Sich frei durch das Netz bewegen: Webseiten besuchen, eigene Inhalte erstellen und sich austauschen - dies war die Vision von Tim Berner Lees, als er 1989 das "world wide web" als Kommunikationsmedium erdachte. Insofern war die Idee einer nutzergenerierten dynamischen Online-Enzyklopädie längst überfällig, als sie 2001 mit der Wikipedia lebendig wurde.
Dass die technischen Mittel für das interaktive Internet fehlten, war allerdings nicht der Grund dafür, dass das Web 2.0 auf sich warten ließ. Die Technik stand längst bereit: Dazu gehörte nicht viel mehr als ein Webserver, eine Datenbank und etwas Programmcode. Doch in den Neunziger Jahren hatte sich das immer populärere Web zum Konsummedium entwickelt. Statt Inhalte selbst zu erstellen, surften die meisten Nutzer auf den Webseiten kommerzieller Anbieter. Der Raum für Interaktionen blieb eng begrenzt auf Webforen, Chats und eher schlichte private Webseiten.
Und so erreichte 1995 das erste „Wiki“ des amerikanischen Programmierers Ward Cunningham keine große Breitenwirkung. Obwohl es gerade auf eine allgemeinverständliche Weise angelegt war. Das Programm ermöglichte es jedem Websurfer, bemerkenswert einfach Webseiten selbst anzulegen und zu ändern – ohne Programmierkenntnisse oder komplizierte Formatierungen. Das unterstreicht der Name des Systems: „Wiki-wiki“ kommt aus dem Hawaiianischen und heißt dort „schnell“. Eigentlich hatte Cunningham das neue Medium zum Eigengebrauch entwickelt – doch schon bald entstand eine enthusiastische, wenn auch sehr kleine Gemeinde, die immer neue Wikis anlegte und an neuen Wiki-Systemen programmierte.
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales spricht auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zu Journalisten. (© picture-alliance/AP, Anja Niedringhaus)
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales spricht auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zu Journalisten. (© picture-alliance/AP, Anja Niedringhaus)
Als der Unternehmer Jimmy Wales und der Philosoph Larry Sanger sich in den Neunziger Jahren im Netz kennenlernten, entwickelten sie gemeinsam die Idee, ein Online-Lexikon als kostenlose Wissens-Ressource für jedermann zu erschaffen. Das Projekt ging im Januar 2000 unter dem Namen "Nupedia" online. Von der Wiki-Technik hatten beide noch nicht gehört, Nupedia basierte auf einem eher behäbigen Redaktionssystem. Die Qualitätsansprüche der Neu-Enzyklopädisten waren hoch: Nur ausgewiesene Experten durften Texte verfassen, in einem langwierigen Redaktionsprozess wurden sie vollendet. Zu langwierig, wie sich herausstellte: In den drei Jahren seiner Existenz brachte es die Nupedia auf gerade Mal 24 fertige Artikel.
Larry Sanger ist einer der Mitgründer der Wikipedia. (© ddp/AP, Kiichiro Sato)
Larry Sanger ist einer der Mitgründer der Wikipedia. (© ddp/AP, Kiichiro Sato)
Von dem langsamen Fortschritt frustriert, erfuhren Wales und Sanger ein Jahr später von dem Wiki-Konzept und installierten wenig später auf dem Server von Nupedia ein Wiki, auf dem sich die interessierten Enzyklopädieautoren austoben konnten. Am 15. Januar 2001 ging die "Wikipedia" online. Der Erfolg stellte sich fast sofort ein: Als man ihnen freie Hand ließ, entfalteten die Autoren plötzlich eine ungeahnte Schreiblust. In nur zwei Monaten verfassten sie mehr als 2000 Artikel. Von dem Erfolg motiviert eröffnete Wales am 15. März 2001 unter der Adresse deutsche.wikipedia.com die deutsche Version der Wikipedia. Weitere Sprachversionen folgten. Eine formelle Struktur oder Organisation gab es noch nicht.
