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Die Geschichte der Wikipedia
Torsten Kleinz
/ 13 Minuten zu lesen
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Als am 15. Januar 2001 die "Wikipedia" online ging, war nicht abzusehen, wie sehr sie die Vorstellung vom Web 2.0. mitbestimmen würde. Aus dem Hobby-Projekt "Online-Enzyklopädie" einer kleinen Community wuchs schnell eine Organisation, die sich mit ihrem exponentiellen Wachstum neuen Problemen stellen musste.
Sich frei durch das Netz bewegen: Webseiten besuchen, eigene Inhalte erstellen und sich austauschen - dies war die Vision von Tim Berner Lees, als er 1989 das "world wide web" als Kommunikationsmedium erdachte. Insofern war die Idee einer nutzergenerierten dynamischen Online-Enzyklopädie längst überfällig, als sie 2001 mit der Wikipedia lebendig wurde.
Dass die technischen Mittel für das interaktive Internet fehlten, war allerdings nicht der Grund dafür, dass das Web 2.0 auf sich warten ließ. Die Technik stand längst bereit: Dazu gehörte nicht viel mehr als ein Webserver, eine Datenbank und etwas Programmcode. Doch in den Neunziger Jahren hatte sich das immer populärere Web zum Konsummedium entwickelt. Statt Inhalte selbst zu erstellen, surften die meisten Nutzer auf den Webseiten kommerzieller Anbieter. Der Raum für Interaktionen blieb eng begrenzt auf Webforen, Chats und eher schlichte private Webseiten.
Und so erreichte 1995 das erste „Wiki“ des amerikanischen Programmierers Ward Cunningham keine große Breitenwirkung. Obwohl es gerade auf eine allgemeinverständliche Weise angelegt war. Das Programm ermöglichte es jedem Websurfer, bemerkenswert einfach Webseiten selbst anzulegen und zu ändern – ohne Programmierkenntnisse oder komplizierte Formatierungen. Das unterstreicht der Name des Systems: „Wiki-wiki“ kommt aus dem Hawaiianischen und heißt dort „schnell“. Eigentlich hatte Cunningham das neue Medium zum Eigengebrauch entwickelt – doch schon bald entstand eine enthusiastische, wenn auch sehr kleine Gemeinde, die immer neue Wikis anlegte und an neuen Wiki-Systemen programmierte.
Als der Unternehmer Jimmy Wales und der Philosoph Larry Sanger sich in den Neunziger Jahren im Netz kennenlernten, entwickelten sie gemeinsam die Idee, ein Online-Lexikon als kostenlose Wissens-Ressource für jedermann zu erschaffen. Das Projekt ging im Januar 2000 unter dem Namen "Nupedia" online. Von der Wiki-Technik hatten beide noch nicht gehört, Nupedia basierte auf einem eher behäbigen Redaktionssystem. Die Qualitätsansprüche der Neu-Enzyklopädisten waren hoch: Nur ausgewiesene Experten durften Texte verfassen, in einem langwierigen Redaktionsprozess wurden sie vollendet. Zu langwierig, wie sich herausstellte: In den drei Jahren seiner Existenz brachte es die Nupedia auf gerade Mal 24 fertige Artikel.
Von dem langsamen Fortschritt frustriert, erfuhren Wales und Sanger ein Jahr später von dem Wiki-Konzept und installierten wenig später auf dem Server von Nupedia ein Wiki, auf dem sich die interessierten Enzyklopädieautoren austoben konnten. Am 15. Januar 2001 ging die "Wikipedia" online. Der Erfolg stellte sich fast sofort ein: Als man ihnen freie Hand ließ, entfalteten die Autoren plötzlich eine ungeahnte Schreiblust. In nur zwei Monaten verfassten sie mehr als 2000 Artikel. Von dem Erfolg motiviert eröffnete Wales am 15. März 2001 unter der Adresse deutsche.wikipedia.com die deutsche Version der Wikipedia. Weitere Sprachversionen folgten. Eine formelle Struktur oder Organisation gab es noch nicht.
