„Wir müssen den Zusammenbruch verhindern“, forderte SED-Generalsekretär Erich Honecker im Juni 1988 kategorisch im SED-Politbüro. Und fünf Monate später, im November 1988, orakelte der oberste SED-Verantwortliche für die Wirtschaft, Politbüromitglied und ZK-Wirtschaftssekretär Günter Mittag, in einem kleinen Kreis von Wirtschaftsexperten düster: „So, wie es jetzt ist, geht es an den Baum, Totalschaden!“
Interner Link: Wirtschafts-Infos aus Politbürositzung vom 14.6.1988
Während sich Politbüro und Ministerrat vom Herbst 1988 bis weit in das Jahr 1989 hinein Sitzung auf Sitzung mit einem nicht-bilanzierenden Volkswirtschaftsplan für das Jahr 1989 herumschlugen, gewannen für den DDR-Staatssicherheitsdienst offensichtlich zwei Probleme an Bedeutung: Zum einen die Frage nach der Verantwortung für die bedrohliche ökonomische Situation, die Honecker und Mittag von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) auf den Ministerrat und Staatsapparat insgesamt und somit auch auf das MfS abzuwälzen versuchten; zum anderen die Frage, wie der Staatssicherheitsdienst damit umgehen sollte, dass Honecker zur Rettung des Staatshaushalts eine generelle Kürzung des Etats der bewaffneten Organe, des sogenannten Sonderbedarfs, ins Spiel gebracht hatte – also auch eine Kürzung der Mittel für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS).
Zur Frage der Verantwortung für den drohenden Zusammenbruch legte die für die „Sicherung der Volkswirtschaft“ zuständige Hauptabteilung XVIII am 22. Februar 1989 Mielkes Stellvertreter Rudi Mittig eine Bilanz der vergeblichen Warnungen, Mahnungen und Informationen der HA XVIII vor: eine Exkulpation, mit der sie die Linie XVIII und das MfS offensichtlich vorsorglich gegen aufkommende Schuldzuweisungen wappnen wollte. „Erkenntnisse über komplex wirkende subjektive und objektive Ursachen und zu hauptsächlich begünstigenden Bedingungen für die sich als Tendenz zeigenden Probleme, die im wechselseitigen Zusammenhang mit allgemeinen komplizierten volkswirtschaftlichen Fragen zu sehen sind, standen und stehen ständig im Mittelpunkt der Führung, Leitung und Planung der politisch-operativen Arbeitsprozesse der HA XVIII und der Linie XVIII“, heißt es darin. Allein im Jahre 1988 seien rund 140 Informationen über negative volkswirtschaftliche Entwicklungstendenzen erarbeitet worden, deren Veränderung „zentraler Entscheidung“, also der des Generalsekretärs bzw. Politbüros, bedurft hätte.
Von 43 Informationen des Ministers für Staatssicherheit an leitende Partei- und Staatsfunktionäre hätten elf ausschließlich Fragen der Beherrschung ökonomischer Prozesse gegolten; daneben hätte die HA XVIII seit 1987 rund 740 Informationen zu ökonomischen Problemen unterschiedlichster Art erarbeitet und damit einen „schöpferischen Beitrag zur aktuellen Gestaltung des Entgegenwirkens ungünstiger volkswirtschaftlicher Entwicklungstendenzen und deren möglichen sicherheitspolitisch bedeutsamen Auswirkungen“ erbracht.
Wen erreichten die Stasi-Analysen?
Offen blieb dabei allerdings, wen die HA XVIII mit diesen Informationen versorgte. Nicht unwahrscheinlich ist, dass der überwiegende Teil das Ministerium für Staatssicherheit nicht verließ, die Stasi sich somit selbst informierte. Das gilt mit Sicherheit für die mehr als 400 Stellungnahmen, die die HA XVIII zu Beschlussvorlagen für zentrale wirtschaftspolitische Entscheidungen für Politbüromitglied und Minister Mielke bzw. seine Stellvertreter im Ministerrat erarbeitete. In weiteren 140 Informationen sei dem Vorsitzenden des Ministerrates bzw. seinem Stellvertreter über das System der Sicherheitsbeauftragten in Zusammenarbeit der HA XVIII mit der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat über ökonomische Fragen und Probleme berichtet worden.
