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Deutschland im Jahre Null Germania, anno zero

Rainer Vowe

/ 8 Minuten zu lesen

Vor den Ruinen des zerbombten Berlin erzählt Rossellini mit Laiendarstellern die parabelhafte Geschichte eines vermeintlichen Neuanfangs. Ein berühmtes Beispiel des italienischen Neorealismus.

"Deutschland im Jahre Null", 1948 (© © Bertz + Fischer Verlag / original copyright holders)

Berlin 1945: Die militärische Führung des nationalsozialistischen Deutschlands hat kapituliert, bedingungslos; die Hauptstadt des Deutschen Reiches ist durch die Ergebnisse der modernen Luftkriegsstrategie und der Straßenkämpfe zerstört, die Kontrolle auf vier Besatzungsmächte (USA, Großbritannien, Frankreich und UdSSR) verteilt. Inmitten von Ruinen teilt sich die Familie Koehler eine Wohnung mit vier anderen Parteien. Die Mutter ist tot, der Vater (Ernst Pittschau) krank, die älteste Tochter Eva (Ingetraud Hinze) kümmert sich um den Haushalt und verdient nachts in Bars die Mittel zum Lebensunterhalt. Der ältere Sohn Karl-Heinz (Franz-Otto Krüger) hält sich verborgen, um nicht aufgegriffen zu werden. Als Soldat der deutschen Wehrmacht ist er im "Afrika-Feldzug halb verdurstet", in "Russland fast erfroren", Berlin hat er "bis zum letzten Atemzug verteidigt". Der zwölfjährige Edmund (Edmund Meschke), sehr blond und sehr schmächtig, in kurzen Hosen und Kniestrümpfen, ist zu jung, um den kranken Vater zu ersetzen, aber alt genug zu begreifen, dass alles "auf Null" gestellt ist; zu jung, um sich Schwarzmarktbanden anschließen, zu alt, um in den Trümmern (Kriegs-)Abenteuer spielen zu können.

Der Film begleitet Edmund auf seinen Streifzügen durch das zerstörte Berlin: Ein Pferdekadaver wird von einer Menschenmenge zerteilt, ohne dass es Edmund gelingt, einen Teil für sich und seine Familie zu ergattern; im Kampf aller gegen alle unterliegt er beständig. Er trifft auf seinen früheren Lehrer (Erich Gühne), einen offensichtlich schwulen Nazi. Vom Schuldienst suspendiert, residiert er im unzerstörten Teil einer Villa und organisiert Schwarzmarktgeschäfte. Edmund wird mit einem Grammophon und einer Schallplatte, auf der eine Hitler-Rede aufgezeichnet ist, zur ehemaligen Reichskanzlei geschickt, um sie an NS-Devotionalien sammelnde Soldaten zu verhökern. Als Edmund und ein etwas älterer Junge zwei US-Soldaten die Platte vorspielen, sehen und hören wir eine groteske Szene: Noch einmal beherrscht die Stimme des toten Hitler das Gelände um die Reichskanzlei und erreicht einen deutschen Passanten mit einem Kind. Der verharrt eine Zeitlang und geht weiter – ohne eine sichtbare Reaktion, weder Verwunderung noch Verstörung, noch Schrecken; die Wiederauferstehung des "Führers" provoziert keinen Eindruck.

An dieser Stelle offenbart der Film eines seiner nachdrücklichen Verfahren: Auf den Gesichtern von Deutschen im Jahre Null gibt es keine Zeichen, die Gesichter bleiben stumm und stumpf; wir wissen nicht, was in den Menschen vorgeht. Die Zuschauer sehen Menschen mit unterschiedlichen Kriegserfahrungen in der Umgebung von Ruinen und Toten und können nur deuten, was in und mit ihnen vorgeht.

Edmund zieht mit dem älteren Jungen weiter; der lehrt ihn das Überleben. Mundraub, Diebstahl und Kontakt mit dem anderen Geschlecht. Edmund kommt nachts nicht nach Hause und wird am nächsten Morgen von seinem Vater verprügelt. Eine Herzattacke bringt den Vater ins Krankenhaus. Edmund weiß nicht weiter und fragt den Lehrer; der hält ihm einen Vortrag über das Starke, das leben, und das Schwache, das sterben muss. Edmund entwendet im Krankenhaus Gift und schüttet es dem entlassenen Vater in den Tee. Edmund hat seinen Vater getötet und damit das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten fortgesetzt. Als Edmund seinen Lehrer von seiner mutmaßlich couragierten Tat unterrichtet, bringt er diesen gegen sich auf und wird von ihm "Monster" genannt. Edmund ist wieder allein. Die letzten Minuten des Films begleiten den Jungen hautnah – die Kamera fährt vor ihm her. Er nimmt seine Umwelt nun so wahr, als ob alle Welt wüsste, dass er seinen Vater getötet hat und als nationalsozialistischer Unmensch gilt. Edmund klettert in eine Ruine gegenüber seinem Haus, nimmt ein Stück Eisen, hält es sich wie eine Pistole an den Kopf, drückt ab und wirft es weg. Auf der Straße fährt ein Lastwagen vor, der Sarg mit seinem toten Vater wird aufgeladen. Seine Schwester ruft nach ihm, doch er zeigt keine Reaktion. Er rutscht auf einem Eisenträger in ein darunterliegendes Stockwerk, sieht hinunter auf die Straße und springt. Eine andere Hausbewohnerin sieht ihn hinabstürzen und läuft zu dem tot auf der Straße liegenden Edmund.

