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La Strada | Der Filmkanon | bpb.de

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La Strada

Nicolaus Schröder

/ 8 Minuten zu lesen

Vor der kargen Kulisse eines verarmten Italiens wird die Geschichte eines großäugigen Mädchens und eines groben Artisten zu einer universellen Parabel um Liebe und Aufopferung.

"La Strada", 1954 (© Bertz + Fischer Verlag / original copyright holders)

Ein Streifen Strand, ein Mädchen in einem armseligen Kleid, das barfuß mit einem Reisigbündel auf der Schulter zum Meer läuft. Aus der Ferne kommen ihr Kinder entgegen. Ein Bild aus einer anderen Zeit, die nicht bestimmbar wäre, wenn man nicht wüsste, dass so "La Strada" (R: Federico Fellini) beginnt. 1953/54 gedreht, sieht man den ersten Filmminuten die Entstehungszeit an. Das Italien der frühen 1950er Jahre war ein armes Land mit hoher Arbeitslosigkeit und einem ums nackte Überleben kämpfenden Landproletariat.

Heute sind die Schauplätze von "La Strada", die staubigen Landstraßen, armseligen Marktplätze, einsamen Gehöfte und verwaisten Neubauviertel zu magischen Orten geworden. Losgelöst von ihrem historischen Kontext sind sie Teil einer Parabel, bei der es um Liebe und Aufopferung geht. Eine Heiligengeschichte, die André Bazin 1957 als die "Geschichte einer Askese" beschrieb, einer Askese bis zum Tod. Würde "La Strada" heute von einem jungen Regisseur vorgestellt werden, wäre das Unverständnis kaum geringer als 1954, als seine Premiere auf dem Festival von Venedig einen handfesten Skandal auslöste. Was damals womöglich als fehlerhafte Analyse der politischen Verhältnisse bemäkelt wurde, würde diesmal mit nicht weniger Kopfschütteln als Fluchtreflex gedeutet. Wer heute so eine Geschichte erzählt, der ist aus Raum und Zeit gefallen – und da sind wir dann schon ganz nah an dem Geheimnis dieses Films, der zu den schönsten der Filmgeschichte gehört.

Das Mädchen mit dem Reisigbündel, in dem wir erst in der Naheinstellung Gelsomina erkennen, hat etwas Engelhaftes. Doch das Bündel auf dem Rücken, das ihrer Gestalt im Gegenlicht Flügel zu verleihen scheint, betont nur ihre irdische Existenz. Mit dem Stroh soll das kaputte Barackendach ausgebessert werden, für dessen Reparatur das Geld fehlt. Und Matto, der Hochseilartist, dem sie später begegnet, trägt bei ihrem ersten Zusammentreffen ein Kostüm mit Engelsflügeln. Gelsomina und Matto, zwei Engel in irdischer Mission. Ihnen gegenüber steht der finstere Zampanò, ein brutaler Kerl, einer, der nicht anders kann. Er ist wie ein Hund, sagt Matto einmal, er kann nur gucken, aber nicht sagen, was ihn bedrückt. Da will Gelsomina Zampanò endgültig verlassen, der sie von ihrer Mutter gekauft hat, wie zuvor schon ihre ältere Schwester, die gestorben ist. Doch Gelsomina bleibt, nicht zuletzt weil Matto ihr sagt, dass vielleicht gerade dies ihre Aufgabe sei. Sieh ihn an, er hat doch sonst niemanden.

Gelsomina wird von ihrer Mutter verkauft, lernt bei Zampanò das Leben der Gaukler und Artisten kennen, verlässt ihn schließlich, wird von ihm wieder zurückgeholt und bleibt am Ende freiwillig. Sie hat ihre Mission gefunden – Zampanò. Dass sie bei ihm bleibt, dafür gibt es keine Erklärung. Es ist ihr Entschluss. Zampanò ist es, der weggeht, weil er nicht erträgt, wie sie unter dem Mord leidet, den er begangen hat. Im Streit hat Zampanò Matto getötet, der den schwerfälligen Kraftmeier immer verspottet hat. Gelsomina fällt nach der Prügelei in einen Schockzustand, eine Trance, die sie immer nur "Es geht ihm nicht gut" stammeln lässt, bis Zampanò das Weite sucht. Jahre später erfährt er, was aus Gelsomina wurde, die einsam und verwirrt starb. Daran zerbricht Zampanò, der "stärkste Mann der Welt".

