Umfang umweltbedingter Migrationen
Unbestreitbar ist, dass der Umfang ökologisch labiler Regionen aufgrund von Desertifikation – also der Ausbreitung von Wüsten –, Versalzung, Versteppung, Überschwemmung und Verschmutzung Jahr um Jahr wächst
Keine einheitliche Begriffsdefinition
Die große Spannweite der verschiedenen Schätzungen ist auch auf den geringen Grad definitorischer Klarheit zurückzuführen
Tabelle 3: Ausgewählte Schätzungen und Prognosen zum weltweiten Umfang umweltbedingter Migration | ||
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Quelle | Schätzungen zur Zahl der "Umweltflüchtlinge" bezogen auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung | Prognosen der Zahl künftiger "Umweltflüchtlinge" |
Quelle: Aufenvenne/Felgentreff [2013]. | ||
Global Humanitarian Forum 2009: The Anatomy of a Silent Crisis. Genf, S. 48-49 | 26 Mio. "Klimaflüchtlinge" | 72 Mio. "Klimaflüchtlinge" bis 2030 |
Environmental Justice Foundation (EJF) 2009: No Place Like Home. Where Next for Climate Refugees. London, S. 4 | 200 Mio. "Umweltflüchtlinge", davon 150 Mio. "Klimaflüchtlinge" bis 2050 | |
United Nations University - Institute for Environment and Human Security 2007: Control, Adapt or Flee. How To Face Environmental Migration? Bonn, S.15-18 | 10 Mio. "Umweltflüchtlinge" | 50 Mio. "Umweltflüchtlinge" bis 2010; 200 Mio. "Umweltflüchtlinge" bis 2050 |
Friends of the Earth 2007: A Citizen´s Guide to Climate Refugees. Amsterdam, S. 8 | 200 Mio. "Klimaflüchtlinge" bis 2050 | |
Greenpeace 2007: Klimaflüchtlinge. Die verleugnete Katastrophe. Hamburg, S. 1-2, 27 | 20 Mio. "Klimaflüchtlinge" | 150-200 Mio. "Klimaflüchtlinge" im Laufe der nächsten 30 Jahre |
Nicholas Stern 2007: The Economics of Climate Change. The Stern Review. Cambridge, S. 128-130 | 150-200 Mio. "Klimaflüchtlinge" bis 2050 | |
Christian Aid 2007: Human Tide: The real Migration Crisis. London, S. 5-6 | 25 Mio. "Umweltflüchtlinge" | 50 Mio. "Umwelt-" und 250 Mio. "Klimaflüchtlinge" bis 2050; hinzu kämen noch 645 Mio. Menschen, die durch Entwicklungsprojekte wie Staudämme vertrieben würden |
United Nations 2005: Millennium Ecosystem Assessment Report. Washington. | 20 Mio. "Umweltflüchtlinge" | 50 Mio. "Umweltflüchtlinge" bis 2050 |
United Nations High Commissioner on Refugees (UNHCR) 2002: Environmental Migrants and Refugees. Refugees No.127. Genf, S. 12 | 24 Mio. "Umweltflüchtlinge" | |
International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies: World Disaster Report 2001, Focus on recovery. Genf, S.11 | 25 Mio. "Umweltflüchtlinge" | |
WorldWatch Institute 1988: Environmental Refugees: A Yardstick of Habitability. Washington, S. 38 | 10 Mio. "Umweltflüchtlinge" | |
United Nations Environmental Program (UNEP) 1985: Environmental Refugees. Nairobi, S. 8 | 30 Mio. Flüchtlinge, davon seien viele "Umweltflüchtlinge" |
Betroffene Regionen
Unmittelbar wirken Klimaveränderungen dort, wo Gebiete wegen des Meeresspiegelanstiegs durch Überschwemmungen oder durch Versalzung bedroht sind
Der Anstieg des Meeresspiegels führt nicht nur zu einem Verlust besiedlungsfähiger Fläche, sondern auch zu einem Verlust von Ackerland. Dies wiederum hat Folgen für die Nahrungssicherheit. Viele der tiefer gelegenen Küstenregionen Asiens sind insofern "Kornkammern" der Welt, als sich hier ein großer Teil der globalen Reisproduktion konzentriert, von der Millionen Menschen direkt oder indirekt abhängig sind. Schätzungen sprechen von einer unmittelbaren Gefährdung der Reisversorgung von rund 200 Millionen Menschen durch den Anstieg des Meeresspiegels.
Auswirkungen umweltbedingter Krisen
Umweltbedingte Krisen verschlechtern zumeist ohnehin prekäre ökonomische Grundlagen, sodass nur die temporäre oder dauerhafte Abwanderung eine Verbesserung der Lebenssituation zu bieten scheint. Umweltbedingte Krisen treten zugleich häufig als kulturelle Krisen auf, werden nicht selten politisch instrumentalisiert oder führen zu politischen Konflikten, die wiederum Migration forcieren. In Regionen, in denen geringe politische Stabilität und schwach ausgeprägte staatliche Problemlösungskapazitäten, krisenanfällige Ökonomien und gesellschaftlicher Unfrieden herrschen, werden umweltbedingte Krisen die "Vulnerabilität", also die Verletzbarkeit der Region noch steigern. Hier können sie sogar als Katalysator wirken und den Zusammenbruch einer ohnehin labilen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung anstoßen. Demgegenüber kann davon ausgegangen werden, dass stabile politische, gesellschaftliche und ökonomische Systeme Reaktionsmuster entwickeln, die eine mehr oder minder konfliktfreie Bewältigung der Folgen umweltbedingter Krisen erwarten lassen
Der Blick auf das umweltbedingte Migrationsgeschehen wirft zugleich die Frage nach potenziellen Zuwanderungszielen auf und damit auch nach den Räumen, die Profiteure des Klimawandels sein könnten. Das zunehmende Gewicht des Bestimmungsfaktors Umwelt im globalen Migrationsgeschehen wird voraussichtlich nicht zu trans- oder interkontinentalen Massenmigrationen führen. Die lange Geschichte des Ausweichens vor Hungerkatastrophen und der migratorischen Reaktionen auf "Failed States" macht deutlich, dass wegen der geringen Ressourcen vieler Betroffener die Reaktionen auf Klimawandel und Umweltveränderungen vor allem das lokale und regionale Wanderungsgeschehen in den Risikozonen der Welt beeinflussen werden. Auch nach Einschätzung des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung "Globale Umweltveränderungen" wird der reiche "Norden" der Welt als Hauptverursacher des Klimawandels aller Voraussicht nach nicht oder nur in geringerem Maße migratorisch von umweltbedingten Veränderungen des Wanderungsgeschehens im "globalen Süden" betroffen sein, weil der größte Teil der Bewegungen kleinräumig bleiben wird oder als "Süd-Süd-Migration" ausgeprägt ist.
Politischer und rechtlicher Umgang mit Umweltmigranten
Verschiedene Hilfsorganisationen fordern eine Erweiterung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Anerkennung der Folgen des Klimawandels als Schutzgrund. Das ist bislang von internationalen Organisationen und Staaten abgelehnt worden: Wegen der unterschiedlichen, sich überlagernden Migrationsmotive der Betroffenen lasse sich ein umweltbedingter Hintergrund kaum klar fassen. Darüber hinaus führe die Erweiterung des Kanons der Fluchtgründe dazu, restriktive Flüchtlingspolitiken mancher Staaten zu forcieren, die Zuwanderungsmöglichkeiten begrenzen wollten
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers