"Eine gut gekleidete Dame in einer Orchesterloge stand auf und schlug einem jungen Mann, der in der nächsten Loge zischte, ins Gesicht. Ihr Begleiter erhob sich und die Männer tauschten ihre Visitenkarten aus. Ein Duell folgte am nächsten Tag", so die ungarische Tänzerin Romola de Pulszky. Die Dame, ihr Begleiter und der junge Mann waren Zeugen der Uraufführung des Balletts Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky am 29. Mai 1913 im prächtigen Théâtre des Champs-Élysées in Paris. Sie war einer "der größten Skandale in [der] Musikgeschichte" (Volker Scherliess). Die Musik war wegen der Tumulte kaum zu hören, am Ende der Veranstaltung registrierte die Polizei 27 Verletzte unter den Zuschauerinnen und Zuschauern. Die Frage, warum die Menschen derart in Rage geraten waren, ist nicht leicht zu beantworten. Lag es an der als "hässlich" empfundenen Musik? An der Choreografie von Vaslav Nijinsky? An den Bühnenbildern und Kostümen von Nicholas Roerich? Oder vielleicht eher an der Erwartungshaltung eines Publikums, das die vorangegangenen Produktionen der Ballets russes, darunter Strawinskys L’oiseau de feu (Feuervogel, 1910) und Pétrouchka(Petruschka, 1911), stürmisch gefeiert hatte?
Le Sacre du Printemps Ein Schlüsselwerk der musikalischen Moderne
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Die Ballets russes mit ihrem Impressario Sergej Djagilew hatten in Paris seit 1909 große Triumphe erlebt: Ihre Ballett-Produktionen trafen den Nerv der Zeit. Denn sie führten höchste Tanzkunst und russisch-orientalische, exotisch anmutende Sujets mit einer reichhaltigen Ausstattung und einer russisch-spätimpressionistischen Musik zusammen. Zwar war der Exotismus und Orientalismus in Paris seit dem 19. Jahrhundert beheimatet – auf der Opernbühne waren etwa Giacomo Meyerbeers L’Africaine, Léo Delibes’ Lakmé oder Jules Massenets Thaïs mit großem Erfolg zu sehen gewesen. Doch die Weltausstellung im Jahr 1900 in Paris hatte dem kolonialen Blick auf das "Andere" eine "zunehmend authentische Konkurrenz an die Seite gestellt": Tanztruppen und Musik-Ensembles aus dem Nahen und Fernen Osten gaben reale Einblicke in fremde Kulturen und inspirierten dabei durch ihre Fremdheit besonders die Künstler der Avantgarde, die auf der Suche nach neuen Klängen, Formen und Ausdrucksmöglichkeiten waren.
Fremdheit als Konzept – die Archaik des Sacre
Le Sacre du Printemps wurde für dieses Umfeld konzipiert und komponiert: Djagilew kannte das Pariser Publikum gut und hatte ein hervorragendes Gespür dafür, welche Künstler – Choreografen, Tänzerinnen und Tänzer, Komponisten, Maler, Kostümbildner – zusammenzubringen waren, um ein künstlerisches Gesamtkonzept erfolgreich umzusetzen. Und so galt es für die russische Balletttruppe, nach dem Feuervogel, der Scheherazade und anderen orientalisch inspirierten Balletten das Thema der Auseinandersetzung mit dem Fremden erneut aufzugreifen. Dabei beschritten Nicholas Roerich und Strawinsky mit Le Sacre du Printemps neue Wege. Zwar geht es auch darin um eine fremdartige Kultur, doch ist sie weniger orientalisch als vielmehr archaisch. Zudem hat das Ballett keine Handlung im herkömmlichen Sinne, es reiht vielmehr verschiedene Tänze wie in einem großen Ritual aneinander: Die archaische Gemeinschaft feiert das alljährliche Frühlingsopferfest mit einem Reigen verschiedener Tänze. Diese werden von den verschiedenen Gruppen der Gemeinschaft ausgeführt, von Jungen und Alten, von Männern und Frauen. Das Geschehen steigert sich bis zum Tanz der Auserwählten, jener Jungfrau, die schließlich geopfert werden soll.
