Aus dem jüdischen Srulik Fridman wird der katholische Jurek Staniak mit einer neuen Biografie und dem absoluten Willen, am Leben zu bleiben. Die drei entscheidenden Jahre seiner Kindheit begleitet ihn ein ständiger Konflikt: Er muss seine Herkunft verdrängen und ein anderer werden. Aber er darf nicht vergessen, dass er Jude ist. Dieses seinem Vater gegebene Versprechen ermöglicht es Srulik/Jurek nach dem Krieg, seine verleugnete und verschüttete Geschichte wieder zusammenzusetzen und - wiederum viel später - einen neuen Lebensabschnitt in Israel zu beginnen, mit einem dritten Namen: Yoram Fridman.
Lebensgeschichte wird Roman wird Film
Als Yoram Fridman in Israel von seiner Vergangenheit berichtet, beschließt der Autor Uri Orlev, aus dem realen Schicksal einen Roman zu machen. Das Buch findet eine eigene ästhetische Form, um die individuelle Lebensgeschichte mit literarischen Mitteln zu adaptieren. Erzählt werden nur die Jahre von 1942 bis Kriegsende - und das konsequent aus der Perspektive des jungen Protagonisten. Der Roman ist ein Erlebnisbericht aus Sicht eines Kindes, das noch kein umfassendes Faktenwissen zu Nationalsozialismus, Antisemitismus und Judenvernichtung haben kann, aber deren Auswirkungen am eigenen Leib zu spüren bekommt. Auch die Verfilmung übernimmt diesen von der Hauptfigur bestimmten, nicht-analytischen Blick.
Einzelschicksal im Holocaust
Auf historisches Dokumentarmaterial oder einen Off-Kommentar zur näheren Einordnung der Biografie in den geschichtlichen Zusammenhang, verzichtet "Lauf Junge Lauf". Buch und Film machen beide deutlich, dass sie die Erlebnisse eines Einzelnen wiedergeben und nicht exemplarisch das Schicksal dem Holocaust entkommener Kinder darzustellen versuchen. Dennoch ähneln Sruliks/Jureks Erfahrungen in vielerlei Hinsicht denen anderer während der NS-Zeit im Versteck oder mit neuer Identität untergetauchter Kinder. Die permanente Angst, entdeckt zu werden - besonders bei Jungen durch die Beschneidung -, die Einsamkeit, die Abhängigkeit von der Hilfsbereitschaft fremder Menschen, von Zufällen, der Schmerz durch den Verlust der eigenen Familie und der innere Zwiespalt verschiedener im Widerspruch stehender Identitäten finden sich in vielen Lebensberichten einst junger Überlebender.
Dramaturgische Verdichtung
Film und Buch verwenden ähnliche Erzählstrategien. Die schnörkellose, pathosfreie Sprache des Romans übersetzt die Verfilmung in ruhige, klare Bilder. Gleichzeitig schlüpft die Kamera oft in die kindliche Perspektive, folgt bewegt den Schritten und Blicken des Jungen und lässt das Bild unscharf werden, wenn ihm das Bewusstsein schwindet. Aber aus dramaturgischen Gründen verdichtet der Film die Erlebnisse seines Helden auch. Für das Buch und die reale Biografie wichtige Personen werden weggelassen (der deutsche Soldat Werner, der russische Feldwebel Sascha, Frau Rappaport vom jüdischen Waisenhaus), kurze humoristische Szenen sorgen für Spannungsentlastung ("Der Hitler hat dir die Hand abgehackt?"), Musik soll emotionalisieren, ebenso wie das häufige Weinen der Hauptfigur, das gerade nicht Sruliks/Jureks innerem Verhärtungsprozess entspricht, aber für ein heutiges Publikum leichte Anknüpfungspunkte bieten soll. Die zentralen Motive und Themen bleiben in beiden Medien gleich, ihre Gewichtung und Platzierung verschieben sich.
