Helfern –nicht nur mit Ortsansässigen, sondern auch mit Ehrenamtlichen, die extra in ein Land entlang der "Balkanroute" fahren, um dort vor Ort zu helfen.

Planen Sie, auch Flüchtlinge in Deutschland – also die Adressaten des ehrenamtlichen Engagements – zur ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit zu befragen?

Wir planen eine Serie von Umfragen, um Veränderungen in der ehrenamtlichen Arbeit mit Flüchtlingen nachzuvollziehen. Unsere Vermutung ist, dass die Anzahl der Ehrenamtlichen sinken und sich die Nothilfe wieder zu einer Integrationsarbeit entwickeln wird. Außerdem gehen wir davon aus, dass die geschaffenen Strukturen weiter bestehen und einen dauerhaften Effekt auf die Migranten aufnehmende Zivilgesellschaft ausüben werden. Die Zivilgesellschaft unterzieht sich einer dauerhaften Veränderung. Im November und Dezember 2016 werden wir die dritte Umfrage durchführen. Die Ergebnisse sollen möglichst im Frühjahr 2017 veröffentlicht werden. Mit der nächsten Umfrage werden wir dann vielleicht zwei oder fünf Jahre warten, um mittel- und langfristige Entwicklungen nachzuverfolgen.

Das Interview führte Anna Flack.

Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Zivilgesellschaftliches Engagement in der Migrationsgesellschaft".

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Dr. phil., Politikwissenschaftler und Mitglied am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück; Gründer des Netzwerks Flüchtlingsforschung.