Es war für das Publikum vollkommen überraschend, dass nicht die Schwüle des Orientalismus, die es bisher gekannt und goutiert hatte, auf die Bühne kam. Vielmehr war die Darstellung des Archaischen brutal und grausam. Das Ritual, das die Auserwählte aus dem Kreis der jungen Mädchen herauslöst, ihr "Heiliger Tanz", der ihren Tod bedeutet, erscheint als unhinterfragbares, unerbittliches Opferritual.
Auch die Ausstattung des Sacre bediente kaum die Erwartungen der Ballettbesucher, die an die luxuriösen Kostüme von Léon Bakst und anderen gewöhnt waren. Diesmal standen die Tänzerinnern und Tänzer in rauen Kitteln auf der Bühne, weder das erotische Flair noch der androgyne Reiz der früheren Produktionen waren zu sehen. Schließlich befremdete die Choreografie: Nijinsky hatte die Archaik des Rituals in Bewegungen transformiert, die allen Konventionen des klassischen Balletts zuwiderliefen. Mit stampfenden Schritten und scheinbar ungelenken Bewegungen agierten die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne.
Das Fremde hören
Was hörte das Publikum am Abend des 29. Mai 1913? Und warum geriet es über das Gehörte außer Rand und Band? Die Irritationen, die diese Musik 1913 auslöste, sind 100 Jahre nach dem Ereignis nicht mehr unmittelbar nachzuvollziehen, Strawinskys Kompositionen gehören inzwischen zu den Klassikern der Moderne. Helga de la Motte-Haber hat mithilfe einer Geschichte des Hörens einige Gründe für die Vehemenz der Ablehnung benannt. Musik wird nicht voraussetzungslos wahrgenommen und insbesondere die Frage, was als "schön" oder "hässlich" empfunden wird, ist von vielen Faktoren abhängig. Da sich die ästhetischen Normen ändern, kann etwa ein als konsonant wahrgenommener Akkord im Verlauf der Zeit zu einem als dissonant empfundenen Akkord werden – und umgekehrt. Mit den Hörgewohnheiten ändert sich mithin die Wahrnehmung von Musik selbst. Und wenn Musik gegen Hörgewohnheiten opponiert, wird sie zunächst als "fremd", "seltsam", "anders" wahrgenommen. Erst nach mehrmaligem Hören stellt sich eine Gewöhnung an das "Andere" ein, kann dieses schließlich zum "Gewohnten" werden. Jenem Moment aber, in dem Hörgewohnheiten umgestoßen werden, ist etwas Schockartiges eigen, das Irritationen auszulösen vermag.
Diesen Prozess hat die Musik des Sacre durchlaufen. Über die Uraufführung bemerkte Strawinsky, dass bereits "bei den ersten Takten des Vorspiels" das Publikum "in Gelächter ausbrach und seinem Unmut durch Zwischenrufe Luft machte". Aber schon über die konzertante Aufführung des Sacre im Jahr 1914 schrieb Pierre Lalo: "[…] es gibt nichts in der Musik, an das man sich schneller gewöhnt als an eine neue Dissonanz. Beim ersten Hören schockiert sie, verletzt sie, erscheint sie grell und beinahe grausam; bald aber erscheint sie nur noch verwunderlich; und wenig später schenkt man ihr kaum noch Aufmerksamkeit. Ich will damit nicht sagen, dass man die Dissonanzen des Monsieur Strawinsky jetzt schon nicht mehr bemerken würde und dass die Art, wie er, vor allem in der Partitur des Sacre du Printemps, mit Sekunden die Harmonik gestaltet, nicht Fortschreitungen produzieren würde, die ein bisschen grausam, nicht Reibungen, die ein wenig hart für an normalere Harmonien gewöhnte Ohren sind. Aber in diesen Härten und diesen extremen Kühnheiten steckt das Wesentliche."
Um die Neuartigkeit der Musik des Sacre wahrzunehmen, vor allem auch, um die bei der Uraufführung ausgelösten Irritationen nachvollziehen zu können, müssten wir unser Gehör um rund 100 Jahre zurückversetzen. Wir müssten uns vorstellen, den Sacre zum ersten Mal und vor allem ohne das Wissen um die musikalische Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts zu hören. Gelingen kann das nur mittelbar, indem wir uns die Kontexte vergegenwärtigen: So kann etwa anhand des Avantgarde-Diskurses eine solche "Zeitreise" in Gang gesetzt werden, denn sie legt einige Aspekte offen, die die Zuhörer des Jahres 1913 als besonders irritierend wahrnahmen.
