Dos and Don’ts, also praktische Handlungsempfehlungen für den Lokaljournalismus der digitalen Zukunft gibt es inzwischen zuhauf. Er müsse, so heißt es, die Themen der Berichterstattung selber setzen, statt die politische Agenda der großen Blätter zu kopieren. Er solle die Interessen und Wünsche seiner Leser stärker berücksichtigen.
Solche Forderungen hören sich gut an und sind vor allem eines: gut gemeint. Aus der Nähe betrachtet sind sie häufig jedoch nicht mehr als der Stoff, aus dem Sonntagsreden und Stammtische gemacht sind. Wissenschaftlich-empirische Fundierungen finden sich leider allzu selten – Studien wie "Salto Lokale", die der Medienkritiker Fritz Wolf 2010 im Auftrag des Netzwerk Recherche angefertigt hat, bilden eher die Ausnahme.
Aber das ist noch das geringste Problem, das sich aus der kritischen Beschäftigung mit dem Gegenstand "Lokaljournalismus" ergibt: Denn die meisten Leser wie Journalisten kennen eine, vielleicht zwei, höchstens drei Lokalzeitungen aus eigener Nutzung und persönlicher Anschauung. Wer zufällig zum Kölner Stadt-Anzeiger greift, wenn er bei den Schwiegereltern weilt, oder einen punktuellen Blick in die Kieler Nachrichten wirft, um zu erfahren, wie das Segelwetter wird, weiß deutlich zu wenig über diese Blätter. Er kann erst recht keine fundierten Aussagen über den Lokaljournalismus als Ganzes treffen.
Deshalb ist es nicht nur wichtig, sondern auch zwingend, dass die Bundeszentrale für politische Bildung im Rahmen ihres Lokaljournalistenforums die Lokaljournalisten dieser Republik jedes Jahr zusammenführt, um über das Wohl und Wehe des Lokalen zu diskutieren. Auch Verbände wie der Verband Deutscher Lokalzeitungen, der BDZV und ZV bemühen sich – schon aus Eigeninteresse – die Lokalzeitungsmacher in Auftragsstudien zu berücksichtigen oder in ihre Jahrestagungen einzubinden, wenn sie zumindest deren Verleger und Chefredakteure zu illustren Podiumsrunden einladen. Nicht zuletzt engagieren sich Medienfachzeitschriften wie das Medium Magazin und politische Stiftungen wie die Konrad-Adenauer-Stiftung für den Lokaljournalismus, indem sie in dieser Kategorie Preise vergeben.
Man kann also nicht behaupten, dass für den Beruf des Lokaljournalisten wenig getan oder ihm in der Debatte um die Zukunft des Metiers keine Beachtung geschenkt würde. Im Gegenteil werden meist die Potenziale und Chancen betont, die gerade das lokale Handwerk im digitalen Zeitalter aufbietet: ausgeprägte Bürgernähe, gesellschaftlicher Nutzwert, hyperlokale Kompetenz, hohe Glaubwürdigkeit, kritisches Urteilsvermögen – um nur die wichtigsten Vorzüge zu nennen. Trotzdem haben Branchenkenner offenbar immer häufiger die Befürchtung, dass der Lokaljournalismus vor allem unter jungen Lesern nicht mehr "sexy" genug ist – zumindest ist das ein Befund, zu dem der Kölner Lokal-TV-Unternehmer und frühere RTL-Reporter André Zalbertus 2011 auf der BDZV/ZV-Konferenz "Total lokal" kam: "Haben Sie den Mut, das Regionale in Ihren Zeitungen nach vorn zu stellen", forderte Zalbertus, "die Leser werden es Ihnen danken". Lokaljournalisten dürften sich nicht wie "Kollegen aus der zweiten Reihe vorkommen", sondern müssten "zu regionalen Marken werden". So könne deutscher Lokaljournalismus "endlich wieder sexy werden".
Man kann darüber streiten, ob die zugespitzte Losung "arm, aber sexy" eine Perspektive ist, in die Lokaljournalisten denken müssen. Der Impuls aber ist sicher richtig, dass sich die Branche fragen muss, was der Lokaljournalismus heute leisten muss, um überleben zu können, aber auch, um (weiterhin) wertvoller, relevanter und auch informativer Teil einer demokratischen Gesellschaft sein zu können. Ein experimentierfreudiger Lokaljournalismus, der die zahllosen Möglichkeiten des Internet-Zeitalters für sich entdeckt, hat natürlich eine höhere Lebenserwartung als einer, der sich für innovationsresistent hält.