Auch Kurt Jansson, damals Soziologie-Student an der Freien Universität Berlin, stieß schnell auf das Projekt: "Ich war begeistert: man musste nur auf 'Bearbeiten' klicken und das Ergebnis stand sofort online”, sagt Jansson. Die Idee, das Web nicht nur zu konsumieren, sondern an der Erstellung einer neuen Art von Enzyklopädie teilzunehmen, faszinierte ihn und viele andere. Wie die Wikipedia in den ersten Monaten aussah, hat Jansson für die Allgemeinheit festgehalten: Auf Externer Link: seiner Webseite veröffentlichte er eine Momentaufnahme der deutschen Wikipedia in ihrem ersten Jahr. Noch musste das Projekt fast ganz ohne Grafiken auskommen – alleine das Logo der Nupedia prangte auf der Wikipedia-Startseite. Auch die Qualität der Texte war noch eher schlicht: Ein halbes Jahr nach Gründung umfasste der Eintrag zu Deutschland ganze fünf Zeilen und enthielt im Wesentlichen nur eine Aufzählung der Bundesländer, wichtiger Städte und angrenzender Staaten. Zum Vergleich: Der heutige Artikel ist 75 Druckseiten lang und deckt die Geschichte Deutschlands genauso ab wie Kultur und Politik.
Rasanter Aufstieg einer Idee
In den ersten Jahren fungierte Larry Sanger als Projektverantwortlicher und eine Art Chefredakteur der Wikipedia, Jimmy Wales war der Finanzier und Visionär. Ansonsten herrschte egalitäres Chaos: Jeder Nutzer hatte die gleichen Rechte und es gab nur wenige Regeln. "Wann immer Du etwas findest, von dem Du erkennst, dass es korrigiert oder sonstwie verbessert werden könnte, tu es einfach”, hieß es in der ersten Anleitung.
Auch wenn die Wikipedia seither viele Verwandlungen durchgemacht hat, hat sich an der grundsätzlichen Idee wenig verändert: Bis heute kann fast jeder Artikel mit einem einfachen Klick geändert werden. Kein Nutzer muss sich erst anmelden, sondern kann direkt beginnen, seine Beiträge in den Browser zu tippen. Für Larry Sanger wurde die Wikipedia jedoch schon bald zu chaotisch: Er schied 2002 aus dem Projekt aus und betätigt sich seitdem als einer ihrer eifrigsten Kritiker. Doch auch ohne den Mitgründer florierte das Projekt.
Auf der Startseite der Wikipedia hatten die Wikipedianer 2001 ein ehrgeiziges Ziel veröffentlicht: 100.000 Artikel wollten die unbezahlten Autoren erstellen, in nur fünf Jahren sollte es soweit sein. Doch die Realität überholte die Vision schnell. Bereits im Januar 2003 überschritt die englische Wikipedia die Marke von 100.000 Artikeln, die deutsche Wikipedia folgte Juni 2004. Zwar war nur ein Bruchteil davon voll ausformuliert und vollständig, doch der Weg war klar. Wikipedia sollte in kürzester Zeit zum ernsthaften Herausforderer für die klassischen Enzyklopädieverlage werden.
Einer der wichtigsten Geburtshelfer des rasanten Erfolgs war die ebenfalls aufstrebende Internet-Suchmaschine der 1996 gegründeten Suchmaschine Google. Die beiden Angebote ergänzten sich perfekt: Google bemüht sich, so viel vom Internet zu erfassen wie möglich und die besten Ergebnisse ganz nach oben zu sortieren. Wikipedia sammelte im Gegenzug zu möglichst vielen Themen Artikel.
