Wer diese Frage diskutieren will, muss zunächst erläutern, was unter politischem Handeln verstanden werden soll. Für diesen Text wird politisches Handeln als "ein zielgerichtetes Verhalten der Bürger/-innen mit Bezug auf Politik und politische Entscheidungen" definiert (Pickel 2012, S. 40). Politisches Handeln ist damit etwas anderes als soziales Handeln: Wenn Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Projekten zum Service-Learning zum Beispiel in ein Altenheim gehen, den Seniorinnen und Senioren vorlesen oder ihnen den Umgang mit dem PC beibringen, ist das zunächst soziales Handeln. Erst wenn die Schüler/-innen öffentlich die strukturellen Verhältnisse in dem Altenheim thematisieren, zum Beispiel indem sie die Anzahl der Pflegekräfte im Verhältnis zu den Seniorinnen und Senioren kritisieren, handeln sie politisch (vgl. Nonnenmacher 2011, S. 93).
Politisch handelnde Bürgerinnen und Bürger als Ziel der politischen Bildung
Es ist unstrittig, dass eine Demokratie Bürgerinnen und Bürger braucht, die politisch handeln. Allerdings gibt es unterschiedliche Ansichten zu der Frage, wie viele aktiv handelnde Bürger/-innen für eine funktionierende Demokratie erforderlich sind. Neben dem pragmatischen Argument, dass außerhalb kleiner politischer Einheiten – wie etwa einem Dorf – direkte politische Mitwirkung für eine große Zahl an Bürgerinnen und Bürgern oder gar für alle praktisch nicht zu organisieren sei, hängt die Antwort auf diese Frage auch vom jeweiligen Demokratieverständnis und Menschenbild ab.
Bürger – der Begriff
Bei dem Begriff Bürger denken wir heute meist an Staatsbürger/-innen. Im Englischen und Französischen heißen Staatsbürger/-innen citizen bzw. citoyen. Diese Begriffe gehen zurück auf das lateinische Wort civitas (= Bürgerschaft) und bezeichneten ursprünglich den wahlberechtigten Bürger der Citè (= franz. Stadt).
Vereinfacht gesagt gehen Anhänger/-innen einer repräsentativen Demokratie davon aus, dass die Mehrheit der Bürger/-innen weder über das notwendige Interesse noch über die notwendigen Kompetenzen verfügt, die Politik aktiv mitzubestimmen. Ein demokratisches System, in dem sich nur die wirklich interessierten und kompetenten Bürger/-innen in Parteien engagieren und einige zu Berufspolitikerinnen und -politikern werden, erscheint vor diesem Hintergrund ideal. Befürworter/-innen einer repräsentativen Demokratie erwarten von den gewählten politischen Eliten rationalere und effektivere Entscheidungen als von den Normalbürgern und sind der Meinung, für diese reichten die regelmäßig stattfindenden Wahlen als Mittel der politischen Partizipation aus.
Die Anhänger/-innen einer partizipativen Demokratie glauben hingegen, dass möglichst viele Bürger/-innen die Politik an möglichst vielen Stellen aktiv mitgestalten sollten. Sie trauen dies den Menschen zu und gehen außerdem davon aus, dass diese durch die aktive Mitgestaltung der Politik ihre politischen Kompetenzen noch stärken können. Sie erhoffen sich durch eine breitere Partizipation auch bessere Ergebnisse der Politik, weil so die Interessen, Werte und Potenziale von deutlich mehr Menschen bei den politischen Entscheidungen zum Tragen kommen. Sie möchten daher bestehende Mitwirkungsmöglichkeiten ausbauen, z. B. durch den verstärkten Einsatz von Bürgerforen oder den Ausbau der Volksgesetzgebung.
Eine Antwort auf die Frage, welche Rolle das politische Handeln als Ziel der politischen Bildung spielen sollte, hängt also immer von den demokratietheoretischen Grundannahmen ab.
In der Politikdidaktik wurden deshalb unterschiedliche Bürgerleitbilder als mögliche Ziele der politischen Bildung diskutiert (vgl. Breit/Massing 2002):
Reflektierte Zuschauer/-innen informieren sich regelmäßig über Politik und sind in der Lage, rational begründete Wahlentscheidungen zu treffen.
Interventionsfähige Bürger/-innen engagieren sich darüber hinaus punktuell in der Politik, immer dann, wenn ihre eigenen Interessen besonders betroffen sind.
Aktivbürger/-innen engagieren sich dauerhaft politisch und Politik ist ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens.
Der Politikdidaktiker Joachim Detjen, dessen Podcast zum Thema Bürgerleitbilder Sie hier hören können, fasst den Begriff des Aktivbürgers enger als die meisten anderen Didaktikerinnen und Didaktiker: Bei ihm ist ein Aktivbürger jemand, "der sein Leben der Politik widmet" und "mehr oder weniger professionell dieses Geschäft betreib[t]". Wer sich in einer Bürgerinitiative engagiert, auch längerfristig, ist nach dieser Definition "nur" ein interventionsfähiger Bürger (vgl. neben dem Podcast auch Detjen 2000).
Bürgerleitbilder im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. Joachim Detjen
Welche Konsequenzen haben diese Bürgerleitbilder für die praktische politische Bildung?
