Basislager der Demokratie
Kommunalpolitik und kommunale Demokratie in Gemeinden und Städten
Timo Grunden
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"All politics is local" – Kommunen kommt im politischen System Deutschlands eine doppelte Rolle zu: Zum einen sind sie auf der untersten Ebene im föderalen System angesiedelt, zum anderen sind sie der Ort, an dem demokratische Teilhabe zuerst ermöglicht wird.
"All politics is local!" – Tip O´Neil wusste, wovon er sprach. Der ehemalige Sprecher des US-Repräsentantenhauses wurde immerhin 17 Mal in den Kongress gewählt. Seine Feststellung ist mittlerweile zu einer geradezu klassischen Faustregel für viele Wahlkämpfer geworden: Nur wer versteht, wie sich Entscheidungen der "großen Politik" vor Ort, bei den Menschen zuhause auswirken, kann Wahlen gewinnen. Dabei ist es weniger Wahlkampftaktik als die dahinterliegende Überzeugung, die O´Neils Erfahrung auch für Europäer und Deutsche interessant macht: dass die "große Politik" erst im "Kleinen" konkret wird und dass Demokratie vor Ort beginnt, in den Städten und Gemeinden, in denen die Bürger leben. Sie sind das Basislager der Demokratie. Man darf nicht unterschätzen, wie bedeutend die örtlichen Lebensbedingungen für die politische Willensbildung sind – auch und gerade dann, wenn es um Entscheidungen geht, die in Berlin getroffen werden. Gewiss sind es zunächst die überregionalen Massenmedien, vor allem das Fernsehen, die ein Bild von den Auseinandersetzungen über die nationale Finanz-, Umwelt- oder Energiepolitik vermitteln. Aber das bleibt zunächst sehr abstrakt. Erst wenn kommunaler Wohnraum privatisiert wird oder Hochspannungsleitungen in der Nachbarschaft gebaut werden, wird erfahrbar, was die Losungen von der "privaten Eigenverantwortung" und der "nachhaltig-ökologischen Energiepolitik" konkret bedeuten.
Ein "demokratisches Basislager" sind die Kommunen auch durch den sogenannten "vor-politischen Raum", in dem sich die Mitglieder politischer Parteien in Vereinen, Bürgerinitiativen, Kirchen und Gewerkschaften engagieren und so persönliche Beziehungen mit den Bürgern pflegen. Den Aufstieg zu Volksparteien verdankten Union und Sozialdemokraten einst diesen engen und belastbaren Verbindungen in den Städten und Gemeinden. Der Historiker Michael Zimmermann hat die kommunale Verankerung der Parteien am Beispiel der Ruhrgebiets-SPD beschrieben und ihr Erfolgsgeheimnis bereits im Titel auf den Punkt gebracht: "Geh zu Hermann, der macht dat schon." Hermann war SPD-Stadtrat, Gewerkschaftssekretär und Betriebsrat. Ähnlich wie sein christdemokratisches Pendant im katholischen Münsterland (als Stadtverordneter, Kirchen- oder Kolpingvorstand) war dieser typische Multifunktionär der bevorzugte Ansprechpartner seiner Mitbürger, weil er für jede Art von Alltagsproblemen Hilfe versprach. An diese Tradition sollten sich die krisengeschüttelten Volksparteien erinnern. In den Kommunen begann ihr Aufstieg und hier wird auch unter neuen Bedingungen ihre Regeneration beginnen müssen.