Die Struktur der Wikipedia, bei der die Artikel über viele Links miteinander verwoben werden, begünstigte die Entwicklung noch. Viele Links auf einen Artikel wertet Google als Qualitätsmerkmal. Folge: Teilweise landeten sehr mangelhafte oder sogar nicht existierende Wikipedia-Artikel auf der ersten Seite der Google-Suche. Ein selbst verstärkender Effekt setzte ein: Je höher Google Wikipedia einstufte, umso mehr Autoren beteiligten sich an der Wikipedia, je mehr Artikel in der Wikipedia verfügbar waren, umso öfter verwies Google auf Wikipedia. Auch die zunehmende Berichterstattung in den Medien über das Projekt sorgte für einen ständigen Zustrom von Lesern und Autoren. Waren im Januar 2003 laut offizieller Statistik gerade einmal 250 Autoren aktiv, waren es ein Jahr darauf bereits 1456. Heute registriert Wikipedia über 120.000 Autoren in der deutschen Wikipedia – davon zählen allerdings nur zirka 1000 zum harten Kern, die mehr als hundert Änderungen pro Monat beitragen.
Das rasante Wachstum der Anfangsjahre hatte nicht nur positive Folgen. "Mit jedem Wachstumsschub kamen neue Probleme auf: wie gehen wir mit Störenfrieden um, welche Themen sind relevant, wie gliedern wir die Artikel?”, erinnert sich Jansson "Und jeder hatte eine andere Vorstellung davon, was eine Enzyklopädie sein sollte." Folge war ein nie endender Diskussionsprozess über die Grundregeln des Projekts, der zwischen den verschiedenen Autoren auf Diskussionsseiten, Mailinglisten und auch auf Nutzertreffen ausgetragen wird. Gaben Wales und Sanger am Anfang noch die Grundsätze und Strukturen vor, entschied das Autorenkollektiv immer mehreigenständig über die Organisation der Enzyklopädie.
Die Wikipedianer spezialisierten sich immer mehr: Schon früh hatten sie die Funktion des Administrators geschaffen, der für die Einhaltung der Regeln sorgen sollte, indem er beispielsweise Autoren für Regelverstöße sperrt oder nicht ordnungsgemäße Artikel löscht. Aus dem anfangs anarchischen Projekt wurde ein durchorganisierte Enzyklopädie-Maschinerie mit Hunderten Regeln, Schlichtungsverfahren und Schiedsgerichten. Alleine die "Relevanzkriterien”, die festlegen zu welchen Themen Wikipedia-Artikel erlaubt sind, umfassen in der deutschen Ausgabe mittlerweile 29 Druckseiten. Es gibt Wikipedianer, die sich fast ausschließlich der Spam-Bekämpfung widmen und Spezialisten, die sich ihre Fachgebiete wie Schach oder Mineralien bearbeiten. Die verschiedenen Sprachversionen befruchten sich dabei gegenseitig. So erfanden deutsche Wikipedianer im Jahr 2008 das Konzept der gesichteten Versionen – Änderungen von Neu-Autoren werden der Allgemeinheit nicht mehr sofort angezeigt. Ein Jahr später wurde das Konzept auch für die englische Wikipedia übernommen. Völlig eigenständige Wege können die unterschiedlichen Communities allerdings nicht beschreiten: Die Strukturen der Wikipedia sind mit durch die zu Grunde liegende Software MediaWiki – eine Eigenentwicklung der Wikimedia Foundation – bestimmt. Die Communities können darüber bestimmen ob sie bestimmte Funktionen wie zum Beispiel Feedback-Möglichkeiten für Leser aktivieren wollen.
Von der Enzyklopädie zur Organisation
War Wikipedia zunächst ein Hobby-Projekt auf den Servern des von Jimmy Wales gegründeten Internet-Unternehmens Bomis.com, beanspruchte die Online-Enzyklopädie immer mehr Ressourcen. Bereits ein Jahr nach Gründung stellte sich die Frage, wie sich Wikipedia auf Dauer finanzieren könne. Eine naheliegende Idee war Online-Werbung – schließlich verdiente Jimmy Wales mit seiner Firma vor allem durch Online-Werbung das Geld, das Wikipedia am Laufen hielt.
