Eine medienarchäologische Perspektive auf die Politik des freies Wissens, wie sie in der Wikipedia vertreten wird, gründet in der Analyse ihrer konkreten technologischen Bedingungen und Ermöglichungen: Algorithmen, vernetzte Computer, hypertextuelle Adressierung in elektrischer Blitzgeschwindigkeit. Daraus ergibt sich die medientheoretische Frage: Wie berühren Wikipedia und deren unverzügliche, jederzeitige Verfügbarkeit den Sinn für die Zeitlichkeit von Wissen? Wissen "in Zeiten von Wikipedia" ist nicht schlicht als zeitgeschichtliche Analyse gemeint, sondern bezweckt den Verweis auf die Eigenzeitlichkeit besagter Online-Enzyklopädie.
Beschleunigung und Dynamisierung des Wissenserwerbs: Halbwertzeiten und das Zeitkritischwerden von Wissen
Die Dauerhaftigkeit von Wissen versinkt in Datenströmen und ist nur noch temporär gültig. Dies galt im Unterschied zu religiösen Dogmen oder politischen Ideologieansprüchen zwar immer schon für den Prozess wissenschaftlicher Forschung, wurde aber durch den Buchdruck zumindest für längere Intervalle zementiert. Der klassische Begriff der Enzyklopädie verweist noch auf das von Foucault definierte panoptische Regime, d. h. den Wunsch und die Ermöglichung, Text- und Wissensräume mit einem Blick zu erfassen; an die Stelle solcher typographischen Räume tritt nun eine zeitliche Ordnung, ein blitzschnelles Kommen und Gehen von Wissen im Fließgleichgewicht: Sie umfasst den Menschen und seine Handlungen in Zeiteinheiten und Strukturen. Die technischen Möglichkeitsbedingungen sind es, die hier den Unterschied machen. Verkörpern klassische Enzyklopädien mit ihren festgesetzten Verweisen eine Art diagrammatische Buchmaschine, können hypermediale Adressen mit elektronischer Geschwindigkeit dynamisch umgeschrieben werden.
Im statischen Medium Buchdruck war redigiertes Wissen zumindest zeitweilig stabilisiert. Diese kanonische Stabilität wird im Zeitalter elektromathematischer Medien durch und durch dynamisiert; die Zeitabstände der Wissensaktualisierung schrumpfen gegen Null. Typographische Wissensräume, die sich traditionell - wie das Lesen eines Textes oder der Rhythmus von Tageszeitungen - linear, also im geordneten Nacheinander entfalten, gehen in das über, was Marshall McLuhan für die Epoche der Elektrizität als den "acoustic space" definierte: eine permanente Gleichzeitigkeit im globalen Dorf. Die längste Zeit - nämlich in der Epoche von Handschrift und Buchdruck - waren Wissensarchive durchweg zeitunkritisch. Wissen aber ist in Zeiten der Online-Enzyklopädie Wikipedia zeitkritisch geworden. "Zeitkritik" meint hier gerade nicht den kritischen Zeitgeist, sondern jene mikrotemporalen Prozesse, die für das Gelingen eines Vorgangs technisch oder neurophysiologisch entscheidend sind. Das Zeitkritischwerden der Wissensarchive ist eine Funktion von Zugriffszeiten und fortwährenden, immer kurzfristigen Aktualisierungen. Die für alle Web-Zitate notwendige Datierung ("access time") bis hin zur Sekundenangabe ist ein Hinweis auf das Zeitkritischwerden des Wissens im Netz. Die Differenz von elektronischem Speicher und institutionellem Archiv liegt in der Skalierung des zeitlichen Zugriffs. Ein möglichst rascher Zugriff auf die Dokumente war aus Sicht der Nutzer in klassischen Archiven und Bibliotheken zwar immer ein Bedürfnis, aber selten entscheidend für das Zustandekommen der Information. Im Kontext von Kommunikationsmedien, die mit elektronischer Geschwindigkeit Signale und Daten zur Verfügung stellen, hat sich jedoch der Anspruch auf Verfügbarkeit des Wissens in kürzester Zeit herausgebildet: ein mikrotemporales Zeitfenster.
Die Tradition der Enzyklopädie und die Elektrifizierung von Wissensräumen
Wissen war immer schon zeitbasiert im Sinne der wissenschaftlichen Einsicht in die Kontextabhängigkeit, Relativität und das beständige Revisionsbedürfnis allen Wissens. Wissen schwingt fortwährend zwischen den Polen Varianz und Invarianz. Der Philosoph Henri Bergson betont in seinem Werk Materie und Gedächtnis um 1900, dass die Aktualisierung von Vergangenheit im Bewusstsein als ständige Variation geschieht, nicht als identischer Abruf fest adressierbarer Information aus einem mechanischen Speicher. Ein theoretisches Modell dafür lieferte G. W. F. Hegels Enzyklopädie in seiner systematischen Unterscheidung von technischem Gedächtnis und aneignender Erinnerung.