Das Politische der Kommunalpolitik
Die Kommunen nehmen eine Doppelrolle im politischen System der Bundesrepublik Deutschland wahr. Zum einen sind sie die dritte und unterste Ebene im föderalen Verwaltungsaufbau. Auf Weisung und unter Aufsicht der Länder übernehmen sie sogenannte "Pflichtaufgaben" und "Auftragsangelegenheiten" bei der Ausführung von Bundes- und Landesgesetzen. Hier kommt ihnen nur eine rein administrative Rolle zu, ohne jeglichen politischen Ermessensspielraum. Zum anderen sind sie aber auch ein Ort, der selbst demokratisch gestaltet wird und der demokratische Teilhabe ermöglicht. Das Grundgesetz garantiert in Artikel 28 den Einwohnern einer Gemeinde nicht nur eine gewählte Vertretung, sondern gibt dieser auch das Recht, "alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln (...)." Dieses Recht begründet die "kommunale Selbstverwaltung", die sich in zwei Aufgabengruppen unterteilen lässt. Die erste Gruppe umfasst freiwillige Aufgaben, bei der die Gemeinde allein entscheidet, ob und wie sie diese Aufgaben wie z. B. Wirtschaftsförderung oder die Unterhaltung von Kultur- oder Sport- oder Jugendeinrichtungen erfüllen möchte. Die zweite Gruppe umfasst "pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben", wie z. B. die Erstellung von Bebauungsplänen, die Bereitstellung von Kindergarten- und Kitaplätzen. Diesen Aufgaben muss eine Gemeinde nachkommen, aber sie kann entscheiden, wie sie das im Rahmen der Gesetze machen will. Für alle Angelegenheiten der Selbstverwaltung liegt die Entscheidungskompetenz letztendlich bei der gewählten Gemeindevertretung, also beim Rat. Hier öffnet sich das Feld der demokratisch gestaltbaren Kommunalpolitik.
Dass kommunale Politik auch kommunale Demokratie bedeuten soll, klingt heute selbstverständlich, war es lange Zeit aber nicht. In der deutschen Rechts- und Verwaltungswissenschaft dominierte noch in den 1970er Jahren die Vorstellung, dass "Politik" auf Landes- und Bundesebene stattfinde, Kommunen hingegen vor allem effektive Verwaltungsapparate sein müssten, deren Angelegenheiten nur in sehr engen Grenzen dem demokratischen (Parteien-)Streit ausgesetzt werden dürften. Erst langsam setzte sich die politikwissenschaftliche Erkenntnis durch, dass Gemeinden nicht zu einer "konflikt-, ideologie- und agitationsfreien Idylle verklärt" werden dürfen, wie Naßmacher und Naßmacher in ihrem Standardwerk "Kommunalpolitik in Deutschland" formulieren. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil ansonsten das Politische in der Kommunalpolitik unkenntlich zu werden droht. Schließlich gibt es auch hier handfeste Interessenkonflikte, die entweder durch Verhandlungen und Kompromisse oder durch Abstimmungen und Mehrheiten entschieden werden müssen.
Wer regiert? - Kommunen als "politische Systeme"
Demokratische Entscheidungsprozesse vollziehen sich stets im Spannungsgeflecht von Sachproblemen, Interessenlagen und eben auch Machtfragen. In den Kommunen ist das nicht anders. Auch wenn Städte und Gemeinden staatsrechtlich ein Teil der Länder sind und nicht über staatliche Hoheitsmacht verfügen, so sind sie in der Praxis der Selbstverwaltung durchaus eigene "politische Systeme" mit eigenen politischen Akteuren und Institutionen.
Der wichtigste institutionelle Rahmen der Kommunalpolitik sind die Gemeindeordnungen bzw. Kommunalverfassungen der Bundesländer. Ihre Grundprinzipen lauten: Die Bürgermeister und die Räte werden separat gewählt. Die direkt gewählten Bürgermeister sind zugleich die Leiter der Verwaltung. In allen Bundesländern haben die Einwohner einer Gemeinde mit Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden direktdemokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten. Neben unterschiedlich langen Wahlperioden bestehen Unterschiede im Hinblick auf die Rechte des Rates bei der Berufung von Dezernenten und Beigeordneten und dem Zuschnitt ihrer Zuständigkeiten. Nicht in allen Ländern haben die Bürgermeister uneingeschränkte Weisungsrechte, zudem können die Räte in einigen Ländern, wie z. B. in Brandenburg oder NRW, in die laufenden Geschäfte der Bürgermeister eingreifen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich immer wieder die klassische Frage, wer eigentlich der mächtigere Akteur in der Lokalpolitik ist: Der Bürgermeister oder der Rat? Pauschal lässt sich dies nicht beantworten. Es hängt auch von der Gestaltung der Kommunalverfassung ab und welche politisch-kulturellen Traditionen – vor allem im Parteienwettbewerb – in den Kommunen auszumachen sind.