Hier zeigte sich zum ersten Mal die Macht der Community der Wikipedia-Autoren. Alleine die Gerüchte über die Einführung von Werbung führten unter den Autoren zu einem Aufstand. Sie sahen das Projekt als Gegenpol zum grassierenden Kommerz im Internet. Im Februar 2002 koppelte sich die spanische Wikipedia-Ausgabe von dem Haupt-Projekt ab und machte unter dem Namen "Enciclopedia Libre Universal en Español" weiter. Selbst die eilige Versicherung von Jimmy Wales, nicht gegen den Willen der Autoren Werbung zu schalten, konnte die Spaltung nicht verhindern. Erst Jahre später konnte sich die spanische Wikipedia von diesem Rückschlag erholen.
Im Sommer 2003 gründete Jimmy Wales daher die Wikimedia Foundation, eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in den USA, die fortan den Betrieb der Wikipedia verantworten sollte. Ein erster Spendenaufruf auf der Webseite brachte weltweit 30.000 Dollar ein – mehr als genug um die Server des Projekts zu bezahlen. Das Geld wurde unter anderem genutzt, um der Wikipedia mehrere Schwesterprojekte zur Seite zu stellen: 2002 war schon das Wörterbuch "Wiktionary" gestartet, 2003 folgten die Zitatesammlung Wikiquote und Wikibooks, eine Plattform für frei verfügbare Lehrbücher. 2004 eröffnete das kollaborative Nachrichtportal Wikinews. Heute hat Wikipedia insgesamt acht Schwesterprojekte, von denen jedoch lediglich die Multimedia-Sammlung "Wikimedia Commons" den Erfolg von Wikipedia nachahmen konnte.
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In Deutschland setzten Wikipedia-Enthusiasten andere Akzente: Anfang 2004 gründeten sie "Wikimedia Deutschland”. Obwohl der Verein keine direkte Verantwortung für den Betrieb der Online-Enzyklopädie hat und anfangs formell eher ein Wikipedia-Fanclub war, wurde er zur Keimzelle der Wikimedia-Bewegung. So luden die Deutschen 2005 Wikipedia-Aktivisten aus der ganzen Welt zur ersten Konferenz unter dem Titel "Wikimania" ein. Außerdem eröffneten sie in Frankfurt eine eigene Geschäftsstelle, die als Ansprechpartner für die Allgemeinheit diente und um Kooperationen mit Wissenschaftlern und anderen Organisationen warb.
Das Ringen um Qualität und Neutralität
Eines der ersten Projekte des jungen Vereins war eine Kooperation mit dem Berliner Verlag Digibib. Er gab ab 2004 eine Offline-Ausgabe der Wikipedia auf CD und DVD heraus. Dies hatte zwei wesentliche Effekte: Zum einen konnte Wikipedia so den Exoten-Status des reinen Internet-Projekts abstoßen und sich mit den digitalen Produkten der etablierten Konkurrenz wie Brockhaus oder Microsofts damaliger Multimedia-Enzyklopädie Encarta messen lassen. Zum anderen steigerte das Projekt die Qualitätsmaßstäbe innerhalb der Wikipedia.
War die Online-Enzyklopädie bis dahin "work in progress" ohne Abgabetermine und Anspruch auf Vollständigkeit, identifizierten die freiwilligen Autoren nun qualitativ hochwertige Artikel und versuchten beim Rest zumindest Mindeststandards zu erfüllen. In einer konzertierten Aktion versahen Wikipedia-Autoren zum Beispiel mehrere Tausend Artikel über Personen mit Angaben wie Geburtsort, Beruf, Sterbedatum. Auch andere Sprachausgaben übernahmen diese Qualitätsmaßstäbe, was dem öffentlichen Image von Wikipedia gut bekam. Die Online-Enzyklopädie war nicht mehr nur das Exoten-Projekt unbezahlter Freiwilliger, sondern eine anerkannte Enzyklopädie.
