Migration bildete von Beginn der Geschichte der Menschheit an ein zentrales Element gesellschaftlichen Wandels. Deshalb ist die Vorstellung ein Mythos, räumliche Bevölkerungsbewegungen – auch über weite Distanzen – seien erst eine Erscheinung der Moderne oder gar der Gegenwart. Und nicht erst im Kontext der Entwicklung der heutigen Massenverkehrsmittel lassen sich globale Migrationen enormer Dimension ausmachen. Der Mensch der Vormoderne war ebenso wenig grundsätzlich sesshaft wie der Mensch der Moderne. Einen Mythos bildet auch die Auffassung, in der Vergangenheit habe Migration einen linearen Prozess dargestellt – von der dauerhaften Abwanderung aus einem Raum zur dauerhaften Einwanderung in einen anderen: Rückwanderungen, Formen zirkulärer Migration und enorme Fluktuationen kennzeichneten die lokalen, regionalen und globalen Wanderungsverhältnisse in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.
Europäische Expansion und europäische Abwanderung
Von globaler Migration kann in größerem Umfang seit dem Beginn der weltweiten politisch-territorialen, wirtschaftlichen und kulturellen Expansion Europas im 15. Jahrhundert gesprochen werden. Die Abwanderung von Europäern in andere Teile der Welt blieb vom 16. bis in das frühe 19. Jahrhundert in ihrem Umfang noch moderat. In der Folgezeit bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein aber führte sie zu einem weitreichenden Wandel in der Zusammensetzung der Bevölkerungen vor allem in den Amerikas, im südlichen Pazifik, aber auch in Teilen Afrikas und Asiens. Der kleinere Teil der europäischen Interkontinentalwanderer nahm Pfade über Land und siedelte sich vornehmlich in den asiatischen Gebieten des russischen Zarenreichs an.
Dennoch beschränkten sich Migrationen über große Distanzen keineswegs ausschließlich auf Europäer. So wird beispielsweise von 11 Millionen Migrantinnen und Migranten ausgegangen, die
Europa wird seit dem späten 19. Jahrhundert zum Zuwanderungskontinent
Europa als Hauptakteur kolonialer Expansion und als Hauptexporteur von Menschen nach Amerika, Afrika, Asien und in den Raum des südlichen Pazifik war lange kaum Ziel interkontinentaler Zuwanderungen gewesen. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt der Abwanderung von Europäern, begann aber die Geschichte Europas als Zuwanderungskontinent. Zunächst kamen insbesondere Bildungsmigranten aus den europäischen Kolonialbesitzungen nach Europa sowie Seeleute aus Asien und Afrika. Diese wurden für die im Zuge der Globalisierung rasch wachsenden europäischen Handelsmarinen seit Ende des 19. Jahrhunderts rekrutiert. Sie erreichten die europäischen Hafenstädte, wo vor und nach dem Ersten Weltkrieg erste kleine Siedlungskerne von Afrikanern und Asiaten entstanden.
Die eigentliche Massenzuwanderung auf den europäischen Kontinent begann aber erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gefördert vor allem vom Prozess der Dekolonisation
Die migratorische Gegenwart: Kein lang anhaltender "Massenzustrom" nach Europa
Markt in Marzahn-Hellersdorf (© Susanne Tessa Müller)
Markt in Marzahn-Hellersdorf (© Susanne Tessa Müller)
Die gegenwärtig laufenden Debatten um die globale Migration und um die grenzüberschreitenden Bewegungen aus den weniger entwickelten in entwickelte Länder vermitteln den Eindruck, riesige "Migrationsströme" hätten in den vergangenen Jahren insbesondere Europa aus dem "globalen Süden" kommend erreicht. Dem ist nicht so. Das Niveau der grenzüberschreitenden Migration ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht angewachsen, vielmehr auf einem recht niedrigen Niveau stabil geblieben. Neueste Studien zeigen, dass zwischen 1960 und 2010 in Zeitabschnitten von fünf Jahren gerechnet nur jeweils ca. 0,6 Prozent der Weltbevölkerung staatliche Grenzen überschritten haben. In absoluten Zahlen heißt das etwa für 2005–2010: 41,5 Millionen grenzüberschreitende Migrationen weltweit.
Auffällig sind an diesen Daten nicht nur das relativ niedrige Niveau der zwischenstaatlichen Migration und die ausgeprägte Stabilität über Jahrzehnte. Darüber hinaus zeigt sich, dass der größte Teil der Bewegungen innerhalb von Weltregionen wie Westafrika, Südamerika oder Ostasien stattfindet, während Migration, die die Grenzen von Kontinenten überschreiten, kaum ins Gewicht fallen. Selbst in Großregionen, in denen kaum oder keine formalen Migrationsbarrieren bestehen, bleibt der Umfang der Migrationsbewegungen überschaubar: Weniger als 3 Prozent aller EU-Bürger leben in einem anderen Staat der EU, obgleich bereits die Römischen Verträge von 1957 Freizügigkeit als Ziel der europäischen Integration festgeschrieben und über viele Jahrzehnte hinweg die Bewegungen zwischen den europäischen Staaten erleichtert worden sind.