In der lokalen Politikforschung werden zwei Typen der Kommunalpolitik unterschieden: die "kommunale Konkordanzdemokratie" und die "kommunale Konkurrenzdemokratie". In der Konkordanzdemokratie (empirisches Vorbild sind die kleinen Städte in Baden-Württemberg) ist der Parteienwettbewerb nur sehr schwach ausgeprägt. Der Bürgermeister und die Ratsmitglieder, auch die Ratsmitglieder untereinander, pflegen einen sehr konsensorientierten Stil. Der Bürgermeister nimmt eine außerordentlich starke Führungsposition ein.
In der Konkurrenzdemokratie (empirisches Vorbild sind die Großstädte in NRW) verhält es sich anders. Der Parteienwettbewerb bestimmt das eher konfliktorientierte Verhältnis zwischen den Akteuren. Die Räte können in die laufenden Geschäfte eingreifen, wählen die Beigeordneten und bestimmen ihre Zuständigkeiten. Durch die Parteienkonkurrenz werden Auseinandersetzungen auch wesentlich öfter als in der Konkordanzdemokratie in der Öffentlichkeit ausgetragen. Hier ist die Gestaltungsmacht eines Bürgermeisters maßgeblich davon abhängig, ob er sich auf eine "eigene Mehrheit" im Rat stützen kann.
Doch grundsätzlich muss man davon ausgehen, dass es auch in konkurrenzdemokratischen Städten und Gemeinden zu einer machtpolitischen Aufwertung der Bürgermeister und – durch die Ausweitung direktdemokratischer Beteiligungsformen – der Bürger selbst gekommen ist. Die Räte stehen einem direkt gewählten Bürgermeister gegenüber, der sich in Konfliktfällen auf seine große demokratische Legitimation berufen kann: Ihre Wiederwahlquoten reichen bis zu über 90 Prozent. Doch damit nicht genug. Die Bürgermeister können auch auf das mächtige Rechts- und Verwaltungswissen ihrer Rathäuser zurückgreifen. Auch wenn der Rat bei allen Angelegenheiten der Selbstverwaltung ein Letztentscheidungsrecht (mit Ausnahme von Bürgerentscheiden) hat, so sind doch viele kommunalpolitische Politikfelder dermaßen verrechtlicht, dass sie einem juristischen Minenfeld gleichen. Diese Felder ohne das Fachwissen der Verwaltung zu durchqueren, fällt großen "Oppositionsfraktionen" in größeren Städten mit ihren professionellen Mitarbeiterstäben etwas leichter, aber auch in kleinen Gemeinden kommt es bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen immer wieder zu gegenseitigen Blockaden.
Nicht selten ist es dann ein beliebtes Instrument, die Bürger selber entscheiden zu lassen. Bürgermeister greifen gerne auf Bürgerbegehren und Bürgerentscheide zurück, um eine unwillige Ratsmehrheit unter Druck zu setzen. Umgekehrt nutzen auch Minderheitsfraktionen die direktdemokratischen Instrumente, um die machtvolle Einheit aus Bürgermeister, Verwaltung und Ratsmehrheit aufzubrechen. Allein die Androhung von direkter Demokratie führt oft zu größerer Kompromissbereitschaft oder sogar direkt zur Übernahme von Forderungen aus der Bürgerschaft. All das sei deshalb erwähnt, um den instrumentellen Charakter herauszustellen, den die direkte Demokratie auf kommunaler Ebene eben auch haben kann. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass durch die Ausweitung und Vereinfachung direktdemokratischer Verfahren, die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürger deutlich verbessert wurden. Aber man darf sie auch nicht idealisieren, zumal Bürgerbegehren und -entscheide nicht per se eine höhere demokratische Legitimation besitzen als Beschlüsse eines demokratisch gewählten Rates. Je größer eine Stadt ist, desto geringer ist die Beteiligung an Plebisziten und desto größer ist der "Democratic Divide": Menschen mit formal hoher Bildung und höheren Einkommen nutzen direktdemokratische Beteiligungsformen deutlich stärker als jene mit geringerem Einkommen und Bildungsabschlüssen. Direkte Demokratie ist nicht nur ein Machtinstrument im Parteienwettbewerb, sondern auch ein politisches Druckmittel gut organisierter Minderheiten. Das ist legitim. Aber die Öffentlichkeit sollte die Interessenlagen im demokratischen Entscheidungsprozess kennen – eine weitere wichtige Funktion des Lokaljournalismus, dies zu erklären.