Höhepunkt der öffentlichen Anerkennung war Externer Link: ein Artikel des anerkannten Wissenschafts-Magazins Nature im Dezember 2005 , der dem unkommerziellen Projekt eine vergleichbare Qualität wie der Encyclopaedia Britannica attestierte – ein Ergebnis, das vom Verlag des Enzyklopädie-Urgestein heftig bestritten wurde. Doch bei immer neuen Tests schnitt die Wikipedia ähnlich gut ab wie die kostenpflichtige Konkurrenz. Zwar waren die Wikipedia-Artikel nicht durchweg gut formuliert oder übersichtlich wie klassische Enzyklopädien, der enorme Umfang und die Querverbindungen zu anderen Artikeln machten diese Mängel aber wieder wett. Gleichzeitig konnte Wikipedia mit Aktualität punkten: Während klassische Enzyklopädien nur selten aktualisiert wurden, konnten die Wikipedia-Autoren aktuelle Entwicklungen sofort in ihr Werk einpflegen. Als Beispielsweise 2010 herauskam, dass die Länge des Rheins über Jahrzehnte falsch angegeben wurde, konnte Wikipedia die Korrektur sofort präsentieren.
Doch immer wieder gab es kleinere und größere Skandale um falsche Wikipedia-Informationen – vom systematischen Bereinigen der Artikel von Politikern über falsche Todesmeldungen bis hin zum scherzhaften Hinzufügen eines Vornamens beim Freiherrn zu Guttenberg. Doch dem Erfolg des Projekts machte dies wenig aus. Für viele Internetnutzer war die Wikipedia inzwischen zum zentralen Nachschlagewerk für Informationen aller Art geworden. Schon 2005 führte der Web-Dienstleister Alexa die Online-Enzyklopädie als eine der weltweit 40 meist abgerufenen Webseiten, inzwischen ist Wikipedia bis in die Top 10 aufgerückt.
In Industrieländern mit einem ausgebauten Schulsystem und Internetzugängen florierte Wikipedia. So publizierte die englische Wikipedia im September 2004 ihren millionsten Artikel, die deutsche Wikipedia folgte Ende 2009. Doch in Entwicklungsländern, die eigentlich von dem kostenlosen Wissen am meisten profitieren sollten, bekam das Projekt keinen Fuß auf den Boden. Um dies zu ändern, trieb die damalige Vorsitzende des Stiftungsrats der Wikimedia Foundation Florence Nibart-Devouard einen Umbau der Organisation voran.
Die US-Stiftung sollte vom chaotisch geführten Mini-Büro zur schlagkräftigen Organisation werden, die bei der Verteilung des Wissens eine aktive Rolle spielen sollte. Dazu engagierte die Stiftung die kanadische Managerin Sue Gardner, die den Hauptsitz der Organisation 2008 vom beschaulichen Städtchen Sankt Petersburg in Florida ins San Francisco verlegte. Auf der einen Seite war der Umbau bemerkenswert erfolgreich. In vier Jahren wuchs die Wikimedia Foundation vom Büro mit einer Handvoll Angestellten bis zu einer Organisation mit über 100 bezahlten Mitarbeitern und einem Budget von mehr als 28 Millionen Dollar, die zum größten Teil aus kleinen Privatspenden stammten.
