Vor einigen Tagen erhielt ich eine Zuschrift, in der eine kleine Begebenheit beschrieben wurde. Die Autorin berichtete: "Ich saß beim Friseur und hörte wie ein etwa 12-Jähriges Mädchen zu der Friseurin sagte: "Mein Vater hat gesagt, wenn man gar nichts kann, wird man Friseuse!" Dem Mädchen war überhaupt nicht klar, was ihre Friseurin, mit abgeschlossener Lehre, die über 40 Stunden in der Woche arbeitet und kleines Geld bekommt, gefühlt haben muss. Ich sagte dem Mädchen: "Grüße deinen Vater und sage ihm, dass er es nicht schafft, Dir beizubringen was Respekt heißt. Im Übrigen sollte man niemals denjenigen beleidigen, der die Schere in der Hand hat." Der Brief schloss mit einer Frage an mich: "Ist das nicht auch Aufgabe der Schule?"
Bereits im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung formuliert Seneca den Satz: Non vitae, sed scholae discimus – übersetzt: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir – und kritisierte damit die Schule. Sie vermittelt Wissen, das man nur in der Schule selbst braucht. In jüngerer Zeit wurde dieser Satz umgestellt: Non scholae, sed vitae discimus – für das Leben sollen wir lernen. Doch was genau heißt das eigentlich? Soll die Erwerbsarbeit im Vordergrund stehen? Soll schulisches Lernen also vor allem auf den Beruf vorbereiten, das spätere wirtschaftliche Auskommen und den sozialen Status sichern? Oder meinen wir das "Leben" in seiner Breite? Soll schulisches Lernen also jenseits von ökonomischen Verwertungsaspekten auf Persönlichkeitsbildung gerichtet sein, auf Anpassung an gesellschaftliche Werte und soziale Integration? Über diese Fragen wird seit jeher leidenschaftlich gestritten, stehen sie doch für ganz unterschiedliche Interessen und Erwartungen, die an die Schule herangetragen werden.
"Schuster, bleib bei deinen Leisten" – Bildung als ständisches Privileg
Die deutsche Antwort auf diese Frage formulierte Fürst Otto von Bismarck, der damalige Reichskanzler, 1890 noch eindeutig: "Unsere höheren Schulen werden von zu vielen jungen Leuten besucht, welche weder durch Begabung noch durch die Vergangenheit ihrer Eltern auf einen gelehrten Beruf hingewiesen werden. Die Folge ist die Überfüllung aller gelehrten Fächer und die Züchtung eines staatsgefährlichen Proletariats Gebildeter" (vgl. Bismarck 1890 nach Führ 1997). Für Bismarck stehen damit die unmittelbaren Interessen von Staat und Wirtschaft im Vordergrund. Bildung stellte er in ihren Dienst und setzte der staatlichen (Aus-)Bildung damit enge Grenzen. Er verweigerte sich dem Wunsch nach einer möglichst weitgehenden Bildung für alle und verfolgt in den 1880er Jahren mit den Reichsversicherungsgesetzen stattdessen sozialpolitische Ziele. Dadurch wurden in Deutschland – anders als etwa in den angelsächsischen Ländern – Bildung und Sozialpolitik strikt getrennt. Der entstehende Sozialstaat vernachlässigte die Bildungspolitik, die als vorsorgende Sozialpolitik den Bürgerinnen und Bürgern gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Stattdessen konzentrierte sich der Sozialstaat auf die nachsorgende Sozialpolitik. Sie ist auf die Reparatur von Notlagen ausgerichtet und lange Zeit bestrebt, den erreichten sozialen Status abzusichern und zu erhalten. "Schuster, bleib bei deinen Leisten" – dieser Leitspruch wird zur Zeit der Reichsgründung in Bildungs- und Sozialpolitik gleichermaßen fest verankert und institutionalisiert.
Bildung als Bürgerrecht
Mitte des 20. Jahrhunderts rückt zunehmend ein anderes Bildungsverständnis in den Vordergrund. Ralf Dahrendorf (1965) formuliert deutlich: "Bildungspolitik ist weit mehr als eine Magd der Wirtschaftpolitik", "Bildung ist Bürgerrecht", sie ist ein soziales Grundrecht. In modernen Gesellschaften wird Bildung als wesentliches Element der Demokratisierung und der Emanzipation betrachtet. Der Zugang zu und der Erwerb von Bildung soll ausschließlich über meritokratische Prinzipien, also leistungsgerecht, erfolgen: Status, Prestige und Macht sollen demnach durch individuelle Leistung und nicht durch vererbten Stand begründet werden. Auch die Ausrichtung der Bildung auf den Arbeitsmarkt gerät unter Druck. Als Bürgerrecht verstanden kann und soll Bildung jenseits von Verwertungsaspekten nachgefragt werden. Über 40 Jahre später nimmt Vernor Muñoz als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen diese Forderung auf. Er spricht von Bildung als Menschenrecht und stellt fest, dass Deutschland dieses verletze. Im entfalteten europäischen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts werden Bildung, soziale Sicherung und politische Teilhabe tendenziell zu gleichberechtigten Dimensionen eines Staatsbürgerrechts (Marshall 1992). Bildungs- und Sozialpolitik stehen nicht gegeneinander, sie bilden zwei gleichermaßen notwendige Säulen des Sozialstaats.