Gelsominas Martyrium und Zampanòs Läuterung – dazu passt die sakrale Symbolik vieler Bilder, vom ersten engelhaften Auftritt Gelsominas über die Begegnung mit dem geflügelten Artisten Matto am Rande einer Prozession bis zu Zampanòs Zusammenbruch, in finsterer Nacht, von allen Engeln verlassen. Doch die Symbolik solcher Bilder ist nicht konstruiert, sie ergibt sich aus den Schauplätzen, wird gefunden. Sie ist Teil einer "einströmenden Umwelt", die Siegfried Kracauer an den frühen Fellini-Filmen bewunderte. Den Regisseur stellte er sich als einen Künstler vor, "der mit dem Erzählen einer Geschichte beginnt, während der Dreharbeit aber so überwältigt wird von seinem eingeborenen Verlangen, die gesamte physische Realität einzubeziehen – und auch von dem Gefühl, er müsse sie einbeziehen, um die Story, jede Story überhaupt filmgerecht zu erzählen –, dass er sich immer tiefer in den Dschungel der materiellen Phänomene hineinwagt, auf die Gefahr hin, sich unrettbar darin zu verlieren, wenn er nicht mittels großer Anstrengungen zur Landstraße zurückfindet, die er verlassen hat." Doch das Entzücken am Sich-Verirren, die Freude, immer Neues (im manchmal Altbekannten) zu entdecken, die gerade den Reiz von opulenten Filmen wie "Fellinis Satyricon" (Satyricon, 1969), "Amarcord" (1973) oder "Ginger und Fred" (Ginger e Fred, 1986) ausmacht, fehlt hier. Die Landstraße seiner Erzählung bleibt immer in Sichtweite, Fellini leistet sich keine Umwege. Die "einströmende Umwelt", das sind hier die staubigen Marktplätze und armseligen Manegen, das Publikum, das sich über die willkommene Ablenkung freut, und das harte Leben der reisenden Artisten. Fellini hat genau hingesehen, jedes Ausstattungsdetail stimmt. Den Kostümen glaubt man noch die Koffer jener Zirkusfamilien anzusehen, mit denen "La Strada" gedreht wurde. In Gummistiefeln, einer Art Gymnastikhose und einem verschossenen Umhang tritt Zampanò vor sein Publikum. Alles an ihm wirkt so ärmlich und fadenscheinig wie die Kunststücke und Witze, die er anzubieten hat. Und als er am Ende als gebrochener Mann auftreten muss, trägt er zu den Gummistiefeln bloß noch Shorts, in denen er kurz zuvor vielleicht beim Zeltaufbauen geholfen hat. Da ist Zampanò schon alles egal.

Die Ausstattung ist nicht Hintergrund, hier ist sie zentraler Bestandteil der Erzählung, "einströmende Umwelt". Dabei dient Fellinis Realismus nicht der politischen Beweisführung, sondern er beflügelt eine Erzählung, der es längst nicht mehr um Sozialkritik und politische Stellungnahme geht.

Die Schauplätze von "La Strada" liegen jenseits aller Italienklischees. Die verlassen daliegende Dorfstraße, durch die nachts ein Pferd ohne Reiter trottet, oder die verschneite Hochebene, in der Zampanò Gelsomina zurücklässt, sind Bilder nicht von dieser Welt. Es sind karge, wahrhaft von Gott verlassene Orte. Sie wirken wie Spiegel der Seele. In dieser kalten, einsamen Welt findet Gelsomina so wenig ihren Platz wie Zampanò. Beide sind Reisende ohne Ziel und ohne Heimat.

Jede psychologisierende Erklärung verweigert Fellini. Lediglich ihr Handeln erklärt die Figuren. Kein Dialog federt ab oder liefert Begründungen. Zampanò bleibt Zampanò, der guckt, brüllt, sich von Matto reizen lässt und nichts versteht – bis zuletzt. Diese Reduktion kommt den Schauspielern zugute. Anthony Quinn war selten besser als hier, wo er als Zampanò poltern, undurchdringlich gucken, chargieren darf, während Giulietta Masina mit den Augen rollt, die Schultern hochzieht und als Gelsomina in ihrem riesigen Militärmantel wie die Schwester von Charlie Chaplin aussieht. Zwischen ihnen springt Matto wie ein Kugelblitz herum. Seine Funken werden die Explosion herbeiführen, und Richard Basehart gibt dieser Figur eine ansteckende kindliche Unschuld und Freundlichkeit.