Es ist offensichtlich, dass die drei Typen von Bürgerinnen und Bürgern jeweils unterschiedliche Kompetenzen benötigen (vgl. Massing 2001, Buchstein 2009):
Reflektierten Zuschauer/-innen brauchen vor allem Wissen über politische Inhalte; sie müssen das Gefüge der politischen Institutionen kennen und wissen, wie politische Prozesse innerhalb des politischen Systems ablaufen.
Interventionsfähigen Bürger/-innen müssen darüber hinaus wissen, an welchen Stellen und mit welchen Mitteln sie sich politisch beteiligen können. Sie brauchen kommunikative und strategische Fähigkeiten, um sich einzubringen.
Aktivbürger/-innen benötigen neben politischem Wissen und politischen Fähigkeiten vor allem eins: die Motivation, dauerhaft viel Zeit und Energie für politisches Engagement aufzubringen.
Welche dieser Kompetenzen soll nun die politische Bildung vermitteln?
Anhänger/-innen der repräsentativen Demokratie setzen vor allem auf die Vermittlung von politischem Wissen. Anhänger/-innen der partizipativen Demokratie sind hingegen der Meinung, politische Bildung müsse auch kommunikative und strategische Fähigkeiten fördern, und ihre Adressatinnen und Adressaten zum Engagement motivieren. Hier deutet sich an, dass die demokratietheoretischen Vorstellungen auch Konsequenzen für die Wahl der Inhalte und Methoden der politischen Bildung haben: Interventionsfähige Bürger/-innen und vor allem Aktivbürger/-innen müssen lernen, auf welche Art und Weise sie sich politisch engagieren können. Für die Ausbildung der notwendigen Kompetenzen zum Mitmachen eignen sich handlungsorientierte Methoden, wie zum Beispiel Planspiele, durch die kommunikative und strategische Fähigkeiten gefördert werden.
Die Diskussion über die Bürgerleitbilder fand vor allem im Rahmen der schulischen politischen Bildung statt. Die Politikdidaktiker/-innen haben hier sehr unterschiedliche Positionen. Wie David Salomon im Podcast (siehe weiter unten) sieht auch Wolfgang Sander die Vorgabe eines Bürgerleitbildes kritisch: "In der Demokratie gibt es eine Vielzahl legitimer Bürgerrollen […]. Politische Bildung hat hier die Aufgabe, Menschen darin zu unterstützen, je für sich ihre eigene Bürgerrolle zu finden“ (Sander 2008, S. 49). Andere Autoren wie beispielsweise Paul Ackermann plädieren dagegen für die Vorgabe eines Bürgerleitbildes: "Anstatt eines politischen Dauerengagements halte ich den politischen Interventionsbürger für ein realistisches Ziel. […] Die Schülerinnen und Schüler sollten demnach im Unterricht nicht nur lernen, über politische Ereignisse und Probleme zu urteilen, sondern auch, wie sie sich selbst in die Politik einmischen können, um ihre oder auch die Interessen anderer zu vertreten“ (Ackermann 2004, S. 95). Paul Ackermann argumentiert in seinem Text allerdings nicht vorwiegend demokratietheoretisch, sondern pragmatisch. Pragmatische Argumente vertreten auch viele andere Politikdidaktiker und Politikdidaktikerinnen, denn für den Politikunterricht stehen nur wenige Stunden zur Verfügung und es scheint kaum realisierbar, viele Schülerinnen und Schüler in dieser kurzen Zeit zu Interventions- oder sogar Aktivbürger/-innen zu machen.
Bürgerleitbilder im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. David Salomon
Sehr grundsätzlich ist David Salomons Kritik an den Bürgerleitbildern: Er wendet ein, die Orientierung der politischen Bildung an Bürgerleitbildern berge die Gefahr, dass der komplexe Begriff des Bürgers auf den des Staatsbürgers reduziert werde. Das stecke schon in dem viel zitierten Satz Demokratie braucht mündige Bürger. Nicht die Menschen als Subjekte, deren politische Mündigkeit und Autonomie gefördert werden sollen, stünden dabei im Zentrum, sondern lediglich funktionsfähige Staatsbürger/-innen, deren Aufgabe es sei, das bestehende politische System zu stabilisieren. Die Lernenden müssten bei einem festgelegten Bürgerleitbild zu einem bestimmten Verhalten als Bürgerin oder Bürger erzogen werden. Stattdessen sollte in der politischen Bildung das Konzept des Bürgers lieber gemeinsam mit den Lernenden kontrovers diskutiert werden. David Salomon argumentiert auch, die Diskussion um die Bürgerleitbilder blende die sozialen Voraussetzungen der politischen Partizipation aus: Dass verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedliche zeitliche und finanzielle Möglichkeiten hätten, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen, würde durch einheitliche normative Leitbilder verschleiert (vgl. neben dem Podcast auch Salomon 2010; 2012).
Unabhängig davon, ob Lehrende an der Schule oder außerschulische politische Bildner/-innen sich ausdrücklich zu einem bestimmten Leitbild bekennen: Jeder hat bestimmte Ideale davon im Kopf, wie die Demokratie beschaffen sein sollte und welche Rolle die Bürger/-innen spielen sollten. Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Leitbildern kann deshalb auf jeden Fall dazu beitragen, sich diese eigenen Vorstellungen bewusst zu machen und zu reflektieren, inwiefern sie die Bestimmung von Zielen, Inhalten und auch Methoden der eigenen Unterrichtsstunden oder Veranstaltungen zur politischen Bildung beeinflussen.