100 operative Vorgänge und 350 operative Personenkontrollen „zu Personen in bedeutsamen Funktionen“, heißt es weiter, würden aktuell bearbeitet. Doch trotz einzelner Störungen kapitalistischer Konzerne müsse grundsätzlich eingeschätzt werden, „dass die subjektiven Ursachen, die der weiter anhaltenden Tendenz der problembehafteten Entwicklung der Volkswirtschaft zugrunde liegen, keine feindlich motivierte Grundlage haben.“ Die angespannte volkswirtschaftliche Lage führe „bei einem zunehmend größer werdenden Teil der Wirtschafts- und Wissenschaftskader zu Pessimismus, Skepsis und Resignation“. Leistungsverfall und Arbeitsbummelei breiteten sich aus, ebenso Manipulation und Falschberichterstattung leitender Partei- und Wirtschaftskader zu Ergebnissen der Volkswirtschaft.
Honecker schlug Milliarden-Streichungen und veränderte Militärdoktrin vor
Völlig neu und deshalb fremd musste dem MfS, das nur Etaterhöhungen, schlimmstenfalls eine Verminderung der Zuwachsrate kannte, die Vorstellung einer Etatkürzung anmuten. Bereits im September 1988 hatte Honecker in den Planberatungen erstmals eine Reduzierung des „Sonderbedarfs“ um zehn Prozent vorgeschlagen, was zunächst nur den Etat der Nationalen Volksarmee (NVA) betreffen sollte. Zwei Milliarden Mark könnte man der NVA streichen, präzisierte er im November. Im Februar 1989 waren aus den zwei bereits drei Milliarden Mark geworden. In einer Unterredung mit ZK-Wirtschaftssekretär Günter Mittag und Plankommissions-Chef Gerhard Schürer über die weitere Behandlung des Fünfjahrplanes 1991 bis 1995 erfand Honecker im Anschluss an eine Politbürositzung am 21. Februar 1989 unter sechs Augen spontan eine neue Militärdoktrin. Er erklärte kurz und bündig, dass die Überlegungen zum Fünfjahrplan davon ausgehen sollten, „dass es keinen Krieg mehr gibt. Entgegenstehende Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrates müssten aufgehoben werden.“
Interner Link: Militärdoktrin in Frage gestellt? Handschriftlicher MfS-Vermerk vom 22.2.1989
Auch eine Kürzung der Etats von MfS und Innenministerium um zehn Prozent ab 1991 war jetzt vorgesehen.
Interner Link: Kürzungsvorschläge für NVA und MfS vom 25.2.1989
In der Hauptabteilung XVIII des MfS machte sich Oberst Dr. Horst Roigk daraufhin Gedanken, wie eine Reduzierung des MfS-Haushaltsansatzes zu bewerkstelligen wäre. „Alleiniger Maßstab“, hielt Roigk fest, „können die notwendigen Erfordernisse zur Gewährleistung einer hohen staatlichen Sicherheit und Ordnung sein. Deshalb sollten bestehende Normative unter dem Gesichtspunkt des Notwendigen und nicht des Möglichen überprüft werden, ist jede Parallelität der Durchführung von Aufgaben auszuschließen.“ Durch Maßnahmen wie einer Einstellungssperre, die Erhöhung der Nutzung der materiellen Fonds und eine Redimensionierung der Forschungs- und Produktionseinrichtungen des MfS ließe sich eine Absenkung des MfS-Haushaltes auffangen. Als dann jedoch über den Staatssekretär der Staatlichen Plankommission (SPK), Heinz Klopfer, Informationen durchsickerten, dass die Reduzierung der Mittel für die NVA um zwei Milliarden von Honecker persönlich zurückgenommen worden sei, konnte auch das MfS schon nach wenigen Wochen wieder Hoffnung schöpfen, von einer Etatkürzung verschont zu bleiben.