Handschrift der Komposition "Le Sacre du Printemps" von Igor Strawinsky, 1913. (© picture-alliance, akg-images)
Handschrift der Komposition "Le Sacre du Printemps" von Igor Strawinsky, 1913. (© picture-alliance, akg-images)
Avantgarde und Skandal
Ist eine Avantgarde ohne Skandal denkbar? Die europäische Musikkultur der Jahrhundertwende verneint diese Frage. Alle neuen Impulse in der Musik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts spalteten das Publikum in Gegner und Befürworter – und beide Gruppen standen sich ebenso verständnislos wie unversöhnlich gegenüber. Beleidigungen, Handgreiflichkeiten und größere Tumulte waren anlässlich der Aufführungen von "neuer" Musik in den Theatern und Konzertsälen daher keine Seltenheit. In Kritiken oder persönlichen Berichten sind diese Skandale überliefert. Auf das Wesentliche fokussiert, gelangte die Kontroverse auch in die Karikatur. Dort wird – in genretypischer Überzeichnung – besonders deutlich erkennbar, was das Publikum verstörte. In der Wiener Zeitschrift Quer sacrum – eine parodistische Antwort auf die von 1898 bis 1903 von der Kunst-Avantgarde herausgegebene Zeitschrift Ver sacrum – war eine Anzeige für Disharmonische Concerte abgedruckt. Sie weist auf die Uraufführung von "Das Ding an sich" einer – fiktiven – "Philosophischen Sinfonie in Mies-Moll" hin.
Die Anzeige greift alle Bestandteile auf, aus denen sich die Skandal-Konzerte jener Jahre zusammensetzten: Das Konzert werde "zu Gunsten des Pensionsvereines für wahnsinnig gewordene Musiker" veranstaltet; der Komponist sei auf pure Effekthascherei aus, behaupte er doch, "diese Tonart eigens für diesen Zweck erfunden" zu haben. Eine überbordende Vielzahl von Mitwirkenden werde verlangt, darunter die Schützenkapelle und die freiwillige Feuerwehr. Schließlich kämen neue Instrumente zum Einsatz: drei Karfreitags-Ratschen, zwei Bischari-Trommeln, 17 Knallerbsen, eine rostige Türangel und eine Dynamitexplosion. Da mit Tumulten zu rechnen sei, werde eine Ambulanz der Rettungs-Gesellschaft während der Aufführung im Saale garantiert. Die Ankündigung: "Die Saaltüren werden während des Musikstücks verrammelt!", dürfte kaum zur Beruhigung des potentiellen Publikums beigetragen haben.
Auch wenn diese Parodie auf die Uraufführung der Achten Sinfonie von Gustav Mahler 1910 abzielte, wird deutlich, welche Aspekte der musikalischen Moderne hier in der Kritik standen: die aus der Dur-Moll-Tonalität ausbrechende Harmonik, der Hang zu enorm großen Besetzungen (Mahlers Achte trug deshalb den Beinamen Sinfonie der Tausend) und der Einsatz von neuen, die Lautstärke erhöhenden Klangerzeugern. Flankierend dazu wurde das Bild eines zwischen Wahnsinn und Selbstüberschätzung changierenden Komponisten etabliert sowie das eines hilflosen, durch die Musik buchstäblich bedrohten Publikums – die Metaphern der physischen Verletzung durchziehen die Kritiken jener skandalisierten Aufführungen.
Ein Beispiel: die Uraufführung von Arnold Schönbergs Kammersinfonie op. 9, die genau jene Ingredienzen vereint, die in der Ablehnung der Avantgarde eine zentrale Rolle spielten: "Arnold Schönberg und sein talentloser Anhang feierten die billigen Triumphe des Konzertskandals. Eine 'Kammermusiksinfonie' Schönbergs, in welcher 15 Instrumente die Aufgabe hatten, im stärksten Fortissimo die entsetzlichsten, unmotiviertesten Dissonanzen zu erzeugen und ein widerliches kunstfremdes Unwesen zu treiben, bedeuteten den Höhepunkt, respektive den Tiefstand dieser 'Kunst'. Ich rufe alle Musiker […], ich rufe alle Vernünftigen zu Zeugen auf, dass diese 'Musik', wenn sie nicht ein ungeheurer Spaß sein soll, nur dazu angetan ist, Ohr und Empfindung auf das Gröblichste zu verletzen."