Es ist ein durch und durch physisches Kino, das Fellini hier propagiert. Ein Kino, das seine Herkunft vom Neorealismus genauso wenig leugnet wie den Wunsch, den propagierten Verismus des italienischen Films der 50er Jahre hinter sich zu lassen. "Die Erscheinung wird uns immer als singuläre Entdeckung, als quasi dokumentarische Offenbarung geboten, die als detaillierte Beschreibung ihr Gewicht behält. Die Kunst des Regisseurs besteht [...] in seiner Geschicklichkeit, den Sinn dieser Begebenheit hervortreten zu lassen, zumindest jenen, den er ihr verleiht, ohne dabei die Mehrdeutigkeit auszulöschen." André Bazin schreibt dies in einem Text, in dem er Fellini für den Neorealismus zu retten versucht, als dessen Verräter er bei Teilen der italienischen Filmkritik angesehen wird. Ausgebrochen ist der Konflikt 1954 auf dem Festival von Venedig. Hier war der von den orthodoxen Neorealisten favorisierte Film "Sehnsucht" (Senso, 1954) von Luchino Visconti leer ausgegangen, während der von der katholischen Kirche freundlich beachtete "La Strada" mit einem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde. Die folgende Auseinandersetzung teilte die italienische Kritik für die folgenden Jahre in Viscontianer und Fellinianer, in Kommunisten und Frömmler, was weder den Regisseuren noch ihren Filmen gerecht wurde. "Im Italien der 50er Jahre lag die Macht in den Händen der Rechten, und die Kultur befand sich in der Opposition [...]. Vorläufig war im Geistesleben die Spaltung zwischen der Rechten und der Linken ganz klar, und Fellini wurde als Verräter an der Sache des Neorealismus gebrandmarkt." Ganz anders die Rezeption in Frankreich, wo der Film von Anfang an jubelnde Kritiken bekam und Fellini als Vertreter eines innovativen Kinos gefeiert wurde, das die Beschränkung eines kruden Neorealismus überwindet. Dem kommerziellen Erfolg von "La Strada", der 1957 zudem mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, konnten die Kritiken sowieso nichts anhaben. Nach den Auslandserfolgen startete der Film auch in italienischen Kinos erfolgreich.

Und heute? Beim Wiedersehen erstaunt die zeitlose Modernität, das weitgehende Fehlen von Sentiment, die Geradlinigkeit der Montage, die sich keinen Schlenker erlaubt, und begeistern die Darsteller, die ihren Figuren alle Gefühligkeit ausgetrieben haben und nichts weiter sind als Gelsomina, Zampanò und Matto. Allein die Musik von Nino Rota ist in ihrem Arrangement der Zeit verpflichtet. Das ist besonders schade, weil es auch schon in "La Strada" die schrägen anarchischen Märsche und die eine Melodie gibt, die Rota in den folgenden Jahren für jeden Fellini-Film erfand.

Der Fellini-Biograf Tulio Kezich teilt die Fellinianer in zwei Gruppen ein: Die einen sehen "Achteinhalb" (Otto e mezzo, 1963) als das zentrale Werk ihres Meisters an, die anderen "La Strada". Den Unterschied mache der Wille zur Selbstreflexion aus, der "Achteinhalb" auszeichne und "La Strada" fehle. Vor dem Hintergrund aller Filme von Federico Fellini kann man diese Unterscheidung getrost vergessen. Filme wie "Achteinhalb", "Julia und die Geister"(Giulietta degli spiriti, 1965), "Fellinis Roma" (Roma, 1972) oder "Fellinis Intervista" (Intervista, 1987) nehmen vielleicht deutlicher Bezug auf die Arbeit und jeweilige Lebenssituation des Regisseurs. Doch die Spuren der eigenen Biografie lassen sich in allen seinen Filmen nachweisen. Und in keinem Film fehlen die Phantome der Kindheit, die Gaukler, Artisten und Monstrositäten der Vorstadtvarietés. So lässt sich "La Strada" genauso als eine der frühen autobiografischen Skizzen eines Regisseurs lesen, dessen Filme eben immer auch dem Traumbuch eines Jungen aus dem Rimini der 20er Jahre entstammten.

Ein Streifen Strand, ein Mädchen in einem armseligen Kleid mit einem Reisigbündel auf der Schulter – das ist heute der Beginn einer Geschichte jenseits von Raum und Zeit. "La Strada" ist zu einem Kinomärchen geworden, dem die Zeitläufte nichts mehr anhaben können.

Interner Link: Filmkanon kompakt: La Strada

Fussnoten

Fußnoten

  1. André Bazin: Cabiria ou le voyage au bout du néoréalisme. In: Cahiers du Cinéma, Nov. 1957 (dt. in: A.B.: Filmkritiken als Filmgeschichte. München 1981, S. 94).

  2. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/Main 1985, S. 336.

  3. André Bazin, a.a.O., S. 96.

  4. Tulio Kezich: Fellini. Eine Biographie. Zürich 1989, S. 329.

Weitere Inhalte

Arbeitet als Filmkritiker für verschiedene Zeitschriften. Neben Fernseh- und Hörfunkaufträgen ist er Autor u.a. von "50 Klassiker. Film" und "50 Klassiker. Filmregisseure".