Man muss hier von "Unterrichtspflicht" sprechen, weil es in der Pflicht des "Hausvaters" stand, für den Unterricht zu sorgen, und zwar "in seinem Hause". Erst wenn er das nicht "selbst besorgen kann oder will", entstand die Pflicht, die Kinder zur Schule zu schicken. Doch selbst dann bestand noch kein Zwang zum Besuch einer staatlichen Schule. So schickten die Wohlhabenden ihre Kinder selbstverständlich auf Privatschulen, vor allem in der Zeit vor dem Übergang in die höheren Schulen, die in kommunaler, kirchlicher oder staatlicher Hand lagen. Vor diesem Hintergrund war für die Kinder der unteren Schichten der Schulbesuch also nicht nur eine soziale Errungenschaft, sondern zugleich ein Indiz gesellschaftlicher Diskriminierung.
Im Schulzwang für Kinder aus nicht unterrichtsfähigen Familien fungierte der Staat als "Vormund" - bis heute wird an der Überzeugung festgehalten, dass er die legitimen Ansprüche und Rechte der Kinder ("das Kindeswohl") gegenüber ihren offenbar bildungsunwilligen oder -unfähigen Eltern wahrnehmen muss. "Der Zwang wird nämlich nicht gegen das noch ganz bestimmungslose Kind, sondern gegen seine Eltern und Vormünder angewendet, welche aus Geiz oder Roheit im Begriffe sind, demselben einen ungeheuren Schaden zuzufügen. Der Staat tritt also lediglich als Obervormünder der Recht- und Schutzlosen abwehrend ein, um dem Kinde die Möglichkeit zu verschaffen, sich wenigstens die zur Entwickelung der Geisteskräfte und zum Fortkommen im Leben unentbehrlichste Bildung zu erwerben. Der eigene Wille des Kindes könnte, wäre es bestimmungsfähig, vernünftigerweise kein anderer sein; diesen ergänzt der Staat."
Das Ende der Hausväter-Herrschaft
Diese aufwendige Begründung war und ist notwendig, weil seit dem 18. Jahrhundert die Durchsetzung der Schulpflicht als schwerer Eingriff in die genuinen Rechte des Hausvaters begriffen wurde; die Kontroversen über das "Elternrecht" belegen das bis heute. Aber selbst engagierte Verfechter der kirchlich-konfessionellen Rechte im Bildungswesen und liberale Bildungspolitiker fanden den "Eingriff in die bürgerliche Freiheit" und die "Einschränkung der Elternrechte"
Erst in den Beratungen der Weimarer Verfassung und im Grundschulgesetz wurden seit 1919 die neuen und bis heute unveränderten Vorgaben formuliert und anstelle der Unterrichtspflicht für ganz Deutschland erstmals die Schulpflicht gesetzt. In Art. 145 der Verfassung von 1919 heißt es: "Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre." Ähnliche Formulierungen zur Schulpflicht finden sich noch heute in allen Schulgesetzen der Bundesländer. Gemeinsam mit dem Prinzip, dass die Grundschulzeit in der Regel in den Schulen des Wohnbezirks erfüllt werden musste, waren alle Freiheiten der sozialen Milieus zunächst beseitigt.
Die Schule war in ihrem Alltag und in ihrem pädagogischen Konzept verstaatlicht, nicht mehr milieugebunden, sondern "allgemein", also schichtunabhängig gleich. Vor allem machte die Aufhebung der privaten Vorschulen (Art. 147) den Bruch mit der preußischen Tradition der Klassenschule sichtbar. Zugeständnisse gehörten zum Kompromisscharakter der Verfassung, so wurde zum Beispiel der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach; und es gehörte zu den Bildungsprinzipien, dass bis heute die Errichtung von Schulen in privater Trägerschaft garantiert wird. Das Primat der Hausväter und ihrer Rechte wurde mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht abgeschafft.
Aktuell ist diese Vorgabe von 1919 nicht unumstritten, so wenig wie ihre klassische Begründung. In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2006 wird - anlässlich einer Klage hessischer Eltern, die unter Berufung auf Religionsfreiheit, Elternrecht und den besonderen Schutz der Familie den Besuch der öffentlichen Schule für ihre Kinder verweigert hatten -, die Schulpflicht heute mit einer auch schultheoretisch beachtlichen Begründung neu verteidigt.
"Die allgemeine Schulpflicht", so zunächst das bekannte Argument, "dient (…) der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags. Dieser Auftrag richtet sich (…) auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger." Das Bundesverfassungsgericht nimmt - schultheoretisch plausibel - an, dass dafür Schulen "effektiver" seien, weil hier "Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind".
Kann man aber den Effekt erwarten, den sich das Bundesverfassungsgericht erhofft? In der Bildungsforschung wird die Pflichtschule zum Teil auch als der Ort diskutiert, der Schulunlust, schlechte Leistungen, Drill statt Bildung und Desinteresse der Eltern erst erzeuge. Der Soziologe Ulrich Oevermann empfiehlt ihre Abschaffung, weil Pflichtschule verhindere, was sie verspreche.
Zuerst erschienen in "Le Monde diplomatique Nr. 9/2008, S. 21.