Die musikalische Avantgarde sorgte nicht nur in Wien und Paris, sondern in ganz Europa für Skandale. Denn mit den neuen Klängen wurde nicht zuletzt das Verhältnis zwischen Kunst und Bürgertum neu verhandelt, das bislang vorwiegend als Einheit gedacht war: Gerade in den repräsentativen Darbietungsformen der Musik – Oper, Konzert, Ballett – hatte das bürgerliche Publikum ein Identifikationsmedium ersten Ranges gesehen. Zu diesen auf die Demonstration des eigenen sozialen Status und auf gesellschaftliche, ästhetische wie moralische Stabilität abzielenden Musikereignissen aber standen die Klänge einer modernen, die Grenzen austarierenden oder überschreitenden Musik im denkbar größten Gegensatz. Daher die starke Metaphorik des Verletzens in den Rezensionen über die "neue" Musik, daher auch die realen Aggressionen, in denen sich die Gegensätze von etabliertem Kunstgenuss und neuem Kunstanspruch Bahn brachen.
Der Skandal der Uraufführung
Telegrafische Meldung in der New York Times vom 8. Juni 1913. (© Wikimedia, New York Times/gemeinfrei)
Telegrafische Meldung in der New York Times vom 8. Juni 1913. (© Wikimedia, New York Times/gemeinfrei)
In dieses Tableau der Skandale reihte sich die Uraufführung des Sacre du Printemps ein. Die unterschiedlichen Berichte sprechen zwar die jeweilige Sprache des ästhetischen Lagers, aus dem sie stammen – ablehnende Wut oder bewundernde Zustimmung –, ihnen allen aber ist eigen, dass sie vor allem die Publikumsreaktionen beschreiben. So überlieferte etwa Jean Cocteau, der den Verantwortlichen des Sacre nahestand, in seiner programmatischen Schrift Le coq et l’arlequin eine ausführliche, inzwischen berühmt gewordene Darstellung und wandte dabei seine Blickrichtung weg von der Bühne auf den Zuschauerraum: "Bei der Uraufführung des Sacre spielte der Saal die Rolle, die er spielen musste: er revoltierte von Anfang an. Man lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierstimmen nach und vielleicht wäre man dessen auf die Dauer müde geworden, wenn nicht die Menge der Ästheten und einige Musiker in ihrem übertriebenen Eifer das Logenpublikum beleidigt, ja tätlich angegriffen hätten. Der Tumult artete in ein Handgemenge aus. Mit schief gerutschtem Diadem in ihrer Loge stehend, schwang die alte Comtesse de Pourtalès ihren Fächer und schrie mit hochrotem Gesicht: 'Zum ersten Mal seit 60 Jahren wagt man es, sich über mich lustig zu machen!' Die gute Dame meinte es aufrichtig; sie glaubte an eine Fopperei."
Hörirritationen: Geräusch, Rhythmus und Komplexität
Die Musik des Sacre überschritt offensichtlich eine Grenze. Man empfand sie als Verhöhnung des bislang Gehörten. In der erwähnten Spott-Annonce war etwa von Klangerzeugern die Rede,
Ein Beispiel: Nach der mit dem Fagott-Solo beginnenden, in agilen Arpeggien sich im Tempo rubato entwickelnden Introduction bricht mit dem Satz Les augures printaniers. Danses des adolescentes der gerade entwickelte, obertonreiche Klangraum abrupt ab, es folgt ein Tempo giusto mit gleichbleibenden, hart phrasierten Achtel-Akkorden in den Streichern. Dieser Kontrast wäre an sich bereits stark, doch Strawinsky steigert die Kontrastwahrnehmung, indem er die immergleichen Streicherakkorde durch eine vollkommen irreguläre Betonung aus ihrer Monotonie reißt.