Als der Italiener Rossellini 1947 einen Film in und über Deutschland macht, war er in Europa bereits eine Berühmtheit. Mit "Rom, offene Stadt" (Roma, Città aperta, 1945) und Paisa (Paisà, 1946) hatte er dem Nachkriegskino eine neue Dimension eröffnet. Den neuen Stil nannte man Neorealismus; er ignorierte die Erzähl- und Genrekonventionen sowohl des Hollywood-Kinos als auch der meisten italienischen Filme vor 1945: Historienschinken, schwülstige Melodramen und sentimentale Komödien, in denen zügellose Charaktere dominierten, die in einem absurden Luxus leben, sich auf Sofas räkeln und miteinander über weiße Telefone kommunizieren. Die telefoni bianchi gaben dieser Film-Epoche den Namen.

Der Neorealismus suchte und fand hingegen seine Geschichten auf der Straße, in der sozialen Realität des Alltags. "Es gibt unendlich viele Bereiche des Lebens zu erkunden" – das war 1945 das Credo des Neorealismus. Die außerfilmisch vorhandenen Lebensbereiche wurden erkundet als Chroniken des Krieges, politischen Widerstandes und der Nachkriegsgesellschaften von Rossellini, als Geschichten des sozialen Elends "kleiner Leute" in der Nachkriegszeit von Vittorio De Sica ("Fahraddiebe" / Ladri di biciclette, 1948), als Erzählungen des zerstörerischen Kapitalismus von Luchino Visconti ("Die Erde bebt" / La terra trema: Episodio del mare, 1948). Gefilmt wurde meist mit Laien, um mit deren erfahrungsgesättigten Physiognomien, mit deren typischer sozialen Gestik und Redeweise Authentizität zu erreichen und zugleich zu zeigen, dass jeder körperliche und sprachliche Ausdruck durch gesellschaftliche Bedingungen determiniert ist. Gedreht wurde auf Straßen, in Städten und Landschaften, meist mit natürlichem Licht und langen Einstellungen, sogenannten Plansequenzen, oft auch in Totalen, die die Menschen in die sie bestimmende soziale Umgebung integrieren.

Mit dem Neorealismus – und das ist entscheidend für seine filmhistorische Bedeutung – geht ein modernes sozialanthropologisches Element in das Medium Film ein: die Absage an den klassischen Illusionsrealismus und an jeden Realismus, auch den sozialistischen, der menschliches Heldentum postuliert. Im Neorealismus sind die filmischen Protagonisten zunächst einmal Objekte der Verhältnisse, deren Subjektwerdung die Zuschauer verfolgen. Filmkritik und Filmgeschichtsschreibung haben nie zuvor – und auch danach – so emphatisch von einem "Menschenbild" im Film gesprochen wie zwischen 1945 und 1955, der Epoche des Neorealismus.

Entsprechend bilden den Anfang von "Deutschland im Jahre Null" lange Kamerafahrten durch Straßen und über Plätze Berlins, entlang zerbombter Häuserreihen. Über die Bilder wird der Titel gelegt. In dem Titel "Germania Anno Zero" verbirgt sich eine Anspielung, und zwar jene auf Hitlers und Speers Absicht, die Hauptstadt des Deutschen Reiches monumental umzubauen und in "Germania" umzubenennen. Die Titelschrift auf den Ruinenbildern könnte also auch so verstanden werden, dass das megalomane, das größenwahnsinnige NS-Projekt Deutschland nun auf Null, "zurück auf Anfang", gestellt worden ist. Wichtiger als eine solche Titeldeutung ist jedoch der Eindruck, den der Anfang des Films erweckt: Die Zuschauer wähnen sich zunächst in einem Dokumentarfilm. Erst später wird ihnen klar, dass das Dokumentarische als optischer Kommentar zur Vergangenheit Berlins fungiert und als Verweis darauf, was sich in der Filmerzählung ereignen wird. Die Differenz von Dokument und fiktiver Erzählung bewirkt beim Zuschauer Irritation, Unruhe und gespannte Aufmerksamkeit: Was ist wahr, was ist erzählt? Die dokumentarische Kamera, die Originalschauplätze binden die Erzählung an die Realität: Dies entspricht dem Programm des Neorealismus.

Auch das Casting, die Besetzung mit Laiendarstellern, ist eine ästhetische Strategie des Regisseurs: Die Darsteller wirken zwar unbeholfen, eckig und sagen ihren Text eher auf, als dass sie ihn wie Schauspieler spielen. Aber das ist Konzept: Die Persönlichkeit des Darstellers soll aus der Rolle und dem Text hervortreten, die Wirklichkeit hinter und vor der Leinwand bemerkbar bleiben.