Auch Kurt Jansson, damals Soziologie-Student an der Freien Universität Berlin, stieß schnell auf das Projekt: "Ich war begeistert: man musste nur auf 'Bearbeiten' klicken und das Ergebnis stand sofort online”, sagt Jansson. Die Idee, das Web nicht nur zu konsumieren, sondern an der Erstellung einer neuen Art von Enzyklopädie teilzunehmen, faszinierte ihn und viele andere. Wie die Wikipedia in den ersten Monaten aussah, hat Jansson für die Allgemeinheit festgehalten: Auf Externer Link: seiner Webseite veröffentlichte er eine Momentaufnahme der deutschen Wikipedia in ihrem ersten Jahr. Noch musste das Projekt fast ganz ohne Grafiken auskommen – alleine das Logo der Nupedia prangte auf der Wikipedia-Startseite. Auch die Qualität der Texte war noch eher schlicht: Ein halbes Jahr nach Gründung umfasste der Eintrag zu Deutschland ganze fünf Zeilen und enthielt im Wesentlichen nur eine Aufzählung der Bundesländer, wichtiger Städte und angrenzender Staaten. Zum Vergleich: Der heutige Artikel ist 75 Druckseiten lang und deckt die Geschichte Deutschlands genauso ab wie Kultur und Politik.
Rasanter Aufstieg einer Idee
In den ersten Jahren fungierte Larry Sanger als Projektverantwortlicher und eine Art Chefredakteur der Wikipedia, Jimmy Wales war der Finanzier und Visionär. Ansonsten herrschte egalitäres Chaos: Jeder Nutzer hatte die gleichen Rechte und es gab nur wenige Regeln. "Wann immer Du etwas findest, von dem Du erkennst, dass es korrigiert oder sonstwie verbessert werden könnte, tu es einfach”, hieß es in der ersten Anleitung.
Auch wenn die Wikipedia seither viele Verwandlungen durchgemacht hat, hat sich an der grundsätzlichen Idee wenig verändert: Bis heute kann fast jeder Artikel mit einem einfachen Klick geändert werden. Kein Nutzer muss sich erst anmelden, sondern kann direkt beginnen, seine Beiträge in den Browser zu tippen. Für Larry Sanger wurde die Wikipedia jedoch schon bald zu chaotisch: Er schied 2002 aus dem Projekt aus und betätigt sich seitdem als einer ihrer eifrigsten Kritiker. Doch auch ohne den Mitgründer florierte das Projekt.
Auf der Startseite der Wikipedia hatten die Wikipedianer 2001 ein ehrgeiziges Ziel veröffentlicht: 100.000 Artikel wollten die unbezahlten Autoren erstellen, in nur fünf Jahren sollte es soweit sein. Doch die Realität überholte die Vision schnell. Bereits im Januar 2003 überschritt die englische Wikipedia die Marke von 100.000 Artikeln, die deutsche Wikipedia folgte Juni 2004. Zwar war nur ein Bruchteil davon voll ausformuliert und vollständig, doch der Weg war klar. Wikipedia sollte in kürzester Zeit zum ernsthaften Herausforderer für die klassischen Enzyklopädieverlage werden.
Einer der wichtigsten Geburtshelfer des rasanten Erfolgs war die ebenfalls aufstrebende Internet-Suchmaschine der 1996 gegründeten Suchmaschine Google. Die beiden Angebote ergänzten sich perfekt: Google bemüht sich, so viel vom Internet zu erfassen wie möglich und die besten Ergebnisse ganz nach oben zu sortieren. Wikipedia sammelte im Gegenzug zu möglichst vielen Themen Artikel.
Die Struktur der Wikipedia, bei der die Artikel über viele Links miteinander verwoben werden, begünstigte die Entwicklung noch. Viele Links auf einen Artikel wertet Google als Qualitätsmerkmal. Folge: Teilweise landeten sehr mangelhafte oder sogar nicht existierende Wikipedia-Artikel auf der ersten Seite der Google-Suche. Ein selbst verstärkender Effekt setzte ein: Je höher Google Wikipedia einstufte, umso mehr Autoren beteiligten sich an der Wikipedia, je mehr Artikel in der Wikipedia verfügbar waren, umso öfter verwies Google auf Wikipedia. Auch die zunehmende Berichterstattung in den Medien über das Projekt sorgte für einen ständigen Zustrom von Lesern und Autoren. Waren im Januar 2003 laut offizieller Statistik gerade einmal 250 Autoren aktiv, waren es ein Jahr darauf bereits 1456. Heute registriert Wikipedia über 120.000 Autoren in der deutschen Wikipedia – davon zählen allerdings nur zirka 1000 zum harten Kern, die mehr als hundert Änderungen pro Monat beitragen.
