Bildungsideale, Bildungspolitik und das Bildungssysteme
Was ist eigentlich "gute Bildung"? – Nach einem angemessenen Bildungsideal zu fragen, heißt danach zu suchen, was wir als Individuen können und wie wir handeln sollen, um Gegenwart und Zukunft zu bewältigen. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Veränderung wird diese Frage immer wieder neu gestellt und von gesellschaftlichen Akteuren, etwa aus Politik und Pädagogik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, um Antworten gerungen.
Kontroversen über das angemessene Bildungsideal und seine Verwirklichung kommen auch in aktuellen Diskussionen über die Schule zum Tragen: Ob es nun um die Gestaltung der Schulstruktur geht, die Definition von Bildungsstandards, die Inhalte des Lehrplans, das Rollenverständnis von Lehrkräften – immer werden hier auch ganz grundlegende Fragen verhandelt: Soll Bildung zweckfrei sein oder vor allem verwertbar auf dem Arbeitsmarkt? Soll Wissenserwerb im Vordergrund stehen oder Persönlichkeitsentwicklung? Gehört zum Bildungsauftrag der Schule auch Erziehung?
Bildungsideale verbinden sich so von Beginn an mit der Bildungspolitik und dem Bildungssystem als dem bevorzugten Ort, von dem man die Realisierung der Ideale erwartet.
Bildung und Erziehung – eine Begriffsbestimmung
Im 19. Jahrhundert definierte sich die deutsche "Kulturnation" geradezu über Bildung und grenzte sich dadurch von anderen Nationen ab – etwa England und Frankreich. Noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden "deutsche Bildung" und die "westliche Zivilisation" als Kampfbegriffe in der Abgrenzung und Abwertung zwischen den Nationen in Europa benutzt. "Bildung" galt als wertvoll, human und erstrebenswert, "Zivilisation" und "Demokratie" hingegen als Ausdruck berechnenden Krämergeistes. Insofern gehört der Begriff der "Bildung" zu den Schlüsselworten der deutschen Geschichte.
Jenseits derart euphorischer Überhöhungen und ganz nüchtern betrachtet, behandelt "Bildung" aber gemeinsam mit "Erziehung" zunächst nur die historisch gegebenen sowie die erwünschten Formen und Bedingungen des Aufwachsen in Gesellschaften. Dabei bezeichnet "Erziehung" eher die gesellschaftliche Prägung dieses Prozesses, also die Vermittlung von Wertmaßstäben und Verhaltensnormen, die in der Gesellschaft des Heranwachsenden als wünschenswert gelten. "Bildung" dagegen, als Prozess und Produkt, wird meist von einem bestimmten Ideal aus interpretiert.
Heute wird sie wesentlich vom Individuum aus gedacht und zwar – im Gegensatz zu Erziehung – als eine aktive und maßgeblich selbstverantwortete Tätigkeit. Diese Fixierung verdankt der Begriff seinem Ursprung: Im ausgehenden 18. Jahrhundert kam es im Zuge der Aufklärung zur Ablösung von religiösen Vorstellungen, der Mensch wurde nicht mehr vom Jenseits aus oder gar von der Erbsünde her gedacht, sondern als Akteur in der Welt, mit Rechten und Pflichten, die dort auch verankert sind. Das Ideal des "mündigen", selbständig denkenden und selbst lernenden Menschen hat hier seinen Ausgangspunkt. Bildung – verstanden als unverzichtbare Voraussetzung der Mündigkeit – erlangte hier ihren zentralen Stellenwert: Die Bestimmung des Menschen wurde nun in Freiheit und Selbstbestimmung gesehen und das Aufwachsen als ein Prozess, in dem sich der Mensch die Welt selbsttätig aneignet und sich und die Welt zugleich gestaltet, so dass er seine Identität findet und zum "Gebildeten" wird.