Hörbeispiel im Internet:Strawinsky: Le sacre du printemps
Dazu kommt der clusterähnliche Tonvorrat der hämmernden Akkorde: Der Es7-Akkord in zweiter Violine und Bratsche bildet mit dem Fes-Dur der tiefen Streicher eine starke Sekundreibung (es / fes, g / as, b / ces). Bitonal stehen die beiden Akkorde aufeinander, ohne aber ihre Spannung aufzulösen. Volker Scherliess weist daher zu Recht darauf hin, dass der Klang "fürs Ohr nicht als harmonisches Gebilde [wirkt], sondern als spezifische Farbe", zu der sich neben der harmonischen Klangballung noch die tiefe Lage als verunklarendes Element gesellt. Der irreguläre, stampfende Rhythmus schließlich, den Strawinsky bereits in den ersten Skizzen des Sacre notiert hatte und später nicht mehr veränderte, lässt weder Taktart noch einen anderen "Puls" erkennen. Zugleich entsteht durch die Spielanweisung der Streicher (jedes Achtel mit Abstrich) ein wenig streichertypischer Klangeindruck, die Streicher werden hier vielmehr als Quasi-Schlagwerke verwendet.
Dieser Satzbeginn konterkariert all die Hörerwartungen, welche sich im Rahmen eines Balletts an den ersten Auftritt der Tänzerinnen und Tänzer stellen: keine Entfaltung eines klar erkennbaren Rhythmus, keine erkennbare Melodik, keine von Strawinskys früheren Ballettkompositionen bekannte subtile Instrumentation. Stattdessen eine blockartige, wenig gestische, ruppige Klangstrecke. Die musikalischen Mittel, die Strawinsky zur Erzeugung dieses "rauen" Höreindrucks verwendet, sind vergleichsweise einfach: eine achttaktige Phrase im 2/4-Takt mit gleichbleibendem Tonvorrat, der aus zwei ineinander verschränkten Drei- bzw. Septklängen besteht (bitonal), die zueinander in Sekundreibung stehen, instrumentiert mit Streichern sowie die irregulären Betonungen verstärkenden Hörnern. Auffallend daher, dass es weder eines besonderen Instrumentariums noch einer "eigens für diesen Zweck erfunden[en]" Tonart bedurfte, um die irritierende Klangwahrnehmung zu provozieren.
Das Hamburger Ballett tanzt "Le Sacre du Printemps" in einer Choreographie von John Neumeier. (© picture-alliance)
Ist dieser Beginn der Augures printa-niers fast provokant einfach gestaltet, so war es andererseits gerade die besondere Komplexität der Partitur, die als "hässlich" und "barbarisch" wahrgenommen wurde. Wohlgemerkt: Komplexität – etwa polyphone Satztechniken, eine dichte thematisch-motivische Arbeit oder auch ein differenziert eingesetzter Orchesterapparat – war dem Publikum durchaus vertraut und wurde insbesondere von der Musikkritik als Ausweis der besonderen Könnerschaft des Komponisten verstanden. Offenbar aber lag im Sacre eine andere, bislang ungewohnte Form von Komplexität vor, denn gerade sie wurde als Indiz für das "Barbarische" angeführt: Der Kritiker Paul Schwers etwa schrieb 1922, dass Strawinsky zwar über "eine erstaunliche Gewandtheit in der Handhabung orchestraler Mittel" verfüge, die "ihm die Möglichkeit zur Entfaltung von Klangorgien" gebe, "die den Hörer ebenso verblüffen wie bei längerem Hören verdrießen". Aber in "dieser übersteigerten Art äußerlich virtuoser Musikmacherei offenbart sich letzten Endes unsagbar geistige Einseitigkeit, seelische Brutalität. Diese Musik ist im Grunde krasse Unkultur, sie hört da auf, wo die Kunst im eigentlichen Sinne […] erst beginnt".
