Deutschland ist nicht nur empirisch, sondern auch narrativ zu einem Einwanderungsland geworden. Die Gesellschaft kann als "postmigrantisch" beschrieben werden. Was verbirgt sich hinter dieser Bezeichnung?
Das Einwanderungsland Deutschland befindet sich in einem Prozess, in welchem Zugehörigkeiten, nationale (kollektive) Identitäten, Partizipation und Chancengerechtigkeit postmigrantisch, also nachdem die Migration erfolgt und nun von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit als unumgänglich anerkannt worden ist, nachverhandelt und neu justiert werden. Das Präfix "post" steht dabei nicht für das Ende der Migration, sondern beschreibt gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, die in der Phase nach der Migration erfolgen. Als postmigrantisch können jene Gesellschaften bezeichnet werden, in denen:
(a) der gesellschaftliche Wandel in eine heterogene Grundstruktur politisch anerkannt worden ist ("Deutschland ist ein Einwanderungsland") – ungeachtet der Tatsache, ob diese Transformation positiv oder negativ bewertet wird,
(b) Einwanderung und Auswanderung als Phänomene erkannt werden, die das Land massiv prägen und die diskutiert, reguliert und ausgehandelt, aber nicht rückgängig gemacht werden können,
(c) Strukturen, Institutionen und politische Kulturen nachholend (also postmigrantisch) an die erkannte Migrationsrealität angepasst werden, was mehr Durchlässigkeit und soziale Aufstiege, aber auch Abwehrreaktionen und Verteilungskämpfe zur Folge hat.
Migration ist zum Alltag einer deutschen Gesellschaft geworden, in der jeder dritte Bürger Migrationsgeschichten als familialen Bezugspunkt angibt. Vor allem die deutschen Großstädte sind immer heterogener geworden, was sich in Schulen, Kindertagesstätten oder im Stadtbild widerspiegelt. Städte wie Frankfurt am Main haben bereits einen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund unter sechs Jahren von 75,6 Prozent, Augsburg 61,5 Prozent, München 58,4 Prozent und Stuttgart 56,7 Prozent (vgl. Abb. 1). Vor diesem Hintergrund wandeln sich die nationalen Identitätsbezüge. Immer mehr Menschen nehmen für sich in Anspruch, deutsch zu sein, auch wenn ihre Vorfahren nicht immer in Deutschland gelebt haben.
Nennen wir sie doch einfach "Neue Deutsche", forderten drei Journalistinnen im Jahr 2012. Derartige Bemühungen um neue Bezeichnungspraxen sind im öffentlichen Bewusstsein jedoch kaum präsent. "Ausländer", "Migranten" oder "Menschen mit Migrationshintergrund" sind weiterhin die gängigsten Bezeichnungen für all jene, die aufgrund ihres Aussehens oder ihres anders klingenden Namens als nicht-deutsch wahrgenommen werden, unabhängig davon, wie lange sie schon in diesem Land leben oder ob sie überhaupt jemals nach Deutschland migriert sind. Die empirische Realität ist also noch nicht in eine narrative Neudeutung übergegangen, in welcher das Deutsche selbstverständlich als heterogen und plural wahrgenommen wird.
Allerdings nehmen Eingewanderte und ihre Nachkommen zunehmend für sich in Anspruch, das kollektive Narrativ mitzuprägen. Dementsprechend lautete eine Forderung des ersten Bundekongresses Neuer Deutscher Organisationen Anfang Februar 2015 in Berlin: "Wir sind deutsch und wollen mitentscheiden." Menschen aus Einwandererfamilien partizipieren als Politiker, auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene an Gesetzgebungsprozessen, beeinflussen als Journalisten die öffentliche Meinung und lassen sich zu Lehrern ausbilden. In allen Fällen bestehen jedoch weiterhin Repräsentationslücken. Obwohl 20 Prozent der Bevölkerung Deutschlands zu den "Neuen Deutschen" zählen, im Sinne der Definition des Statistischen Bundesamtes also einen Migrationshintergrund aufweisen, haben:
gerade einmal zehn Prozent der im öffentlichen Dienst Beschäftigten eine Migrationsgeschichte,
geschätzte zwei Prozent der Journalisten,
etwa vier Prozent der Räte deutscher Städte
und neun Prozent der Beschäftigten in Führungspositionen deutscher Stiftungen (in den 30 größten Stiftungen nur drei Prozent).