"Du musst am Leben bleiben"
Zu den abenteuerlich anmutenden Zufällen von Fridmans Biografie gehört, dass er auf der Flucht vor deutschen Soldaten seinem Vater ein letztes Mal auf einem Kartoffelfeld begegnete. Die Ratschläge des Vaters und das ihm dort gegebene Versprechen, getarnt zu überleben, doch nie seine jüdische Herkunft zu vergessen, werden zu einem Leitmotiv für den Jungen. Im chronologisch erzählten Roman, nach über einem Drittel der Geschichte, erhält Srulik hier seinen vollständigen neuen Namen Jurek Staniak. Wenige Seiten darauf folgt Srulik dem väterlichen Rat und sucht entkräftet Unterschlupf bei einer polnischen Bauersfrau, die ihm die im antisemitischen Umfeld lebenswichtigen christlichen Rituale und Gebete beibringt. Ausgestattet mit einer anderen Geschichte, mit Kreuz und einem Madonnen-Medaillon um den Hals, schlüpft der Junge in seine zunächst noch fremde Identität. Von nun an verwendet der Roman bis zuletzt den Namen Jurek.
"Ich bin kein Jude!"
Der in einer Rückblendenstruktur erzählte Film verstärkt das Leitmotivische des Versprechens an den Vater, indem er diese Szene an den Anfang setzt. In beißender Kälte und Einsamkeit, kurz vor dem körperlichen Zusammenbruch, erinnert sich Srulik an das väterliche "Gib niemals auf" - und hält durch. Auch während einer Fieberfantasie im Krankenhaus erscheinen Jurek die verinnerlichten Worte: "Ich verspreche es", murmelt er. Seine Verteidigung "Ich bin kein Jude!" zieht sich zunächst wie ein verzweifelter Refrain durch den Film. Doch dann spricht der Vertreter des jüdischen Waisenhauses, Moshe Frenkiel, den von ihm gekidnappten Jurek auf Jiddisch an und dieser antwortet in der Sprache seiner eigenen jüdischen Vergangenheit - eine Zuspitzung, die es im Roman nicht gibt. Jurek erinnert sich nun an sein Heimatdorf Błonie und erhält bei einem anschließenden Besuch dort seinen alten Namen und seine Geschichte zurück. In mehreren Flashbacks erscheint ihm zunächst seine Familie bei der Sabbatfeier. Dann folgt die letzte Begegnung mit dem Vater, diesmal in ganzer Länge. Jureks Versprechen wird so zur dramaturgischen Klammer und zur Schlüsselszene für seine Entscheidung, sich nach Kriegsende nicht länger zu verleugnen.
"Welchen Weg willst du gehen?"
Als Moshe Frenkiel Jurek vor die Entscheidung stellt, auf dem Bauernhof der polnischen Familie Kowalski zu bleiben oder mit ihm ins jüdische Waisenhaus nach Warschau zu fahren, wählt der Junge Warschau. Der Film visualisiert die möglichen Lebenswege in einem prägnanten Bild: ein Auto, das vor einer Weggabelung mit einer Madonnenfigur hält. Rechts oder links, Srulik oder Jurek, Judentum oder Christentum. Besonders am Ende zeigt sich die Verdichtungstechnik des Films: Jureks Erinnerung, die im Buch nur Schritt für Schritt und mit liebevoller Hilfe von Frau Rappaport zurückkehrt, transportiert der Film im halb träumerischen, halb schockartigen Flashback eines gemeinsamen Sabbats der Familie Fridman. Der kleine Srulik trägt eine Kippa, seine Mutter hat den Arm um ihn gelegt. Dann wendet sie sich um, lächelt aus der Rückblende dem Jurek der Gegenwart zu und verknüpft beide Zeitebenen. Jurek erinnert sich wieder an das Gesicht seiner Mutter so wie an die Worte seines Vaters und seinen eigenen Namen. Sie sind der Schlüssel zu seiner alten, seiner jüdischen und seiner zukünftigen Identität.
Der Riss im Herzen
Die Sehnsucht nach der verlorenen Mutter ist ein starkes Motiv, das bereits den Roman durchzieht. Die knappe, sachliche Sprache des Buches zeigt ihren höchsten Ausdruck an Emotionalität, wenn sie Sruliks Innenleben nach dem Verlust der Mutter beschreibt: "Der Riss in seinem Herzen wurde größer, wurde zu einem Abgrund. Buchstäblich im letzten Moment riss sich Srulik zusammen und ging zu den Kindern, um mit ihnen zu spielen." An die Stelle des spurlosen Verschwindens der Mutter setzt der Film ein fiktives letztes Bild von ihr. Srulik, verborgen in einem Fuhrwerk, das ihn aus dem Ghetto schmuggeln wird, sieht sie suchend umherirren, doch kann nicht mehr zurück. Der Film nimmt sich, genau wie jede mediale Darstellung realer Ereignisse, erzählerische Freiheiten; er erfindet Szenen und spitzt Erlebtes zu. Der Eindruck von Authentizität, der oft gerade bei filmischen Dramatisierungen der NS-Zeit erzeugt werden soll, entsteht dabei vor allem durch eine Stimmigkeit auf der Gefühlsebene, durch die "innere Wahrheit" der Handlung, nicht unbedingt die faktische.