Auch die Migrationsverhältnisse in Deutschland sind in den vergangenen Jahren, sieht man von 2015 ab, vor allem geprägt worden durch die Zuwanderung aus anderen europäischen Staaten: Trotz des Anstiegs der Zahl der Asylsuchenden aus dem Nahen Osten kamen 2014 insgesamt 74 Prozent aller Zuwanderer, die Deutschland erreichten, aus europäischen Ländern, nur rund 5 Prozent z.B. aus Afrika. In realen Zahlen bedeutete dies 2014: Von den rund 1,1 Millionen Zuwanderern nach Deutschland kamen nur ca. 75.000 aus Afrika.
Alle genannten Daten beziehen immer auch Migrationen mit ein, die durch Ausübung oder Androhung von Gewalt ausgelöst worden waren (Flucht, Vertreibung usw.). Zuletzt ist die Zahl der vom Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) registrierten Flüchtlinge deutlich angestiegen: Mitte 2016 lag sie bei 21,3 Millionen, erreichte damit den Höchststand des vergangenen Vierteljahrhunderts, der zuletzt für das Jahr 1992 bei 20,5 Millionen gelegen hatte.
Durch die oft extrem beschränkte Handlungsmacht der Betroffenen ist Flucht also häufig durch Immobilisierung gekennzeichnet: vor Grenzen oder unüberwindlichen natürlichen Hindernissen, wegen des Mangels an (finanziellen) Ressourcen, aufgrund von migrationspolitischen Maßnahmen, fehlenden Papieren oder gering ausgeprägten Netzwerken. Daher rührt auch das Phänomen der Verstetigung von Lagern mit der Folge einer "Camp-Urbanisierung" und der Entwicklung von "Camp-Cities" mit zum Teil Großstadtcharakter. Ein Großteil der Flüchtlinge weltweit ist immobilisiert, unterliegt in sogenannten "protracted refugee situations" einem nicht selten prekären Schutz, hat aber zum Teil durch die Unterbindung von Bewegung Handlungsmacht eingebüßt und ist extrem sozial verletzlich.
Größere Fluchtdistanzen sind relativ selten, weil die finanziellen Mittel dafür fehlen und Transit- oder Zielländer die Migration behindern. Weil Flüchtlinge zudem überwiegend nach einer raschen Rückkehr streben, suchen sie ohnehin in aller Regel Sicherheit in der Nähe der überwiegend im globalen Süden liegenden Herkunftsregionen. 95 Prozent aller afghanischen Flüchtlinge (2015: 2,6 Millionen) leben vor diesem Hintergrund in den Nachbarländern Pakistan oder Iran. Ähnliches gilt für Syrien, das sich seit 2011 im Bürgerkrieg befindet: Der Großteil der syrischen Flüchtlinge, rund 4,8 Millionen, sind in die Nachbarländer Türkei (2016: 2,7 Millionen), Jordanien (660.000), Irak (225.000) und Libanon (1 Million) ausgewichen. Mit 7,6 Millionen lag dabei die Zahl der Menschen, die vor Gewalt innerhalb Syriens flohen und zu Binnenvertriebenen wurden, sogar noch deutlich höher. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass Staaten des globalen Südens 2015 nicht weniger als 86 Prozent aller weltweit registrierten Flüchtlinge und 99 Prozent aller Binnenvertriebenen beherbergten – mit seit Jahren steigender Tendenz im Vergleich zum Anteil des globalen Nordens. Noch 2003 hatte der Anteil der ärmeren Länder an den Flüchtlingen weltweit lediglich bei 70 Prozent gelegen. Vornehmlich der globale Süden ist also von der Zunahme der weltweiten Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen seit Anfang der 2010er Jahre betroffen. Dass trotz dieser globalen Tendenz die Bundesrepublik Deutschland vor allem 2015 und 2016 deutlich vermehrt zum Ziel von Asylsuchenden geworden ist, resultiert aus einem
Weiterführende Literatur
OECD, Externer Link: International Migration Outlook 2014
Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart (Schriftenreihe, Bd. 10001), Bonn 2016.
Jochen Oltmer, Kleine Globalgeschichte der Flucht im 20. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66. 2016, Nr. 26/27, S. 18–25.
Externer Link: http://www.unhcr.org