Das Humboldtsche Bildungsideal: Gleiche Bildung für Alle
Stilbildend für die Einheit von Philosophie und Politik der Bildung wurde der preußische Diplomat, Bildungspolitiker und Sprachphilosoph Wilhelm von Humboldt (1767-1835). Sein Bildungsideal ist klassisch geworden:
Freiheit, auch gegenüber dem Staat, und eine produktive Vielfalt der Lern-möglichkeiten sind hier Programm. Humboldt stellt Bildung zugleich in ein Verhältnis zur Bildungspolitik. Dann wird "allgemeine" Bildung zum Thema, d.h. die bis heute aktuelle Frage, welche Kompetenzen jeder Heranwachsende in unserer Gesellschaft erwerben muss, um selbstbestimmt an Politik und Gesellschaft, Kultur und Ökonomie teilnehmen und seinen Lebenslauf als Lernprozess gestalten zu können. Sein eigenes "humanistisches" Ideal grenzt Humboldt von aller "utilitaristischen", primär auf Nützlichkeit, Stand und Beruf konzentrierten Perspektive ab, die man bei seinen Zeitgenossen in Politik und Pädagogik auch findet. Er formuliert im Blick auf das Bildungssystem vielmehr den universalen Anspruch bürgerlicher Gesellschaften: Hier zielt der "Allgemeine Schulunterricht … auf den Menschen überhaupt", unabhängig von Stand und Geschlecht, Herkunft oder Ethnizität, notwendig für die Zivilisierung und Moralisierung der Gesellschaft. Das Lernen in Schulen dürfe daher auch "nur Ein und dasselbe Fundament" haben:
Aus diesem Grund wendet sich Humboldt entschieden gegen ein ständisch gegliedertes Schulsystem aus Bauern-, Bürger- und Gelehrtenschulen und entwirft in seinem "Litauischen Schulplan" (1809) stattdessen ein System von aufeinander folgenden "Stufen des Unterrichts"– Elementarunterricht, Schulunterricht und Universitätsunterricht –, in denen sich der Bildungsgang der Individuen nach ihren je eigenen Möglichkeiten und Zielen vollzieht.
Kritik an Humboldts Prinzipien und ihre Folgen
Humboldts liberale Reformvorstellungen stoßen allerdings bei Konservativen auf vehementen Widerspruch, zumal in Zeiten der politischen "Restauration" nach 1819. So entgegnet etwa der Ministerialbeamte Ludolph von Beckedorff, einer der schärfsten Kritiker von Humboldts Vorstellungen, dass es "nun mal verschiedene Stände und Berufe in der menschlichen Gesellschaft" gebe, weshalb es "nicht endlich einer künstlichen Gleichheit der Volkserziehung", sondern vielmehr "einer naturgemäßen Ungleichheit der Standeserziehung" bedürfe. Humboldts Ideen würden "[f]ür Republiken mit demokratischer Verfassung … vielleicht passen" mit monarchischen Institutionen seien sie dagegen unvereinbar.
In der Einrichtung und Gestaltung des Bildungssystems in Deutschland können sich Humboldts Prinzipien wegen solcher Konflikte bis heute nicht ungebrochen durchsetzen. Statt der Gleichheit der Lernangebote werden Schulformen und Bildungswege eingerichtet, die früh separieren, unterschiedliche Abschlüsse und damit auch unterschiedliche Lebenschancen eröffnen und nicht nur die individuellen Fähigkeiten und Neigungen im Lernen zur Geltung kommen lassen. Bis heute sind Kriterien der sozialen oder ethnischen Herkunft oder des Geschlechts und der Region immer noch für Erfolg und Misserfolg im Bildungswesen von großer Bedeutung, ungeachtet der radikalen Veränderung in den Teilhabechancen an ‚höherer‘ Bildung; denn im Unterschied zu Humboldts Zeiten erwerben nicht weniger als ein Prozent, sondern mehr als 40 Prozent des Altersjahrgangs, auch nicht allein aus bürgerlichen Schichten, eine Studienberechtigung. Dennoch stehen die damaligen öffentlichen Kontroversen über das Bildungssystem auch heute noch auf der Tagesordnung und nicht selten dient das Humboldtsche Ideal als Maßstab, der für Bildungsgerechtigkeit an das heutige Bildungssystem angelegt wird.
Wa(h)re Bildung?
