Der Literaturkritiker und Publizist Marcel Reich-Ranicki wurde 1938 aus Deutschland nach Polen deportiert. Dort lebte er in Warschau, wo im November 1940 von den deutschen Besatzern ein Ghetto für die jüdische Bevölkerung errichtet wurde. Reich-Ranicki arbeitete als Übersetzer für den "Judenrat" des Warschauer Ghettos und zugleich an einem Untergrundarchiv mit, später bekannt als Ringelblum-Archiv. Aus Anlass des Holocaust-Gedenktages sprach der 92-Jährige über das Warschauer Ghetto und die Deportation der Juden in das Vernichtungslager Treblinka, die im Juli 1942 begann. Er entkam der "Umsiedlung" durch Flucht, gemeinsam mit seiner Frau Tosia.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, liebe Gäste!
Ich soll heute hier die Rede halten zum jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Doch nicht als Historiker spreche ich, sondern als ein Zeitzeuge, genauer: als Überlebender des Warschauer Ghettos. 1938 war ich aus Berlin nach Polen deportiert worden. Bis 1940 machten die Nationalsozialisten aus einem Warschauer Stadtteil den von ihnen später sogenannten "jüdischen Wohnbezirk". Dort lebten meine Eltern, mein Bruder und schließlich ich selber. Dort habe ich meine Frau kennengelernt.
Seit dem Frühjahr 1942 hatten sich Vorfälle, Maßnahmen und Gerüchte gehäuft, die von einer geplanten generellen Veränderung der Verhältnisse im Ghetto zeugten. Am 20. und 21. Juli war dann für jedermann klar, dass dem Ghetto Schlimmstes bevorstand: Zahlreiche Menschen wurden auf der Straße erschossen, viele als Geiseln verhaftet, darunter mehrere Mitglieder und Abteilungsleiter des "Judenrates". Beliebt waren die Mitglieder des "Judenrates", also die höchsten Amtspersonen im Ghetto, keineswegs. Gleichwohl war die Bevölkerung erschüttert: Die brutale Verhaftung hat man als ein düsteres Zeichen verstanden, das für alle galt, die hinter den Mauern lebten.
Am 22. Juli fuhren vor das Hauptgebäude des "Judenrates" einige Personenautos vor und zwei Lastwagen mit Soldaten. Das Haus wurde umstellt. Den Personenwagen entstiegen etwa fünfzehn SS-Männer, darunter einige höhere Offiziere. Einige blieben unten, die anderen begaben sich forsch und zügig ins erste Stockwerk zum Amtszimmer des Obmanns, Adam Czerniaków.
Im ganzen Gebäude wurde es schlagartig still, beklemmend still. Es sollten wohl, vermuteten wir, weitere Geiseln verhaftet werden. In der Tat erschien auch gleich Czerniakóws Adjutant, der von Zimmer zu Zimmer lief und dessen Anordnung mitteilte: Alle anwesenden Mitglieder des "Judenrates" hätten sofort zum Obmann zu kommen. Wenig später kehrte der Adjutant wieder: Auch alle Abteilungsleiter sollten sich im Amtszimmer des Obmanns melden. Wir nahmen an, dass für die offenbar geforderte Zahl von Geiseln nicht mehr genug Mitglieder des "Judenrates" (die meisten waren ja schon am Vortag verhaftet worden) im Haus waren.
Kurz darauf kam der Adjutant zum dritten Mal: Jetzt wurde ich zum Obmann gerufen, jetzt bin wohl ich an der Reihe, dachte ich mir, die Zahl der Geiseln zu vervollständigen. Aber ich hatte mich geirrt. Auf jeden Fall nahm ich, wie üblich, wenn ich zu Czerniaków ging, einen Schreibblock mit und zwei Bleistifte. In den Korridoren sah ich stark bewaffnete Posten. Die Tür zum Amtszimmer Czerniakóws war, anders als sonst, offen.
Er stand, umgeben von einigen höheren SS-Offizieren, hinter seinem Schreibtisch. War er etwa verhaftet? Als er mich sah, wandte er sich an einen der SS-Offiziere, einen wohlbeleibten, glatzköpfigen Mann – es war der Leiter der allgemein "Ausrottungskommando" genannten Hauptabteilung Reinhard beim SS- und Polizeiführer, der SS-Sturmbannführer Höfle. Ihm wurde ich von Czerniaków vorgestellt, und zwar mit den Worten: "Das ist mein bester Korrespondent, mein bester Übersetzer." Also war ich nicht als Geisel gerufen.
Höfle wollte wissen, ob ich stenographieren könne. Da ich verneinte, fragte er mich, ob ich imstande sei, schnell genug zu schreiben, um die Sitzung, die gleich stattfinden werde, zu protokollieren. Ich bejahte knapp. Daraufhin befahl er, das benachbarte Konferenzzimmer vorzubereiten. Auf der einen Seite des langen, rechteckigen Tisches nahmen acht SS-Offiziere Platz, unter ihnen Höfle, der den Vorsitz hatte. Auf der anderen saßen die Juden: neben Czerniaków die noch nicht verhafteten fünf oder sechs Mitglieder des "Judenrates", ferner der Kommandant des Jüdischen Ordnungsdienstes, der Generalsekretär des "Judenrates" und ich als Protokollant.