Die erste Konzeption für den Fünfjahrplan 1991–1995 und den Plan 1990, die Planungschef Gerhard Schürer und Finanzminister Ernst Höfner Mitte Februar 1989 dem Politbüro vorlegten, glich einer ökonomischen und politischen Bankrotterklärung. Um die Zahlungsfähigkeit bis 1995 zu gewährleisten, wurden in der Vergangenheit nie ereichte, utopisch anmutende Exportüberschüsse in den Westen vorgegeben: Der Gesamtexportüberschuss in den Westen zu Inlandspreisen müsse 1991 – 1995 163 Mrd. Mark betragen, eine fast siebenfache Steigerung gegenüber dem zurückliegenden Fünfjahreszeitraum (1986–90: 24 Mrd. M., 1981–85: 28 Mrd. M). Dazu müssten die Investitionen gesenkt, der Konsum eingeschränkt, der Wohnungsneubau reduziert, die Ausgaben für Bildung und Gesundheit verringert, die Militärausgaben um fünf Prozent gekürzt und zu all dem die Preise für Konsumgüter, die nicht zum Grundbedarf gehörten, erhöht werden.
Für das Jahr 1989 sind die Stellungnahmen, die die HA XVIII zu Beschlussvorlagen des Politbüros und Ministerrates verfasste, vollständig erhalten. In der Regel empfahl der letzte Satz dieser Stellungnahmen, der Vorlage zuzustimmen. Die Stellungnahme zur „Konzeption des Ansatzes für den Fünfjahrplan 1991–1995 und für die staatlichen Aufgaben 1990“, die auf der Tagesordnung der Politbürositzung vom 27. Februar 1989 stand, kulminierte dagegen in einem vernichtenden Urteil: „Von den Experten wird eingeschätzt, dass die vorliegende volkswirtschaftliche Konzeption, beruhend auf einer hohen und anspruchsvollen Zielstellung der Leistungsentwicklung bei gleichbleibendem bzw. rückläufigem Umfang des Rohstoff- und Materialeinsatzes, in ihrer Gesamtheit nicht bilanziert und die Konzentration der Aufgabenstellung auf die Jahre 1990–1992 die Realisierbarkeit stark in Frage stellt. Dabei stellt das Hauptproblem bei rückläufigem Investitionseinsatz im produktiven Bereich die Realisierung des hohen konzipierten NSW-Exports in den Jahren 1990–1992 dar. Aufgrund der bestehenden inneren Realisierungsbedingungen wird von den Experten die konzipierte Abstoppung des ‚Sockels‘ in den Jahren 1992/93 sowie seines Rückgangs ab 1994 als nicht real eingeschätzt, da die Erzielung der dazu notwendigen hohen Exportüberschüsse hinsichtlich ihrer materiell-technischen Sicherung nicht gewährleistet ist. Die Fortführung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Sicherung des erreichten materiellen Lebensniveaus sowie die Aufrechterhaltung einer stabilen Versorgung der Bevölkerung sind substantiell mit dieser Konzeption nicht gesichert.“
Auf eine Empfehlung für Mielke wurde völlig verzichtet, was an Auftragsverweigerung grenzte und den ratlos-alarmierenden Charakter der Stellungnahme unterstrich. Nachdem das Politbüro der Vorlage wie immer einmütig zugestimmt hatte, stand sie im März unverändert zur Nachbeschließung auf der Tagesordnung des Ministerrates. Die Empfehlung der HA XVIII lautete jetzt, der Vorlage „aus sicherheitspolitischer Sicht“ zuzustimmen, obwohl die frühere Kritik ausdrücklich bekräftigt wurde. Ähnlich fundamental, aber ohne Konsequenzen kritisierte die Stellungnahme der HA XVIII die Politbüro-Vorlage „Entwurf der staatlichen Aufgaben 1990“ im Juni 1989, weil sie in allen wichtigen Kennziffern nicht bilanzierte. Auch die Politbüro-Vorlagen zur Entwicklung der Zahlungsbilanz im Juli, August und September 1989 wurden – wie bereits in den Vormonaten – wegen des kontinuierlichen Anstiegs der Westverschuldung zwar kritisch kommentiert, aber dennoch mit einer Zustimmungs-Empfehlung für Minister Mielke versehen.