Der Begriff der "Bildung" wird dabei intensiv genutzt, vielfach in kritischer Absicht: gegen die aktuelle Bildungspolitik und das allgegenwärtige Messen und Zählen, gegen die Rankings von Schulen und Universitäten, gegen internationale Leistungsvergleiche wie PISA, auch gegen Versuche, Bildung in ihren Ergebnissen an Standards und fachlich festgelegten Kompetenzen, z.B. in Deutsch oder Mathematik zu messen, statt an der Anstrengung der Individuen. Kritiker sehen in diesen Reformen die Reduktion des Lernens auf Wissen und seine Verwertbarkeit, sie sehen Ökonomisierung von Bildung statt freier Menschenbildung, Selektion als Prinzip statt individueller Förderung. Kurzum: Statt sich auf die freie Entfaltung der Talente und Begabungen eines jeden Einzelnen zu richten, werde Bildung für gesellschaftliche Zwecke instrumentalisiert.
Die schärfste Kritik dieser Art findet sich schon 1970 beim Frankfurter Erziehungstheoretiker Heinz-Joachim Heydorn. In gesellschaftskritischer Absicht konstruierte er einen scharfen Gegensatz von Bildung und öffentlicher Erziehung: "Bildung" so spitzte er zu, "wird die Antithese zum Erziehungsprozeß" und zwar "als entbundene Selbsttätigkeit, als schon vollzogene Emanzipation", als "eine neue, geistige Geburt". Erziehung dagegen sei "Einfügung, Unterwerfung, Herrschaft des Menschen über den Menschen ..., bewusstloses Erleiden", nur ein "Weg durch das Zuchthaus der Geschichte". Vor diesem Hintergrund wird die aktuelle Bildungspolitik als eine Form der Unterwerfung der Individuen unter einen fremden Maßstab kritisiert. "Unbildung" sei das Ergebnis, die Unterwerfung unter die Logik der Ökonomie, Bildung werde als Ware betrachtet und gegen ihren eigenen Wert deformiert.
Die gesellschaftliche Dimension von Bildung
Die politischen Akteure im Bildungssystem, aber auch in der Bildungsforschung bestreiten das natürlich vehement. Sie machen darauf aufmerksam, dass Bildung eben nicht allein im Blick auf das Subjekt gesehen werden könne, sondern immer auch zugleich eine gesellschaftliche Dimension habe. Denn in "meritokratischen" Gesellschaften, solchen also, die sich an Leistung und an universalen Leistungskriterien orientieren, diene Bildung eben nicht nur der Entfaltung des Einzelnen, sondern ebenso der Zuteilung gesellschaftlicher Privilegien: Insofern sei Bildung sehr wohl auch Besitz, ausgedrückt in Zertifikaten wie dem Abitur, mit dem die Berechtigung zum Hochschulstudium und damit der Weg zur Karriere eröffnet wird.
Aufstiegsversprechen und Zukunftshoffnungen sind insofern legitimer Weise ebenso mit schulischen Karrieren verbunden wie die bessere Sicherung vor Arbeitslosigkeit, höhere Einkommen und selbst Gesundheit und psychisches Wohlbefinden. Soziologische Beobachter sehen deshalb auch zu Recht im Fehlen von Zertifikaten und marktfähigen Kompetenzen die Ursache für neue Formen der Armut, die das Bildungssystem nicht verhindert. "Zertifikatsarmut" und "Kompetenzarmut" zusammen erzeugen "Risikogruppen", denen der Lebenslauf als Bildungsweg versperrt ist, weil ihnen das "Bildungsminimum" fehlt, das unsere Gesellschaft von einem jeden Heranwachsenden verlangt, damit er selbstbestimmt aufwachsen kann. Ohne kulturelle Basiskompetenzen – im Lesen und Schreiben, im Rechnen und naturwissenschaftlichen Verstehen, in der Fähigkeit das eigene Lernen zu organisieren und im Mediengebrauch – also ohne grundlegende Bildung sei alle Zukunft verstellt.