Die Bäuerin Magda Janczyk spielt für Jureks Überleben eine große Rolle. Sie pflegt ihn gesund, versteckt ihn und lehrt ihn, sich wie ein Christ zu verhalten. Zentral in ihrem Haus hängt ein Andachtsbild der Gottesmutter mit brennendem Herzen. Im katholischen Glauben soll die Verehrung des unbefleckten Herzens Mariä den Menschen Frieden bringen. Der Film zeigt das Marienbildnis mehrfach nah. Neben Jureks leiblicher Mutter und der mütterlich liebevollen Bäuerin nimmt die Heilige Maria zunehmend die Funktion einer spirituellen Mutter ein, zu der Jurek nun betet.
Auch der Rosenkranz und das Kruzifix, die Frau Janczyk ihm mit auf den Weg gab, werden zu Schutz- und Kraftsymbolen. In entscheidenden Szenen blickt die Kamera auf den Rosenkranz in der Hand des Jungen. (Bild 9) Im Buch ist es ein Medaillon mit Madonna, das Jurek immer dann berührt, wenn er sich seiner neuen Identität versichert. Er besucht die Kirche, erhält die Kommunion und wird Christ. Der Konflikt, dennoch Jude zu sein, erhält im Roman zusätzlichen Raum.
Ikonische Bilder
Eine der bekanntesten Ikonen des Holocaust ist die Fotografie jenes namenlosen Jungen, der bei der Liquidation des Warschauer Ghettos die Hände erhoben hat. Die Aufnahme verweist nicht nur auf die 1,5 Millionen ermordeten jüdischen Kinder, sie repräsentiert exemplarisch die Unschuld der Verfolgten des Holocaust. Gerade Einzelschicksale von Kindern wie das der Anne Frank vermögen bei Rezipienten mehr Empathie und Mitgefühl auszulösen als bloße historische Faktenberichte. Auch in Filmen wirkt kaum ein Motiv stärker als das des verfolgten oder des geretteten Kindes. "Lauf Junge Lauf" reiht sich in diese Filmografie ein.
Auffallend ist, dass er auf die Reinszenierung jener Bilder verzichtet, die für Mediendarstellungen des Warschauer Ghettos prägend geworden sind. Es handelt sich um die im Mai 1942 gedrehten NS-Propagandaaufnahmen, die unter anderem immer wieder bettelnde, hungernde oder sterbende Kinder zeigen. Obwohl der Roman zu Beginn viel vom ärmlichen Leben im Ghetto, dem dauernden Hunger und der tödlichen Bedrohung durch Deportation erzählt, spart der Film dies bis auf die Szene von Sruliks Flucht aus. Die Verfilmung vermeidet hier und an anderen Stellen die Reproduktion dieser ikonischen Bilder und lässt somit die Geschichte universeller wirken. Auch der Hinweis auf antisemitische Vorfälle, die Jurek Fridman in der Nachkriegszeit veranlassten, aus Polen nach Israel zu emigrieren, fehlt im Film.
Epilog
"Lauf Junge Lauf" schließt mit einem dokumentarischen Epilog in der Gegenwart: Yoram Fridman, inzwischen rund 80 Jahre alt, betritt die Verfilmung seiner eigenen Geschichte. Am Strand von Tel Aviv spielt er mit seinen Enkeln Fußball. Das ausdrucksstarke Stilmittel, die realen Überlebenden am Ende einer filmischen Fiktion zu zeigen, verwenden auch Werke wie "Schindlers Liste" oder "Hitlerjunge Salomon". Und so wie "Schindlers Liste" auf die Anzahl der Nachkommen der Geretteten verweist, endet "Lauf Junge Lauf" mit der Nennung aller sechs Enkel Fridmans. Nach Verlust und Wiederkehr der eigenen Identität sind es nun ihre Namen, die bleiben.