Das rasante Wachstum der Anfangsjahre hatte nicht nur positive Folgen. "Mit jedem Wachstumsschub kamen neue Probleme auf: wie gehen wir mit Störenfrieden um, welche Themen sind relevant, wie gliedern wir die Artikel?”, erinnert sich Jansson "Und jeder hatte eine andere Vorstellung davon, was eine Enzyklopädie sein sollte." Folge war ein nie endender Diskussionsprozess über die Grundregeln des Projekts, der zwischen den verschiedenen Autoren auf Diskussionsseiten, Mailinglisten und auch auf Nutzertreffen ausgetragen wird. Gaben Wales und Sanger am Anfang noch die Grundsätze und Strukturen vor, entschied das Autorenkollektiv immer mehreigenständig über die Organisation der Enzyklopädie.
Die Wikipedianer spezialisierten sich immer mehr: Schon früh hatten sie die Funktion des Administrators geschaffen, der für die Einhaltung der Regeln sorgen sollte, indem er beispielsweise Autoren für Regelverstöße sperrt oder nicht ordnungsgemäße Artikel löscht. Aus dem anfangs anarchischen Projekt wurde ein durchorganisierte Enzyklopädie-Maschinerie mit Hunderten Regeln, Schlichtungsverfahren und Schiedsgerichten. Alleine die "Relevanzkriterien”, die festlegen zu welchen Themen Wikipedia-Artikel erlaubt sind, umfassen in der deutschen Ausgabe mittlerweile 29 Druckseiten. Es gibt Wikipedianer, die sich fast ausschließlich der Spam-Bekämpfung widmen und Spezialisten, die sich ihre Fachgebiete wie Schach oder Mineralien bearbeiten. Die verschiedenen Sprachversionen befruchten sich dabei gegenseitig. So erfanden deutsche Wikipedianer im Jahr 2008 das Konzept der gesichteten Versionen – Änderungen von Neu-Autoren werden der Allgemeinheit nicht mehr sofort angezeigt. Ein Jahr später wurde das Konzept auch für die englische Wikipedia übernommen. Völlig eigenständige Wege können die unterschiedlichen Communities allerdings nicht beschreiten: Die Strukturen der Wikipedia sind mit durch die zu Grunde liegende Software MediaWiki – eine Eigenentwicklung der Wikimedia Foundation – bestimmt. Die Communities können darüber bestimmen ob sie bestimmte Funktionen wie zum Beispiel Feedback-Möglichkeiten für Leser aktivieren wollen.
Von der Enzyklopädie zur Organisation
War Wikipedia zunächst ein Hobby-Projekt auf den Servern des von Jimmy Wales gegründeten Internet-Unternehmens Bomis.com, beanspruchte die Online-Enzyklopädie immer mehr Ressourcen. Bereits ein Jahr nach Gründung stellte sich die Frage, wie sich Wikipedia auf Dauer finanzieren könne. Eine naheliegende Idee war Online-Werbung – schließlich verdiente Jimmy Wales mit seiner Firma vor allem durch Online-Werbung das Geld, das Wikipedia am Laufen hielt.
Hier zeigte sich zum ersten Mal die Macht der Community der Wikipedia-Autoren. Alleine die Gerüchte über die Einführung von Werbung führten unter den Autoren zu einem Aufstand. Sie sahen das Projekt als Gegenpol zum grassierenden Kommerz im Internet. Im Februar 2002 koppelte sich die spanische Wikipedia-Ausgabe von dem Haupt-Projekt ab und machte unter dem Namen "Enciclopedia Libre Universal en Español" weiter. Selbst die eilige Versicherung von Jimmy Wales, nicht gegen den Willen der Autoren Werbung zu schalten, konnte die Spaltung nicht verhindern. Erst Jahre später konnte sich die spanische Wikipedia von diesem Rückschlag erholen.
Im Sommer 2003 gründete Jimmy Wales daher die Wikimedia Foundation, eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in den USA, die fortan den Betrieb der Wikipedia verantworten sollte. Ein erster Spendenaufruf auf der Webseite brachte weltweit 30.000 Dollar ein – mehr als genug um die Server des Projekts zu bezahlen. Das Geld wurde unter anderem genutzt, um der Wikipedia mehrere Schwesterprojekte zur Seite zu stellen: 2002 war schon das Wörterbuch "Wiktionary" gestartet, 2003 folgten die Zitatesammlung Wikiquote und Wikibooks, eine Plattform für frei verfügbare Lehrbücher. 2004 eröffnete das kollaborative Nachrichtportal Wikinews. Heute hat Wikipedia insgesamt acht Schwesterprojekte, von denen jedoch lediglich die Multimedia-Sammlung "Wikimedia Commons" den Erfolg von Wikipedia nachahmen konnte.