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Wie weiter – offene Fragen und neue Positionen

Dr. Mithu Melanie Sanyal Mithu Sanyal

/ 8 Minuten zu lesen

Und heute? Frauen leben nach wie vor nicht in einem feministischen Paradies. Viel bleibt noch zu tun. Was macht die Frauenbewegung heute? Wo ist sie und was wird diskutiert?

Viel ist erreicht, trotzdem leben Frauen in Deutschland nicht im feministischen Paradies, noch nicht einmal in einer geschlechtergerechten Gesellschaft. Obwohl mehr Frauen in den politischen Parteien sogar hohe Ämter besetzen, haben sich die Lebensbedingungen für viele Frauen verschärft.

Bis in die 1990er Jahre hatten sich aus den verschiedenen Initiativen der Frauenbewegung heraus Beratungsstrukturen und ein hoher Grad an Professionalisierung entwickelt. Das hatte jedoch den Nachteil, dass die konkrete Arbeit immer weniger Kraft ließ, zusätzlich noch Vernetzung voranzutreiben und politischen Druck zu erzeugen. Dabei ging und geht es den Frauenprojekten nicht nur darum, "Klientinnen zu versorgen", sondern die Verhältnisse zu ändern. Dieses Problem wird inzwischen auch als "Versozialarbeiterisierung der Bewegung" beschrieben.

In Zeiten, in denen zahlreiche Frauenprojekte um ihr finanzielles Überleben kämpfen, stellt sich die Frage der Repolitisierung mit neuer Dringlichkeit, sowie die der Einbindung nachfolgender Generationen. Ausreichende Sensibilisierung und gesellschaftlichen Druck zu erzeugen, um die ehrenamtliche wie professionelle Infrastruktur der Frauenbewegung zu bewahren, bleibt eine zentrale Herausforderung. Dabei ist es nicht so leicht wie in der Vergangenheit, eine klassifizierbare Bewegung zu orten. Vielmehr sind es vielfältige Themen und Problemfelder, für die sich heutige Feministinnen engagieren.

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit

Mit Blick auf den EU-Gleichstellungsbericht 2007 spricht der Deutsche Frauenrat von einer "grundlegenden Diskriminierung": Verdienen Frauen in Europa durchschnittlich 15 Prozent weniger als Männer, sind es in Deutschland gut 20 Prozent. Laut ver.di sind 29,6 Prozent aller Arbeitnehmerinnen im Niedriglohnsektor tätig im Vergleich zu 12,6 Prozent der männlichen Arbeitnehmer. Die Folgen sind eine eklatante Altersarmut von Frauen, die wohl in den nächsten Jahren noch zunehmen wird. Darüber hinaus wird wieder das Thema Arbeitsbedingungen in den Blick genommen, auch dies ein Bereich, in dem Frauen sehr stark von Diskriminierungen betroffen sind. Erwähnt seien z. B. die CleanClothCampaign, die gegen unwürdige Arbeitsbedingungen in der Textilbranche mobilisiert, oder die gewerkschaftlichen Solidaritätsaktionen mit Verkäuferinnen, die bei verschiedenen großen Ketten diskriminierenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind.

Die Philosophin Frigga Haug wagt den Entwurf einer anderen geschlechtergerechten Gesellschaft und fordert den 16-Stunden-Tag für alle. Das würde für Frauen wie Männer bedeuten, vier Stunden für die Lohnarbeit aufzubringen, vier Stunden für Reproduktion und Familienarbeit, vier Stunden für Bildung und Kulturarbeit sowie vier Stunden für politische Partizipation.

Girls Day

Noch immer wählen über 50 Prozent aller Mädchen so genannte "typische Frauenberufe" wie Arzthelferin, Friseurin, Hotelfachfrau oder Bürofachfrau – Berufe mit geringem Lohn und niedriger sozialer Anerkennung. Um Mädchen auch für andere Berufe, insbesondere in Industrie und Handwerk, zu interessieren, laden Firmen seit 2001 am vierten Aprildonnerstag Schülerinnen ab der 5. Klasse zum "Girls Day" ein. Das Konzept zeigt Erfolge, inzwischen stammen 20 Prozent aller Bewerbungen in handwerklichen Betrieben von Teilnehmerinnen des Girls Days.

Der Girls'Day - Mädchen-Zukunftstag 2008 brachte einen neuen Teilnahmerekord. Seit Beginn des Aktionstags haben insgesamt etwa 800.000 Mädchen am Girls'Day teilgenommen. (© www.girls-day.de )

Insgesamt bleibt das Interesse an vermeintlich männlichen Berufsfeldern bei Mädchen jedoch eher gering, nicht zuletzt, weil sie schon früh und anders als ihre Altersgenossen über die Vereinbarkeit von Job und Familie nachdenken. In den Vorstellungen der Jungen ist "einen Beruf haben" quasi Voraussetzung dafür, später eine Familie zu gründen. Mädchen dagegen ziehen schon früh den Schluss, dass Berufstätigkeit und Familienleben miteinander in Konflikt stehen und sie diejenigen sein werden, die ihn zu lösen haben. Dieser Eindruck wird durch die moralisch aufgeladene Debatte um die vermeintlich unersetzliche Rund-um-die-Uhr-Präsenz von Müttern in den ersten Lebensjahren noch verschärft.