Der Ausdruck "Tradition der Enzyklopädie" meint einerseits die bis in die Antike zurückreichende Genealogie der Enzyklopädie und den Wandel in den technischen Formen der enzyklopädischen Wissensüberlieferung andererseits. Die kontinuierliche Zeitachse, über der Wissen bislang als Dauer eingetragen war, wird mit Wikipedia auf die Momente verkürzt, an denen sich etwas ändert - eine Form der digitalen Zeitkomprimierung. Damit reiht sich Wikipedia nicht nur in eine Geschichte des enzyklopädischen Wissens und seiner jeweiligen Schrifttechniken ein, sondern bildet selbst eine Alternative zum bisherigen Modell von Wissensgeschichte zugunsten diskreter Zustände aus. Aus nachrichtentechnischen Codes zur Komprimierung komplexer Ton- und Bilddatenströme (streaming media) ist es vertraut: Redundante, sich wiederholende Information lässt sich symbolisch oder numerisch verkürzt übertragen.
Eine Enzyklopädie ist kein Archiv und keine Bibliothek, sondern eine relationale Datenbank, deren diagrammatisches Merkmal – im Unterschied zu allen Erzählungen – der non-lineare Querverweis ist. Im Fall von Wikipedia ist diese Verweisstruktur nicht nur offen, sondern auch dynamisch. Tatsächlich sind Archive, Bibliotheken und Museen, seitdem sie Anschluss an vernetzte Computerwelten fanden, "in Bewegung"
Der Buchdruck, also die klassische Medientechnik des enzyklopädischen Wissens, steht für die dauerhafte, unumschreibliche Fixierung und die Form dessen, was in der Sprache der Informatik "Read Only Memory" (ROM) heißt. Heute ergreift die Temporalisierung im World Wide Web auch die textbasierten Wissensräume. Mobile Medien sind nicht nur die technologische Form aktueller Kommunikation, sondern sie definieren auch die Form ihrer Aussagen. Die eigentliche Botschaft der elektronischen Wissensenzyklopädie ist ihre mikrozeitliche Form.
Cybertime: Die radikale Verzeitlichung von Wissenszuständen
Die jeweilige Jetztvergangenheit eines Wikipedia-Eintrags wird (aus diskursiver Gewohnheit) als ihre "Geschichte" bezeichnet; tatsächlich aber ist damit die ahistorische Form des Palimpsests, der übereinandergeschriebenen, sich jeweils ausradierenden Texte gemeint, wie Matthew Kirschenbaum erklärt: "Attention to these editorial histories can help users exercise sound judgement as to whether or not the information before them at any given moment is controversial."
Die aktuelle Antwort der Informatik zum Zweck von online backups heißt Delta-Kodierung, derzufolge in sukzessiven Varianten eines Dokuments nicht die jeweilige Ganzheit, sondern nur die Differenzen gespeichert respektive übertragen werden. Ein Protagonist in den Zeitweisen hochtechnischer Medien, das mathematische Intervallsymbol ∆, kommt in solchen "Deltas" auf den sprachlichen Begriff.
Die Delta-Kodierung, die in Wikipedia-Artikeln die jeweiligen Änderungen entweder vollständig in chronologischer Reihe (gelistet nach Versionen) oder als aktuellen Unterschied zur bisherigen Version auflistet, ersetzt die statis von Wissen durch eine differentielle Dynamik. An die Stelle von Wissensmonumenten treten zeitliche Relationen.
Das Internet ordnet Wissen in Form einer offenen, nicht mehr durch das Format des Buches geschlossenen Form. Es hierarchisiert dieses Wissen nicht bibliotheksförmig, sondern korreliert vielmehr mit der aus der Ökonomie der Warenspeicherung vertrauten sogenannten chaotischen Lagerung, wie es schon 1997 die Zeitschrift Scientific American kennzeichnete: "The more serious, longer-range obstacle is that much of the information on the Internet is quirky, transient and chaotically 'shelved'
Die topologische Infrastruktur des Internet ist eine Radikalisierung des postalischen Dispositivs; sie ist mit zeitkritischen Vektoren versehen, ganz wie die darauf bauende Wissensökonomie. Ist es bislang die Aufgabe klassischer Archive, Rechtsansprüche und Wissen auf Dauer in einer je festgelegten Form und symbolischen Ordnung zu bewahren, obliegt das Wissensfeld namens Internet einer höchst andersartigen Dynamik der Aktualisierung in Permanenz. Die Ökonomie, die in dieser grundsätzlichen Temporalisierung des Wissens waltet, ist zeitkritischer Natur. Der wissensökonomische Tausch lautet fortlaufende Aktualität um den Preis der Flüchtigkeit; an die Stelle dauernder, monumentaler Gültigkeit treten "flow" und "streaming". Diese Chronologik läuft auf das Provisorische hinaus; die zeitliche Endlichkeit ist hier von Beginn an mit eingeplant. Paratextuelle Datierungsangaben wie "last modified" und "accessed" deuten es an: Zeitkritische Heterochronien treten an die Stelle klassischer Wissensräume.
WWW: Anarchivische Wissensordnungen
Angesichts von Website-Wellen, die sich am Strand aktueller Interfaces ständig brechen und erneuern, hat es den Anschein, dass das Internet zum wissenspolitischen Anarchiv tendiert. Neue Medienplattformen wie Facebook, Youtube oder Wikipedia stellen zwar durchsuchbare Datenbanken dar, doch das Bewahren von Wissen ist weder ihr eigentliches Ziel noch wird es so verwendet: "YouTube is not itself an archive. Preservation is neither its mission nor its practice."