Bildung – Ausstattung zum Verhalten in der Welt
Gibt es eine Position jenseits der Konflikte, lassen sich Bildungsideale formulieren, die allgemein anerkennungsfähig sind? Ein nüchterner Blick ist zunächst angezeigt, Sinn für das, was Bildung zuerst und notwendig und unausweichlich für die Individuen bedeutet. Dann gilt: "Bildung … ist Ausstattung zum Verhalten in der Welt." – und zwar notwendige Ausstattung. Diese Bildung orientiert sich dann nicht an den großen Leitbildern der hohen Kultur – in Deutschland etwa am "Gebildeten" oder in England am "Gentleman" –, sie wird alltägliche Praxis. In der modernen Welt, in der eine Vielfalt von Lebensformen und Normen existiert, bedeutet das zuerst, dass wir zum "Umgang mit Menschen" fähig werden, dass wir uns zivilisiert verhalten müssen und können, in unserem Verhalten berechenbar für andere, lernbereit und kommunikationsfähig, nicht gewaltförmig auf neue Probleme und auf die Erfahrung des Fremden oder auf andere Kulturen reagieren.
Es sind deshalb Formen des Verhaltens in und gegenüber der Welt, die grundlegende Bildung ausmachen, aber auch weitere Bildung ermöglichen. Bildung bedeutet nicht primär Wissen, sondern Kompetenzen, Haltungen und ein Verhalten, der Welt, sich selbst und anderen gegenüber: Dazu gehören kognitive Fähigkeiten, wie sie von den Kernfächern der Schule – von den Sprachen zu Mathematik und Naturwissenschaften – gefordert werden, ästhetisch-expressive Kompetenzen, im Umgang mit uns selbst, mit unserem Körper und in einer künstlerisch-musischen Praxis, normative Erwartungen, die sich historisch und politisch stellen, durch den Wertekanon unserer Gesellschaft und Kultur, um tolerant gegenüber anderen Kulturen, politisch urteilsfähig und in Anerkennung der Gesetze zu handeln, bereit, sich selbst engagieren.
Der Anspruch an Bildung heute: Einen Horizont an Möglichkeiten öffnen
Bildung steht deshalb auch nicht im Gegensatz zu Erziehung, wie Kritiker sagen, sondern ist eingelagert in den alltäglichen Prozess des Aufwachsens, weil sie sonst gar keinen Ort hat, an dem beides gelernt wird: die notwendige Anpassung an die Gesellschaft und die Verselbständigung des Einzelnen gegenüber Außenerwartungen. In modernen Gesellschaften sind beide Erwartungen an den Prozess des Aufwachsens untrennbar verbunden, der der Vergesellschaftung , dass man so wird wie alle, sprach- und handlungsfähig und den gesellschaftlich geltenden und demokratisch legitimierten Gesetzen und Regeln, Normen und Gebräuchen unterworfen, und der der Individualisierung, dass man seine eigene Identität ausbildet, zur eigenen Persönlichkeit wird, unverwechselbar und fähig, individuelle Ziele und Lebensentwürfe zu rechtfertigen und zu verfolgen. Wer hier nur Gegensätze erkennt, gar unversöhnliche Widersprüche, hat Bildung als Erwartung an unser Verhalten und als Kern der notwendigen sozialen und kognitiven, politischen und moralischen Kompetenzen nicht richtig verstanden.
Insofern gilt: Bildung ist unverzichtbar, sie kann nicht gegen, sondern nur in Gesellschaft erworben werden. Aber das schließt die Erwartung ein, dass alle Heranwachsenden die Fähigkeit erwerben, sich gegenüber der gesellschaftlichen Realität reflexiv zu verhalten, kritisch, mit der Kompetenz zur Unterscheidung und der Bereitschaft, an Veränderung zu denken. Mit Bildung ist auch nicht nur eine einzige, etwa die bildungsbürgerliche Option der Gestaltung von Welt verbunden. Bildung eröffnet in pluralen Gesellschaften einen offenen Horizont an Möglichkeiten. Das Bildungssystem muss auf diesen offenen Horizont vorbereiten, fähig zur Wahl gemäß der eigenen Interessen, aber der Tatsache bewusst, dass die Anerkennung der je Anderen die Bedingung der Möglichkeit der eigenen Entfaltung darstellt.