Eine der ersten großen Aufgaben der Stiftung war die Organisation einer projektweiten Abstimmung zum Lizenzwechsel der Wikipedia. Zur Projektgründung hatte sich Jimmy Wales für die Gnu Free Document Licence entschieden, die eigentlich für Dokumentation freier Software-Projekte gedacht war. Doch mit der Zeit erwies sich die sperrige Lizenz eher als Hindernis bei der Weiterverbreitung von Wikipedia-Inhalten. So musste bei Print-Produkten immer ein seitenlanger englischer Lizenztext mitgeliefert werden, die Probleme bei der Nennung der oft anonymen Autoren war ein weiteres Hindernis. An der Abstimmung im Frühjahr 2009 beteiligten sich 17.000 Autoren, über 75 Prozent stimmten dem Wechsel zur bedeutend einfacheren Creative-Commons-Lizenz zu. Die neue Wikimedia Foundation hatte ihre Handlungsfähigkeit bewiesen.
Die Grenzen des Wachstums?
Doch in anderer Hinsicht kam die Stiftung in schweres Fahrwasser: Vom Erfolg der ersten Jahre verwöhnt, hatten die Wikipedianer die Zeichen der Zeit verschlafen. Im Zeitalter interaktiver Angebote wie Facebook oder Google Maps wirkt die Oberfläche der Wikipedia hoffnungslos antiquiert. Der über Jahre aufgetürmte Regelberg machte die Teilnahme an dem auf Freiwillige angewiesenen Projekt immer komplizierter. Gerade in Deutschland gibt es immer wieder Unmut über die teilweise rigide Redaktionspolitik in der deutschen Wikipedia, die gerade auf Neulinge abschreckend wirkt. Auch scheinbar nichtige Anlässe sorgen für heftigen Streit. So führte beispielsweise die Frage, ob der Szene-Cocktail "Tschunk" einen eigenen Wikipedia-Artikel verdient, zu heftigen Diskussionen. Der Verein Wikimedia Deutschland versucht zwar immer wieder zu vermitteln, hat aber keine offiziellen Einflussmöglichkeiten auf die Autoren der Wikipedia. Und auch die Wikimedia Foundation in den USA hält sich bei direkten Eingriffen zurück.
Im November 2009 publizierte der spanische Forscher Felipe Ortega eine Untersuchung, wonach die englische Wikipedia unter einem rapiden Autorenschwund litt. Die Wikimedia Foundation wies den Befund zuerst zurück, teilte die Diagnose jedoch bald nach eigenen Untersuchungen: Zwar stoßen zehn Jahre nach Gründung immer noch Zehntausende Neulinge zur Wikipedia hinzu, doch die freiwilligen Autoren kehrten dem Projekt viel schneller den Rücken als in den Gründungsjahren. Zudem offenbarten die Umfragen http://meta.wikimedia.org/wiki/Editor_Survey_2011/Executive_Summary ein erhebliches Ungleichgewicht: gerade einmal 8,5 Prozent der Befragten in einer Autorenstudie waren Frauen.
Um den Rückgang der Autorenzahlen aufzuhalten, arbeitet die Wikimedia Foundation an einem neuen Editor, einer neuen Eingabemaske, die das Korrigieren und Erstellen von Artikeln wesentlich vereinfachen soll. Bisher müssen die Artikel nämlich in einer komplexen Satzsprache geschrieben werden. Links zum Beispiel werden in eckige Klammern gesetzt, Überschriften von Gleichheitszeichen eingerahmt und Literaturreferenzen müssen mit eingeleitet werden. Der neue Editor soll das Verfassen von Wikipedia-Artikeln so einfach machen, wie einen Brief am eigenen Computer zu schreiben. Doch die Arbeit geht langsam vonstatten, wann die neue Software für den Einsatz in der Wikipedia bereit ist, steht in den Sternen. Eine Neuorganisation der unübersichtlichen Diskussionsseiten ist ebenfalls seit Jahren überfällig.