Für 1991 Zahlungsunfähigkeit prognostiziert
Als der „Kleine Kreis“ der für Wirtschaftsfragen verantwortlichen Politbüromitglieder im Mai 1989 zusammentrat, wies Honecker einleitend wiederum jegliche Preiserhöhungsvorschläge und eine Verlangsamung des Wohnungsneubauprogramms mit Bestimmtheit zurück. Gerhard Schürer, dem der Generalsekretär dann das Wort erteilte, vermeldete, dass die Verschuldung nun monatlich um 500 Millionen Valutamark zunehme. „In diesem heute hier anwesenden kleinen Kreis möchte ich mit aller Offenheit sagen dürfen“, fuhr er fort, „dass bei Fortsetzung dieser Entwicklung die DDR 1991 zahlungsunfähig ist. (...) Wenn wir über die Zahlungsbilanz nicht strengste Geheimhaltung gewährleisten, kann der Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit noch früher eintreten.“ Die bereits eingeleiteten Kürzungen müssten nun dringend „mit einer Reihe ökonomischer Maßnahmen im Bereich der Konsumtion“ verbunden werden. Doch niemand im „Kleinen Kreis“ wollte sich der Aufgabe stellen, den Lebensstandard der Bevölkerung einzuschränken. „Was sagen wir dann dem Volk, wie treten wir dann dem Volk gegenüber auf?“, fragte verzweifelt der FDGB-Vorsitzende Harry Tisch. Und Egon Krenz gab als richtungweisende Parole aus: „Wir sollten jetzt nach vorne sehen. Es ist für mich gar keine Frage, ob die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik fortgeführt wird. Sie muss fortgeführt werden, denn sie ist ja der Sozialismus in der DDR!“
Sehenden Auges steuerte das Politbüro auf den Wirtschaftsbankrott zu und damit – in der Logik von Krenz – auf das Ende des Sozialismus, als sich in der Mitte des Jahres sämtliche innen- und außenpolitischen Krisensymptome verschärften. Auf einem Gipfeltreffen des Warschauer Paktes in Bukarest im Juli 1989 gab die Sowjetunion offiziell die Breshnew-Doktrin der begrenzten Souveranität der Mitgliedsstaaten auf. Die sowjetische Bestandsgarantie war damit auch für die DDR in Frage gestellt; mit militärischer Unterstützung im Falle innerer Unruhen konnte sie nicht mehr rechnen. Aufmerksam gemacht durch Medienberichte über den Abriss des Stacheldrahts an der ungarisch-österreichischen Grenze Anfang Mai 1989, reisten mit Beginn der Sommerferien immer mehr DDR-Bürger in der Hoffnung nach Ungarn, über die ungarisch-österreichische Grenze in die Bundesrepublik fliehen zu können. Ausreisewillige besetzten die Botschaften der Bundesrepublik in Budapest und Prag sowie die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Am 10. September 1989 entschied sich Ungarn, internationalen Vereinbarungen und Abkommen Vorrang vor der Bündnissolidarität mit der DDR einzuräumen. Nach einer Geheimabsprache mit Bonn öffnete die ungarische Regierung die Grenze zu Österreich für DDR-Bürger. Zehntausende Ostdeutsche reisten in den nächsten Tagen und Wochen über Österreich in die Bundesrepublik. Die DDR erlebte die größte Fluchtwelle seit dem Mauerbau im Jahr 1961. Die Massenausreise führte die Machtlosigkeit der SED-Führung in dieser Frage vor Augen und unterminierte in nie dagewesener Weise die Staatsautorität; sie wurde zur Bedingung und Voraussetzung zunächst der Gründung oppositioneller Gruppierungen, dann schließlich von Massendemonstrationen.
Ende September 1989 hatte sich die Ausarbeitung des Fünfjahrplanes 1991 bis 1995 endgültig in der Schulden-Sackgasse festgefahren. Ein geplanter Anstieg der Westschulden auf 70 Mrd. Valutamark im Jahr 1995 veranlasste Günter Mittag, von der Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz eine Auskunft zu verlangen, „in welcher Höhe die Entwicklung des ‚Sockels’ im Zeitraum bis 1995 finanziell für die DDR als beherrschbar angesehen“ werde. Die Antwort von Schürer, Schalck, Beil, König und Polze blieb konventionell: Die NSW-Exporte müssten von 1991 an jährlich um 2-3 Mrd. Valutamark (VM) gesteigert, das Gesamtvolumen bis 1995 verdoppelt werden; in keinem Jahr dürfe ein Exportplan bestätigt werden, der nicht vollständig materiell untersetzt sei.