Mehr als die Hälfte aller Eltern unterscheidet in Mädchen- und Jungenfächer. So werden – vereinfacht gesprochen – mathematische Misserfolge für Jungen gerne mit einem Formtief, bei Mädchen als quasi "natürliches Desinteresse" oder mangelnde Eignung interpretiert. Die hohe Wirksamkeit von Erwartungen seitens Eltern, Lehrenden, Gleichaltrigen und entsprechende Medienbotschaften ist hinreichend belegt. Starten Jungen und Mädchen ihre Schullaufbahn noch mit gleichen Leistungen und Potenzialen, haben sie bis zum Ende der Adoleszenz verinnerlicht, dass Sprache ein Mädchenressort, Mathe und Technik hingegen "Männersache" seien.

Im Wintersemester 2007/2008 schrieben sich im Bereich der Ingenieurwissenschaften erstmals 27 Prozent weibliche Studienanfänger ein. Dabei lag in der DDR der Anteil von Studentinnen in naturwissenschaftlichen Fächern stets bei einem Viertel, in der BRD bei nicht einmal 5 Prozent. Zwei Jahre nach dem Mauerfall waren es auch im Osten nur noch 5 Prozent. In Umfragen antworteten ostdeutsche Studentinnen, sie gingen davon aus, im wiedervereinten Deutschland mit einem technisch-naturwissenschaftlichen Abschluss keinen Job zu bekommen.

Von den Riot Grrrls zu den Ladyfesten

Anfang der 1990er Jahre war der Begriff Feminismus wieder einmal für kurze Zeit "hip" und sprach vor allem junge Frauen an. Auslöserinnen waren die Riot Grrrls, eine Bewegung von alternativen Musikerinnen, die gegen ihren persönlichen und strukturellen Ausschluss aus der Pop- und Subkulturproduktion vorgingen. Damit stellten sie zum ersten Mal das Lebensgefühl von jungen Frauen in den Fokus öffentlichen Interesses. Das Manifest der Riot-Grrrl-Bewegung stammte von den feministischen Bands Bratmobile und Bikini Kill. Das zweiseitige Papier wandte sich "gegen den Seelentod". Ihm voraus ging das Verstummen von Mädchen in der Pubertät. Mädchen verstummen, so Carol Gilligan, weil das, was sie denken und fühlen, nicht gesagt werden darf. Der "Seelentod" setze ein, wenn das Ungesagte auch nicht länger gefühlt und gedacht wird. Der enorme Druck, sich anzupassen und der Norm vom "perfekten Mädchen" zu genügen, vermittele sich nach Gilligan gerade auch in klassischen Mädchenfreundschaften.

Copyright: Bikini Kill

Die Gegenstrategien der Riot Grrrls bestanden darin, Mädchenfreundschaften neu zu denken und Stereotype zurückzuspiegeln und dadurch zu entlarven. So schrieb sich Kathleen Hanna von der Band Bikini Kill "Fotze" auf den Bauch, als Solidaritätsbekundung mit den anderen Frauen im Musikbusiness, die allgemein als Fotzen abgewertet werden, und um gleichzeitig die vulgäre Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsorgan zurückzuerobern. Darüber hinaus ging es auch darum, zu wagen, genauso wie "die Jungs" drei Akkorde zu lernen und auf die Bühne zu gehen. Bis dahin mussten Frauen im Rockbusiness nach wie vor eine "schöne" Stimme haben, um singen zu dürfen, was perfiderweise jedoch gleichzeitig als Bravheit und fehlende Kraft bemängelt wurde.

Das überwältigende Bedürfnis danach, die eigene sexuelle wie kreative Tat-Kraft positiv bejaht zu hören, machte einen großen Teil der musikalischen und literarischen Anziehungskraft der Riot Grrrls aus. Nicht zufällig ist die am häufigsten zitierte Textzeile der von Liz Phair gesungene Satz: "I fuck you till your dick is blue" (Auf ihrem ersten Album "Exile in Guyville").

In den USA beziehen sich die so genannten fourth-wave-Feministinnen auf diese aktive und zum Teil aggressive Sexualität und grenzen sich damit teilweise von den second-wave-Feministinnen ab, die sich bis in die 1990er Jahren noch dafür einsetzen mussten, dass die Vergewaltigung in der Ehe überhaupt als Straftat anerkannt wurde.

Als Folge des Riot-Grrrl-Hypes wurde das Feld der Popkultur als subversive kulturelle Praxis erschlossen. In Deutschland stehen für diese Spielart der feministischen Praxis Journalistinnen wie Kerstin Grether und Sonja Eismann. Da die Grrrls unmittelbar vom Mainstream vereinnahmt und auf den Aspekt des Girlie reduziert wurden, musste ein neuer Begriff her, wie beispielsweise die Lady. Sie unterscheidet sich allerdings sehr von der klassischen Oberklassendame mit klarer Geschlechteridentität, und bezieht stattdessen bewusst queere und transgender-Identitäten mit ein. Lady steht für Souveränität, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Seit 2000 finden weltweit Ladyfeste statt, die die subkulturellen Strategien der Riot-Grrrl- und Do-It-Yourself-Bewegung aufgreifen.