Ein wichtiges Thema, bei dem der ‚echte‘ Lokaljournalismus, versagt hat – und hoffentlich gibt es hierfür Gegenbeispiele – ist die Eurokrise, die uns seit Monaten landauf, landab beschäftigt. Zumindest legen erste Ergebnisse zweier Umfragen der Universität Hohenheim und ING-DiBa unter der Leitung von Claudia Mast nahe, dass es vor allem die Regionalpresse schlicht versäumt hat, diese Krise nach allen Regeln der Kunst ‚herunterzubrechen‘, wie man im Medienjargon sagt. Das heißt: Viele Lokaljournalisten haben sich offenbar damit zufrieden gegeben, die Herausforderungen der Krise durch die "Berliner Brille" zu betrachten, aber nicht durch die Brille der in den Gemeinden und Regionen ansässigen Bürger, Steuerzahler, Rentner, Verbraucher. Es hätte, so mein Appell, nicht viel bedürft, in der Krisenberichterstattung sublokale Akzente zu setzen, um die entstehenden Probleme zu regionalisieren. Was wir bisher erlebt haben, ist eher das genaue Gegenteil: eine weitgehend von Hysterie, Lückenhaftigkeit, und bar jeglicher sozialen Zusammenhänge geprägte Einbahnstraßenkommunikation.
Hier hat der Lokaljournalismus sein Vertrauen und seine Glaubwürdigkeit vorerst verspielt. Dies erklärt auch, warum sich viele Nutzer in den letzten Wochen alternativen, größtenteils nicht-journalistischen Quellen im Netz zuwandten, etwa lokalen Blogs von Privatpersonen. Sie boten offenbar das, was viele Lokalzeitungen nicht imstande zu leisten waren: den direkten Draht zum Leser, eine unverklausulierte Sprache, alltagsnahe Beobachtungen und politisch neutrale Denkwelten, etwa von bloggenden Managern, Fachjournalisten oder Wirtschaftswissenschaftlern. Natürlich ist wie immer bei solchen Pauschalisierungen Vorsicht geboten, solange sie nicht empirisch belegt sind. Die Ergebnisse der oben erwähnten repräsentativen Studien von Claudia Mast deuten allerdings darauf hin, dass die große Verunsicherung und aufgestaute Wut der Bürger, aber auch ihre Angst vor der Finanzbranche durchaus in direktem Zusammenhang mit der defizitären Presse-Berichterstattung über die Eurokrise stehen. Trotz des immens gestiegenen Interesses in der Bevölkerung an Wirtschaftsthemen, sind 42 Prozent mit den Leistungen des Journalismus unzufrieden: Der Wunsch nach einer verlässlichen, kritischen Instanz ist nicht von der Hand zu weisen.
Was würde also ein über die Krise schreibender Lokaljournalist tun, wenn er nicht nur "sexy" sein möchte, sondern auf die Lebenswelt seiner Leser zielt? Fünf Forderungen:
Er darf sie publizistisch weder über- noch unterfordern – Hauptsache ist, er verkauft sie nicht für dumm.
Er muss seine Geschichten konsequent regionalisieren, also Bürgernähe schaffen, indem er über persönlich Erlebtes bloggt, facebookt oder twittert.
Er sollte einen Dialog beginnen – sich unter Einbezug von sozialen Netzwerken, Leserforen und Kommentaren die Bedürfnisse, Sorgen und Fragen der Leser anhören.
Er muss mehr Analysen und Erklärungen aus der Nutzerperspektive einbringen – das erwarten die Leser von ihm als Navigator.
Und er könnte seine Ortskenntnisse weiter stärken, indem er seinen Lesern über Lokalisierungsnetzwerke wie Foursquare oder Sleeq signalisiert, wo er gerade recherchiert, wen er trifft, wo er sich aufhält, auch um ansprechbar zu sein.
Diese - empirisch noch zu sättigenden - Empfehlungen bekräftigen zumindest das, was SZ-Koryphäe Hans Leyendecker in einem Interview eher am Rande bemerkte: "Nichts ist schwerer als der Lokaljournalismus, denn das, was sie machen, ist von den Lesern überprüfbar." Dies ist eine ebenso bedenkenswerte wie wegweisende Erkenntnis.
Quellen/ Literatur
Mast, Claudia (2011): Misstrauensvotum der Bürger gegenüber Politik und Finanzwirtschaft. Gemeinschaftsstudie Universität Hohenheim (Stuttgart) und ING-DiBa AG (Frankfurt).
Externer Link: https://media.uni-hohen-heim.de/fileadmin/einrichtungen/media/PDF/Zwischenbericht_Hohenheim_Feb2011.pdf
Wolf, Fritz (2010): Salto Lokale. Das Chancenpotential lokaler Öffentlichkeit. Zur Lage des Lokaljournalismus. 15. Mainzer Medien Disput. Als Download erhältlich unter Externer Link: http://www.mainzermediendisput.de/.