Ein Blick in die Partitur verdeutlicht diese andere Form von Komplexität. Im weiteren Verlauf des bereits angesprochenen Satzes Augures printaniers türmen sich verschiedene Klangschichten bis zum Kulminationspunkt auf, dem Beginn des folgenden Satzes Jeu du rapt. Dieses Auftürmen der Schichten geschieht sukzessiv – und zwar sowohl horizontal (die Schichten werden länger ausgedehnt) als auch vertikal (die Schichten werden übereinander auf immer mehr Stimmen verteilt und ausdifferenziert). So entstehen etwa aus den beiden schlichten Zweitonmotiven der fallenden Terz und der fallenden Quarte, die lose durch verschiedene Instrumente geschickt werden (Piccolo, Oboe, Trompete, Posaune, Violinen), verschiedene Ostinati: in den Trompeten und Hörner solo staccato / marcato, in den Violinen in Sechzehnteln, später auch augmentiert (Sexten) und aufwärtsgerichtet. Und aus den Vorschlägen, die in den (Piccolo-)Flöten liegen, entwickeln sich rasche Figuren, bald als Vorschläge, bald als Arpeggien, bald als chromatische, bald als diatonische Läufe, bald mit Trillern kombiniert.
Diese flirrenden Ostinati tragen zur Dichte des Klangeindrucks wesentlich bei. Und da sie höchst flexibel durch alle Instrumente wechseln und jederzeit durch andere Klangschichten unterbrochen oder überlagert werden können, entsteht der Eindruck einer sich immer höher auftürmenden Klangmasse. Strawinskys formales Prinzip, dass vielfach als Montage bezeichnet oder auch mit dem Kubismus verglichen wurde, ist nicht das herkömmliche Prinzip thematisch-motivischer Arbeit, sondern basiert auf der Idee, dass musikalische Muster sich verdichten, aneinanderreihen oder gegenseitig überlagern. Dass freilich jede einzelne der daraus entstehenden Schichten einem Urprinzip zugeordnet werden kann (etwa der fallenden Terz oder dem Vorschlag) und die Vielfalt der Klangfarben(schattierungen) von einer wohldisponierten Steigerung zeugt, war für einen Großteil des Publikums der Uraufführung nicht wahrnehmbar. Hier überwog der Eindruck, dass in dieser Musik kein Prinzip erkennbar sei, woraus abgeleitet wurde, dass sie nicht nur hässlich, sondern vor allem unkultiviert, ja barbarisch sei. Der Kritiker Adolf Weissmann jedenfalls war überzeugt, in Strawinskys "brutalen" Klängen "ein Stück Barbarentum" wahrzunehmen.
Diesem Vorwurf entgegnete Lalo in seiner Kritik bereits im Jahr 1914: " […] nichts ist plump oder vulgär oder verdorben, nichts ist gemein, platt oder link. Mit einem Wort: nichts ist hässlich. […] Die Partitur […] ist im Ganzen von einem außerordentlich kultivierten Musiker geschrieben, kultiviert was die Feinfühligkeit und was den Geschmack anbelangt, der alle Mittel seiner Kunst besitzt und der nichts einem wie auch immer gearteten Ideal der primitiven Rohheit opfert."
Hörbeispiel im Internet:Cezary Ostrowski: The Rite of Spring (2011)
Die Diskussionen über das "Barbarische" des Sacre hielten noch eine Weile an und kamen vor allem in Zeiten politischer Auseinandersetzungen immer wieder zum Vorschein. So trug der Vorwurf des Primitivismus, vor allem in der deutschen Presse nach dem Ersten Weltkrieg, deutlich nationalistische Untertöne. Strawinsky wurde als Person und als Schöpfer einer "monströse[n] Musik" als barbarisch abqualifiziert: Sacre sei für "Mitteleuropäer" nichts als "Unkultur", "sie ist ein Kunstprodukt für Kalmücken und Kirgisen".
In der "Geschichte des Hörens" sind wir inzwischen an einem anderen Punkt angelangt. Die Irritation, die durch die Bitonalität, die kräftigen Rhythmen, den Klangfarbenreichtum und die Komplexität des Sacre ausgelöst wurde, ist einer andauernden Faszination gewichen, die sich freilich noch immer an der Tatsache festmacht, dass die Musik das Neue und Vertraute zugleich zu hören gibt. "Für viele ist Sacre du Printemps", so der britische Pianist und Musikwissenschaftler Peter Hill, "das erste Meisterwerk des 20. Jahrhunderts, das vollständig mit der Vergangenheit brach. Das Paradoxon aber ist, dass es gleichzeitig diejenige Komposition ist, die tiefer in der Tradition wurzelt als alle anderen Werke Strawinskys."
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Melanie Unseld, Dr., Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg.
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