Da diese Veranstaltungen stets selbstorganisiert, dezentral und nichtkommerziell sind, unterscheiden sie sich gewaltig in ihrer Schwerpunktsetzung und Ausgestaltung. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie der Unterrepräsentation von Frauen in der Popkulturproduktion entgegentreten und Geschlechteridentitäten hinterfragen. Zum Programm gehören neben Vorträgen, beispielsweise über Judith Butler, und Konzerten von Frauenbands vor allem Workshops, um Wissen weiterzugeben und Fähigkeiten zu entwickeln. Hoher Beliebtheit erfreuen sich Drag-King-Workshops, in denen Frauen kulturelle Männlichkeitscodes entlarven, imitieren und parodieren und somit die Geschlechtergrenzen mit dem eigenen Leib überschreiten.

In diesem Rahmen ist das Interesse an feministischen Pornos (Ja oder nein? Und wenn ja, dann wie?) gestiegen. Auch rücken die "radical Handcraft"-Workshops ins Zentrum des Interesses – also Nähen, Sticken, Stricken –, Tätigkeiten, die man eher mit Großmüttern denn mit Ladys verbindet. Ziel ist es, gegen kommerzielle Multis zu produzieren – Anti-Sweatshop sozusagen – und in Größen, die echten Frauen passen und nicht nur Models.

Third-Wave-Feminismus

In der BRD ist spätestens seit 2005 die dritte Welle des Feminismus angekommen, hier interpretiert als die Wiederentdeckung des Feminismus von "neuen deutschen" und "Alphamädchen" – so zwei Buchtitel zum Thema. Junge Frauen aus der vermeintlichen "Es ist doch alles erreicht"-Generation erklären, dass es nach wie vor strukturelle Unterdrückung gebe und es zwar wichtig sei, biologische Identitäten in Frage zu stellen, die politische Identität Frau jedoch verteidigt werden müsse.

Feministinnen wie Charlotte Roche dagegen entwerfen in ihren Büchern provokativ Protagonistinnen, die zu Prostituierten gehen, und erkunden den weiblichen Körper so explizit wie nie zuvor. Politisiert wurden und werden sie u. a. durch die "gläserne Decke", die Frauen mit Aufstiegsambitionen noch immer von höheren Positionen trennt, und die Einschränkungen, denen sie hierzulande ausgesetzt sind, sobald sie Mütter werden.

Der eigentliche third-wave-Feminismus wurde von farbigen Feministinnen wie bell hooks, Audre Lourde, Gloria Anzaldua, Maxine Hong Kingston und Trinh T. Minh-ha initiiert, die kritisierten, dass die zweite Welle eine Bewegung weißer Mittelschichtsfrauen sei und Rassismus außer Acht lasse. Unter dem Slogan "Müssen wir alle Frauen Schwester nennen?" bestanden sie darauf, nicht alle Frauen über einen Kamm zu scheren. Die Auseinandersetzung mit Rassismus – dem fremden wie dem eigenen – hat auch in Deutschland neue Relevanz erfahren.

Die Hälfte des Kuchens oder eine andere Welt?

Im November 2005 erlangte Angela Merkel das Amt der Bundeskanzlerin und setzte damit auch in Deutschland ein deutliches Signal: Bis in die höchsten Ämter hinein bleiben Männer nun nicht mehr länger unter sich, Frauen fordern lautstark ihren Anteil an Macht, Einfluss und Repräsentation. Insbesondere die bürgerliche Frauenbewegung sah belegt, dass von nun an alles möglich sei und begrüßte die Kanzlerin als neues Rollenmodell. Andere kritisierten diesen so genannten "Karrierefeminismus", der suggeriere, der Damm sei gebrochen und jede könne es bis in die Machtzentren schaffen, wenn sie nur hart genug (an sich) arbeite. Dabei sei Angela Merkel eine Ausnahme, die eben nicht die Regel bestätige. Die Frage ist: Wollen wir "die Hälfte vom verschimmelten Kuchen"[1] oder streiten wir lieber für eine andere Welt, in der die patriarchalen Spielregeln selbst außer Kraft gesetzt sind?

[1] Gisela Notz: Zur politischen Teilhabe der Frauen in der Bundesrepublik. In: George Sand und Luise Otto-Peters. Wegbereiterinnen der Frauenemanzipation. Leipzig 2005, S. 229.

Weitere Inhalte

geb. 1971, Studium der Germanistik und anglistischen Literaturwissenschaften, Forschungen zur Kulturgeschichte der Vulva, Journalistin und Autorin hauptsächlich für den Westdeutschen Rundfunk, ehrenamtliche Redakteurin der feministischen Zeitschrift WIR FRAUEN.