Obwohl ein Drittel der Kinder zwischen fünf und 15 Jahren aus Einwandererfamilien stammen, haben nur ca. sechs Prozent der Lehrer einen Migrationshintergrund. 37 von 631 Parlamentariern haben nach der Bundestagswahl 2013 eine Migrationsgeschichte, womit der Anteil der Bürgervertreter mit Migrationshintergrund bei weniger als sechs Prozent liegt. Ergebnissen einer OECD-Umfrage zufolge liegt die Beschäftigungsquote bei Migranten mit Universitätsabschluss mehr als zwölf Prozent unter derjenigen von Nicht-Migranten mit Universitätsabschluss.
Diese Repräsentationslücken sollten in einer postmigrantischen Gesellschaft behoben werden. Nötig dazu ist auch ein ausgeweiteter Integrationsbegriff, welcher die Repräsentationslücken als Integrationsdefizit der Gesellschaft benennt, an deren Behebung nun gemeinsam gearbeitet werden sollte, wofür strukturelle Veränderungen und Öffnungen notwendig werden. Postmigrantische Gesellschaften sind Aushandlungsgesellschaften. Die etablierten kulturellen, ethnischen, religiösen und nationalen Eliten müssten lernen, dass Positionen, Zugänge, Ressourcen und Normen neu ausgehandelt werden. Alle Seiten sollten sich diesem Aushandlungsprozess öffnen – das heißt auch für die "Etablierten", dass sie sich an diese Aushandlungsgesellschaft gewöhnen und sich in diese postmigrantische Struktur integrieren müssten.
Der etablierte Integrationsbegriff
Seit den 1970er Jahren wurde Integration in der Migrationsforschung vornehmlich als etwas verstanden, das "Ausländer", "Migranten" oder "Menschen mit Migrationshintergrund" und deren Einbindung in die deutsche Gesellschaft betrifft. Auch damit verbundene Begriffe wie Integrationsverweigerung, Integrationsfortschritte oder Integrationswille sind vor allem an die Vorstellung gekoppelt, es gäbe eine etablierte Kerngesellschaft oder Aufnahmegesellschaft, die Menschen mit Migrationsbiographie einseitig motiviert, sich in sie zu integrieren. Der Verlauf wurde dabei vor allem als einseitige Bewegung verstanden. Diesem Paradigma entsprechend setzt integrationspolitisches Handeln ein defizitäres Anderes voraus, auf welches sich die Integrationspolitik konzentriert. Dagegen fehlen in dieser Vorstellung die Integrationsanpassungen oder -leistungen, die von der Dominanzgesellschaft erbracht werden müssten, einschließlich struktureller und institutioneller Öffnungen. Entsprechend werden als besonderes Hindernis für die Integration nicht die etablierten Barrieren und Schließungsprozesse von gesellschaftlicher Seite thematisiert, sondern bestimmte religiöse oder kulturelle Andersartigkeiten. So wird fehlende Integration zu einem persönlichen und/oder kulturellen Problem der Migranten umdefiniert, statt strukturelle Barrieren zu berücksichtigen. Gleichzeitig – und das zeigen beispielsweise auch die Proteste der PEGIDA – gibt es auch Gruppen in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, die sich in der neuen, durch Vielfalt gekennzeichneten Gesellschaft nicht zurecht finden, desintegriert wirken und damit ebenfalls von der Integrationspolitik angesprochen werden sollten.
Dr. Naika Foroutan ist stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu den Schwerpunkten ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit gehören u.a. die Themen Migration und Integration; Islam- und Muslimbilder in Deutschland; Identität und Hybridität; politischer Islam und gesellschaftliche Transformation von Einwanderungsländern. E-Mail Link: foroutan@hu-berlin.de
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