Der Neorealismus hat den hohen Anspruch, einen neuen Zugang zur Realität zu schaffen. Wenn gegen Ende des Films Edmund (übrigens ist dies der tatsächliche Name des Darstellers – ein weiterer Hinweis auf Rossellinis Absicht, Realität und Fiktion zu verweben) in grenzenloser Einsamkeit durch Berlins Ruinen irrt, entvölkert sich die Szene und wird immer unwirklicher. Dass darin der innere Zustand des Jungen seinen optischen Ausdruck findet, ist nur der eine, der auf die Filmfigur bezogene Effekt. Der andere zielt auf die Zuschauer direkt; vor deren Blicken entschwindet die Alltäglichkeit, und an ihre Stelle treten Anzeichen für das Ende von Edmund. Während der Junge halt- und hoffnungslos und zugleich unerklärlich spielerisch umherstreift, kreisen ihn die Trümmer des Ruinenfeldes ein und erdrücken ihn, bevor er mit seinem Tod die Symbolik dieser Bilder einlöst.

1978 zeigte Jean-Luc Godard in Montreal auf einem Filmseminar "Deutschland im Jahre Null" zusammen mit Tod Brownings "Dracula" (1930) und Alfred Hitchcocks "Die Vögel" (The Birds, 1963). Berlin sei Draculas Grabmal, kommentierte er, es würde nicht stören, wenn in einer Einstellung mitten in den Trümmern Berlins plötzlich Bela Lugosi, der prominente Dracula-Darsteller der 1930er Jahre, auftauchte. In der Tat handelt Rossellinis Film ja davon, dass mit Hitler zwar ein Monster ausgeschaltet, aber noch nicht am Ende ist, ein Monster, das nicht sterben kann, weil es als Untoter, als "Zombie" im deutschen Volk weiterlebt: Das "Monster" Edmund tötet seinen kranken Vater. Das sozialdarwinistische Weltbild seines Lehrers, das Starke verdiene das Leben, das Schwache den Tod, wird für den Schüler und Sohn zur Maxime: Während der Vater auf dem Krankenbett in einem langen Monolog von den Verbrechen der Deutschen, von Buße und Umkehr spricht, schüttet ihm Edmund das Gift in den Tee. Keinem anderen Film, der die Nachkriegszeit thematisiert, ist es gelungen, den Gedanken ins Bild zu setzen, dass große Monster kleine produzieren. Zudem treten zwei andere Dracula-Varianten auf: Ein weiß gekleideter Aristokrat mit einem Monokel, bis zur Kapitulation Wehrmachtsoffizier, nun Schwarzmarkt-Händler, lockt vagabundierende Jungen in seine Luxusvilla. Die Kamera zeigt ihn aus der Untersicht: riesig, mit Hakennase und in weiß-toter Eleganz. Sie lässt die Zuschauer nicht daran zweifeln, dass dieser ehemalige Offizier auch weiterhin über Leichen geht.

Die andere Variante: Edmunds Bruder Karl-Heinz hat bis zum letzten Tag gekämpft und hält sich versteckt, weil er den Besatzungsmächten und den deutschen Antifaschisten nicht in die Hände fallen will, »den sogenannten Opfern des Faschismus«, wie er höhnisch bemerkt. Auch für ihn wirkt das nationalsozialistische Gift fort: eine Welt voller Feinde, die man töten muss, um nicht selber getötet zu werden.

Das Fortleben der Monster ist ein Thema von "Deutschland im Jahre Null"; ein anderes die Frage, ob es ein Jahr Null in Deutschland überhaupt gegeben hat. Ist für 1945 eher die Kontinuität zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsgesellschaft zu betonen oder die Wende, die Zäsur? Unter Historikern, Soziologen und Politologen ist die Klärung dieser Frage bis heute umstritten. Der Film sucht eine Antwort in der Kombination von Kontinuum und Bruch, nämlich in der Zusammenbruchgesellschaft. Die ehemalige propagierte Volksgemeinschaft ist in eine neue "Steinzeit", die Zeit der Ruinen gekippt, die sich am Rande anarchischer Zustände bewegt. In ihnen leben Menschen, die noch einmal davongekommen sind, ihr Überleben mit Tricks und Listen zu organisieren versuchen – in einem Klima von Hass, Neid, Misstrauen und Missgunst.

Der Film kann somit gerade den Nachgeborenen begreiflich machen, warum sich die deutsche Gesellschaft bei Kriegsende nicht darüber einig war, ob das Jahr 1945 denn nun eine Befreiung oder eine Katastrophe bedeutete.

Interner Link: Filmkanon kompakt: Deutschland im Jahre Null

Fussnoten

Weitere Inhalte

Historiker, lehrt Film- und Fernsehwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Einschlägige Zeitschriftenartikel zu Historienfilmen (speziell Antike), Trümmerfilmen, Western und Sport im Fernsehen.