An den beiden zum Konferenzraum führenden Türen waren Wachtposten aufgestellt. Sie hatten, glaube ich, nur eine einzige Aufgabe: Furcht und Schrecken zu verbreiten. Die auf die Straße hinausgehenden Fenster standen an diesem warmen und besonders schönen Tag weit offen. So konnte ich genau hören, womit sich die vor dem Haus in ihren Autos wartenden SS-Männer die Zeit vertrieben: Sie hatten wohl ein Grammophon im Wagen, einen Kofferapparat wahrscheinlich, und hörten Musik und nicht einmal schlechte. Es waren Walzer von Johann Strauß, der freilich auch kein richtiger Arier war. Das konnten die SS-Leute nicht wissen, weil Goebbels die nicht ganz rassereine Herkunft des von ihm geschätzten Komponisten verheimlichen ließ.
Höfle eröffnete die Sitzung mit den Worten: "Am heutigen Tag beginnt die Umsiedlung der Juden aus Warschau. Es ist euch ja bekannt, dass es hier zu viel Juden gibt. Euch, den ›Judenrat‹, beauftrage ich mit dieser Aktion. Wird sie genau durchgeführt, dann werden auch die Geiseln wieder freigelassen, andernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben." Er zeigte mit der Hand auf den Kinderspielplatz auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Es war eine für die Verhältnisse im Getto recht hübsche Anlage, die erst vor wenigen Wochen feierlich eingeweiht worden war: Eine Kapelle hatte aufgespielt, Kinder hatten getanzt und geturnt, es waren, wie üblich, Reden gehalten worden.
Jetzt also drohte Höfle den ganzen "Judenrat" und die im Konferenzraum anwesenden Juden auf diesem Kinderspielplatz aufzuhängen. Wir spürten, dass der vierschrötige Mann, dessen Alter ich auf mindestens vierzig schätzte – in Wirklichkeit war er erst 31 Jahre alt –, nicht die geringsten Bedenken hätte, uns sofort erschießen oder eben "aufknüpfen" zu lassen. Schon das (übrigens unverkennbar österreichisch gefärbte) Deutsch zeugte von der Primitivität und Vulgarität dieses SS-Offiziers.
So schnoddrig und sadistisch Höfle die Sitzung eingeleitet hatte, so sachlich diktierte er einen mitgebrachten Text, betitelt "Eröffnungen und Auflagen für den ›Judenrat‹". Freilich verlas er ihn etwas mühselig und schwerfällig, mitunter stockend: Er hatte dieses Dokument weder geschrieben noch redigiert, er kannte es nur flüchtig. Die Stille im Raum war unheimlich, und sie wurde noch intensiver durch die fortwährenden Geräusche: das Klappern meiner alten Schreibmaschine, das Klicken der Kameras einiger SS-Führer, die immer wieder fotografierten, und die aus der Ferne kommende, die leise und sanfte Weise von der schönen, blauen Donau. Haben diese eifrig fotografierenden SS-Führer gewusst, dass sie an einem historischen Vorgang teilnahmen?
Von Zeit zu Zeit warf mir Höfle einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass ich auch mitkäme. Ja, ich kam schon mit, ich schrieb, dass "alle jüdischen Personen", die in Warschau wohnten, "gleichgültig welchen Alters und Geschlechts", nach Osten umgesiedelt würden. Was bedeutete hier das Wort "Umsiedlung"? Was war mit dem Wort "Osten" gemeint, zu welchem Zweck sollten die Warschauer Juden dorthin gebracht werden? Darüber war in Höfles "Eröffnungen und Auflagen für den ›Judenrat‹" nichts gesagt.
Wohl aber wurden sechs Personenkreise aufgezählt, die von der Umsiedlung ausgenommen seien – darunter alle arbeitsfähigen Juden, die kaserniert werden sollten, alle Personen, die bei deutschen Behörden oder Betriebsstellen beschäftigt waren oder die zum Personal des "Judenrats" und der jüdischen Krankenhäuser gehörten. Ein Satz ließ mich plötzlich aufhorchen: Die Ehefrauen und Kinder dieser Personen würden ebenfalls nicht "umgesiedelt".
Unten hatte man inzwischen eine andere Platte aufgelegt: Nicht laut zwar, doch ganz deutlich konnte man den frohen Walzer hören, der von "Wein, Weib und Gesang" erzählte. Ich dachte mir: Das Leben geht weiter, das Leben der Nichtjuden. Und ich dachte an sie, die jetzt in der kleinen Wohnung mit einer graphischen Arbeit beschäftigt war, ich dachte an Tosia, die nirgends angestellt und also von der "Umsiedlung" nicht ausgenommen war.
Höfle diktierte weiter. Jetzt war davon die Rede, dass die "Umsiedler" fünfzehn Kilogramm als Reisegepäck mitnehmen dürften sowie "sämtliche Wertsachen, Geld, Schmuck, Gold usw.". Mitnehmen durften oder mitnehmen sollten? – fiel mir ein. Noch am selben Tag, am 22. Juli 1942, sollte der Jüdische Ordnungsdienst, der die Umsiedlungsaktion unter Aufsicht des "Judenrates" durchführen musste, 6000 Juden zu einem an einer Bahnlinie gelegenen Platz bringen, dem Umschlagplatz. Von dort fuhren die Züge in Richtung Osten ab. Aber noch wusste niemand, wohin die Transporte gingen, was den "Umsiedlern" bevorstand.
Im letzten Abschnitt der "Eröffnungen und Auflagen" wurde mitgeteilt, was jenen drohte, die etwa versuchen sollten, "die Umsiedlungsmaßnahmen zu umgehen oder zu stören". Nur eine einzige Strafe gab es, sie wurde am Ende eines jeden Satzes refrainartig wiederholt: "… wird erschossen."