Um neues Publikum zu finden und die Mission des freien Weltwissens zu erfüllen hat die Wikimedia Foundation ihren Blick in Entwicklungsländer gerichtet, in denen die Online-Enzyklopädie bisher kein Selbstläufer war. So kündigte Sue Gardner 2010 die Eröffnung von Büros in Indien, Südamerika und im arabischen Raum an. Doch auch hier geht die Arbeit nur langsam voran. Die in der Entwicklungsarbeit völlig unerfahrene Wikimedia Foundation muss sich erst mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut machen. Zunächst versucht die Stiftung technische Probleme zu lösen: Eine neue Mobil-Version der Enzyklopädie erleichtert den Zugang in Gegenden mit langsamen Internetverbindungen, Vereinbarungen mit Mobilfunk-Unternehmen sollen den Abruf in vielen Entwicklungsländern zudem kostenlos machen. Doch der neue Fokus bringt auch Streit in die Wikimedia-Bewegung: Während die Wikimedia Foundation in Zukunft Geldfluss und Aktionen mehr zentralisieren will, pochen die Länderorganisationen wie Wikimedia Deutschland auf ihre Eigenständigkeit.
Wikimedia Deutschland setzt unterdessen wieder andere Akzente. Der Verein, der mittlerweile mehr als 20 Angestellte hat, hatte schon frühzeitig Kooperationspartner gesucht, die Inhalte bereitstellen. So haben zum Beispiel die Deutsche Nationalbibliothek und das Bundesarchiv Teile ihrer Datenbestände für das Projekt zur Verfügung gestellt, die von den freiwilligen Mitarbeitern manuell oder halbautomatisch in das Projekt eingebaut wurden. So kann man zum Beispiel im Artikel von Helmut Kohl per Mausklick die gesammelte Literatur über den Altkanzler nachschlagen oder die offiziellen Pressefotos abrufen. Auch die Zusammenarbeit mit dem Projekt OpenstreetMap http://www.openstreetmap.org/ , das in einem ähnlichen Prozess wie Wikipedia Karteninformationen zusammenstellt, wurde in Deutschland initiiert.
In der nächsten Stufe soll Wikipedia mit einer Fakten-Datenbank unterlegt werden. Müssen heute noch alle Texte in den mittlerweile mehr als 250 Sprachversionen von Hand geschrieben werden, soll das Projekt "WikiData" zumindest grundsätzliche Faktenbeziehungen in Software abbilden. Dass beispielweise Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist, ist in jeder Sprache unstrittig und kann daher an einer Stelle einmalig festgelegt werden. Doch viele Community-Mitglieder misstrauen der neuen Technik – so macht sie das Verfassen von Artikeln wieder komplexer und das Einschleusen von Falschinformationen einfacher. Dabei könnten gerade kleinere Sprachversionen von einem vorgegebenen Faktenbestand profitieren.
Wie sehr sich Wikipedia gewandelt hat, zeigt das WikiData-Projekt sehr anschaulich: Konnte zu Beginn der Wikipedia alles mit freiwilliger Hilfe erledigt werden und grundlegende Änderungen in wenigen Tagen umgesetzt werden, hat Wikimedia Deutschland für das neue Projekt elf zusätzliche Angestellte für mehr als ein Jahr verpflichtet. "Wiki-wiki" heißt immer noch "schnell”, doch diese Eigenschaft hat Wikipedia seit den turbulenten Anfangsjahren Stück für Stück verloren. Als gereiftes Projekt, auf das sich Millionen Menschen weltweit verlassen, muss die Gemeinschaft der Autoren Wege finden, das Projekt ständig neu zu erfinden. Wohin die Wikipedia in den kommenden elf Jahren steuert, ist kaum vorherzusagen.
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freier Journalist mit den Schwerpunkten Internetkultur, Wirtschaft und Verbraucherthemen
ist freier Journalist mit den Schwerpunkten Internetkultur, Wirtschaft und Verbraucherthemen. Seit der Gründung der Wikipedia berichtet er regelmäßig über die Entwicklungen und Diskussionen der Online-Enzyklopädie. Externer Link: kleinz.net