Herausforderungen der kommunalen Demokratie
Die Städte und Gemeinden werden oft als "Schule der Demokratie" bezeichnet, weil sie den Bürgern eine Vielzahl demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten bieten: Kommunalpolitische Fragen beträfen die Bürger oft direkt, die Problemlagen gelten als anschaulich und die Folgen des eigenen Engagements seien unmittelbar erfahrbar. Wer sich in der Kommunalpolitik engagiere, und sei es nur für ein konkretes Projekt für kurze Zeit, der erlerne die Spielregeln demokratischer Entscheidungsprozesse und das Handwerk der Kompromisssuche – Soweit das optimistische Idealbild, dessen Verwirklichung aber an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist: Es muss erstens kommunalpolitische Sachfragen geben, denen die Bürger reale Bedeutung für das Leben in ihrer Heimatgemeinde beimessen und für die es zweitens auch echte Entscheidungsalternativen gibt. Doch genau dieser demokratische Handlungsspielraum wird durch rechtliche Vorgaben der EU, des Bundes und der Länder immer enger. Zudem schränkt die schon fast chronische Haushaltskrise den politischen Bewegungsspielraum vieler Kommunen empfindlich ein.
Andererseits schwingt in der Rede von der "Schule der Demokratie" auch eine wohlwollende Geringschätzung mit, als wäre Kommunalpolitik auf undefinierte Weise "einfacher" und letztendlich auch nicht so wichtig. Wer sich hingegen einmal mit kommunalen Finanzen oder Infrastrukturprojekten beschäftigt hat, der weiß, wie komplex und verantwortungsvoll Lokalpolitik sein kann – sowohl in der Sache als auch in ihrer politischen Dimension. Das hinderte in der Vergangenheit weder die Landespolitik noch Verfassungsgerichte daran, die Kommunen zu einem Labor für politische Experimente zu machen (Abschaffung der Fünf-Prozent-Hürde, Absenkung des Wahlalters etc.) und ihnen gleichzeitig immer neue Aufgaben und finanzielle Belastungen zuzuschreiben. Der formale Entscheidungsprozess wird komplexer, je nach Standpunkt auch "demokratischer", aber die Sachfragen, über die demokratisch entschieden werden kann, werden immer weniger. Die Politik überlässt den Bürgern immer öfter die Schlüssel zu den Tresoren der Macht. Doch die Tresore sind fast leer. Kurzum: Wer über mehr lokale Selbstbestimmungsrechte und mehr Finanzressourcen für die Kommunen nicht reden will, der sollte auch von kommunaler Demokratie schweigen.
Literatur
Bogumil, Jörg / Holtkamp, Lars (2006): Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine policyo-rientierte Einführung, Wiesbaden
Gehne, David H. (2008): Bürgermeisterwahlen in Nordrhein-Westfalen, Wiesbaden
Holtkamp, Lars (2008): Kommunale Konkordanz- und Konkurrenzdemokratie. Parteien und Bürger-meister in der repräsentativen Demokratie, Wiesbaden.
Naßmacher, Hiltrud und Karl-Heinz Naßmacher (2007): Kommunalpolitik in Deutschland, Wiesbaden.
Zimmermann, Michael (1983): "Geh zu Hermann, der macht dat schon". Bergarbeiterinteressen-vertretung im nördlichen Ruhrgebiet, in: Niethammer, Lutz (Hrsg.): "Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist". Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin, S. 277-310.
Dr. Timo Grunden ist Mitglied der Forschungsgruppe Regieren der Universität Duisburg-Essen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen formale und informelle Institutionen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Politische Führung sowie Parteien- und Wahlforschung. Seit 2009 ist er Akademischer Rat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen.
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