Was verstehen wir unter Bildung?
Die empirische Bildungsforschung misst Bildung hauptsächlich mit zwei Indikatoren: dem Schulabschluss, also dem erworbenen Zertifikat, und mit kognitiven Kompetenzen, also den (durch Leistungstests) gemessenen Fähigkeiten in Bereichen wie Lesen, Mathematik oder Naturwissenschaft. In beiden Fällen – Zertifikaten wie Kompetenzen – kann Bildung als etwas verstanden werden, über das man verfügt. Und wie man bei ökonomischen Gütern feststellen kann, dass sie ungleich verteilt sind, lässt sich auch für Bildung die gesellschaftliche Verteilung betrachten: Bildungsreich sind dann Menschen mit dem höchstmöglichen Schulabschluss, dem Abitur, bildungsarm sind Menschen ohne schulischen Abschluss. Bei den kognitiven Kompetenzen können Menschen in der untersten Kompetenzstufe – sogenannte 'funktionale Analphabeten’ – als bildungsarm gelten, bildungsreich sind entsprechend Menschen in der höchsten Kompetenzstufe. Wichtig ist, dass beide Maße nicht notwendig zusammenfallen. Es gibt Menschen mit hohen kognitiven Kompetenzen und niedrigem Schulabschluss, und umgekehrt. Dann scheint allerdings das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verletzt. Schließlich gilt es als ungerecht, dass jemand ein niedrigeres Zertifikat erhält, obwohl er – im Vergleich zu anderen – höhere Leistungen oder Ergebnisse erzielt. Wir kommen darauf zurück.
Wer erreicht eine hohe Bildung?
Über die letzten sechs Jahrzehnte ging der Anteil von Schülerinnen und Schülern in den Hauptschulen stark zurück, der Anteil in den Realschulen und Gymnasien nahm dagegen deutlich zu. Bei großen regionalen Unterschieden erhalten heute zwischen 20 und 38 Prozent aller Schülerinnen und Schüler die Hochschulzugangsberechtigung. Führt dieser Ausbau von höheren Schulen dazu, dass auch die Kinder von sozial schlechter gestellten Eltern gute Chancen haben, das Abitur zu erreichen und eine Hochschulausbildung aufzunehmen? Haben Kinder aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten nun vergleichbare Chancen? Nein. Auch heute sehen wir ausgeprägte Unterschiede in den Bildungschancen von Kindern, die auf deren Herkunft zurückgehen. Um nur wenige Zahlen zu nennen: Von 100 Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien schaffen es 45 in die gymnasiale Oberstufe und 24 in die Hochschulen. Von 100 Kindern aus Akademikerhaushalten sind es 81 beziehungsweise 71 Kinder (BMBF 2010). Nun belegen solche Zahlen nicht zwingend, dass unsere Schulen gegen das Mantra der Leistungsgerechtigkeit verstoßen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn Kinder systematisch trotz ihrer Potenziale keine Gymnasialempfehlung bekommen, oder umgekehrt, diese erhalten, obwohl die Leistungen eher mäßig sind. Vergleicht man aber Übergangsempfehlung und die gemessene Leistung, so trifft genau dies oft zu: "Arbeiterkinder" müssen generell höhere kognitive Kompetenzen zeigen, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als Kinder von Akademikern. Doch noch etwas kommt hinzu: Kinder aus sozial schwächeren Elternhäusern werden meist weniger gefördert als andere Kinder – von Eltern, Verwandten, Lehrern, durch ihre Nachbarschaft und ihre Netzwerke. Sie besuchen seltener Kindertagesstätten und Kindergärten. Diese Ballung von Benachteiligungen führt zu kaum reparablen Unterschieden im Bildungserfolg und damit fast unweigerlich zu ungleichen Lebenschancen.
Lohnt sich Bildung?
Das Leben ist mehr als Erwerbsarbeit. Die Erträge von Bildung zeigen sich in fast allen Lebensbereichen: Gesundheit, Lebenserwartung, Glück, Partnerschaften, soziale Integration, Partizipation, Mobilität, Gestaltungsmöglichkeiten im Lebensverlauf. Menschen mit Hochschulreife rauchen weniger, leiden seltener an Übergewicht und an Krankheiten wie etwa Schlaganfall oder Diabetes, sie sind sportlich aktiver als Menschen mit niedriger Bildung. Ebenso sind Menschen mit höherem Bildungsstand häufiger politisch aktiv und sozial engagiert.
Da Erwerbsarbeit jedoch in vielerlei Hinsicht der Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe ist, lohnt es vor allem, den Zusammenhang zwischen Bildung und Beschäftigung näher zu betrachten: Menschen mit höherem Schulabschluss haben ein deutlich geringeres Risiko arbeitslos zu sein, als Menschen mit niedrigem Abschluss. Auch erzielen sie in ihren Jobs ein wesentlich höheres Einkommen. Doch warum ist das so?
Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten 1975-2011 (
Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten 1975-2011 (
Diese Frage mag zunächst trivial erscheinen, in der Wissenschaft ist man sich über die Antwort jedoch keineswegs einig. Vielmehr gibt es für die Vorteile, die Menschen mit höherer Bildung auf dem Arbeitsmarkt haben, ganz unterschiedliche – ja sogar einander widersprechende – Erklärungsversuche. So geht etwa der von Ökonomen formulierte Humankapitalansatz (Becker 1964; Schultz 1963) davon aus, dass sich Bildung direkt in Produktivität auf dem Arbeitsmarkt umsetzt: Demnach stellen Arbeitgeber bevorzugt höher gebildete Menschen ein, weil sie aufgrund ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten produktiver sind. Deshalb erreichen diese Menschen auch bessere berufliche Positionen und erzielen höhere Einkommen. Dagegen geht der Signal-Ansatz (Spence 1974) davon aus, dass nicht die tatsächlichen Kompetenzen entscheidend sind, sondern vielmehr die Bildungsabschlüsse: Menschen müssen also gar nicht unbedingt produktiver sein, um bessere Jobs und höhere Einkommen zu erzielen. Zunächst zählt vor allem der Bildungsabschluss, da Arbeitgeber diesen als Signal für die Qualifikation ihrer Bewerber auffassen. Insbesondere die Konflikttheorie (Bowles/Gintis 2000) stellt leistungsgerechte Elemente sogar vollständig in Abrede: Sie geht davon aus, dass sich die Schule von gesellschaftlichen Eliten vereinnahmen lässt. Indem sie vermeintlich neutrale Leistungsmaßstäbe setzt, die jedoch von Kindern aus sozial weniger privilegierten Verhältnissen viel schwerer zu erfüllen sind, bevorteilt die Schule systematisch Kinder höherer Schichten. Dadurch schafft sie gesellschaftliche Ungleichheit und legitimiert diese unter dem Deckmantel gleicher Chancen für alle. Schulen sind damit "die zentrale Rechtfertigungsfabrik sozialer Ungleichheit in der modernen Gesellschaft" (Beck 1988:265).
Deutschland als Bildungsrepublik
Bildung hat in der modernen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Sie entscheidet maßgeblich über Lebenschancen und befähigt Menschen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der steigende Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund und eine insgesamt höhere Vielfalt der Gesellschaft braucht eine hohe Integrationsbereitschaft aller – auch dazu müssen Schulen ihren Beitrag leisten. Dahrendorf hat Recht: Bildung ist mehr als die "Magd der Wirtschaft". Dennoch: Wir brauchen Bildung auch als Motor für die wirtschaftliche Entwicklung und Innovation von morgen. "Bildungsnotstand ist wirtschaftlicher Notstand", schrieb Georg Picht schon vor 50 Jahren. Der Arbeitsmarkt verändert sich. Der Bedarf an Hochqualifizierten wird weiter steigen, Niedrigqualifizierte werden höchstwahrscheinlich immer schwerer einen Arbeitsplatz finden.
Aus all dem wird deutlich: Bildungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Sie berührt fast alle Politikbereiche, insbesondere Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und ist damit einer der wichtigsten politischen Gestaltungsbereiche überhaupt. Vor allem muss sie viel stärker als bisher an einem Bereich ansetzen, der in Deutschland besonders veränderungsresistent erscheint: Dem Abbau von Niedrigbildung. Eine Grundbildung, die zur kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe befähigt, muss das Bildungssystem allen gleichermaßen garantieren. Über Jahrhunderte konnte sich Deutschland offenbar Bildungsarmut leisten. Nur so lässt sich erklären, dass Schulen weitgehend fern sozialpädagogischer Hilfen sind, früh selektieren und vergleichsweise wenig in eine präventive Sozial- und Arbeitsmarktpolitik investiert wird. Wir wissen, was zu tun ist.