Schuldendienstrate von 150 Prozent
Wenige Tage später, am 11. Oktober, kompilierte die HA XVIII auf der Grundlage von Materialien der Plankommission eine Information zur Zahlungsbilanz, die darauf verwies, dass bereits der für 1990 geplante Anstieg der Westschulden auf 49,2 Mrd. VM zu einer Schuldendienstrate der DDR von 150 Prozent führe. Mit dieser Quote überflügele die DDR hochverschuldete Länder wie Mexiko und Brasilien um das zwei- bis dreifache; als kreditwürdig gelte ein Land, wenn die Schuldendienstrate nicht mehr als 25 Prozent betrage. Die von den Stasi-Mitarbeitern abgeschöpften „Experten“ verträten die Auffassung, heißt es in der Information, „dass die Situation prinzipielle wirtschaftspolitische Entscheidungen erfordert, die insbesondere gesehen werden in der Bereitstellung höherer Exportfonds durch Veränderung der Exportstruktur der Industrie, der Stärkung der Akkumulation in den produktiven Bereichen, Veränderungen auf dem Gebiet der Konsumtion sowie in der Umverteilung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens zugunsten der Exportproduktion.“
Interner Link: 41,8 Milliarden Valutamark Schulden Ende 1989. DDR-Zahlungsbilanzdefizit am 11.10.1989 in einer MfS-Übersicht über die Jahre 1986-89
Der Teufelskreis dieser nunmehr seit Jahren vertretenen, gebetsmühlenartig wiederholten Vorschläge, die auf eine Absenkung des Lebensstandards in der DDR hinausliefen und deren Realisierung wegen der für diesen Fall befürchteten politischen Proteste der Bevölkerung unterblieben war, wurde in den Tagen vor Honeckers Sturz durchbrochen, der Notanker in Richtung Bundesrepublik Deutschland ausgeworfen. Die „prinzipielle wirtschaftspolitische Entscheidung“, die sich anbahnte, lief darauf hinaus, mit der Bundesregierung über eine weitreichende ökonomische und wissenschaftlich-technische Kooperation sowie neue Finanzkredite zu verhandeln und im Gegenzug politische Konzessionen anzubieten.
"Ein Geheimkonzept für BRD"
Treibende Kraft dieser Überlegungen war Gerhard Schürer. Im Juni 1989 hatte der Planungschef seinen Worten zufolge versucht, Mielke zu verdeutlichen, „dass die DDR, für deren Sicherheit er als Minister die Verantwortung trägt, in kürzester Zeit bankrott gehen wird, wenn nichts Grundsätzliches in der politischen Führung des Landes verändert wird.“ Mielkes Antwort: „Mach Dir keine Sorgen, Gerhard, man wird uns schon nicht im Stich lassen“, interpretierte Schürer als illusionäre Hoffnung auf sowjetische Wirtschaftshilfe, an die er nicht mehr glauben konnte. Unter der Überschrift „Plan und Ablauf“ entwarf der SPK-Vorsitzende deshalb nach dem 11. Oktober 1989 nicht nur ein Szenario für die Ablösung Erich Honeckers in der folgenden Politbürositzung am 17. Oktober, sondern auch für die unmittelbare Zeit danach: „Schürer/Schalck legen PB [Politbüro, d.Vf.] ein Geheimkonzept für BRD vor“, notierte Schürer. Für ein ökonomisches Entgegenkommen, so ist seinen Aufzeichnungen zu entnehmen, sollte Bonn als politisches Zugeständnis in Aussicht gestellt werden, „dass die Mauer noch vor Beginn des Jahres 2000 überflüssig geworden ist.“
Freilich vergaß Schürer nicht hinzuzufügen, dass dieser Geheimplan nach der Behandlung im SED-Politbüro mit KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow abzustimmen sei. Die neuen Perspektiven, die dem Volk nach dem Sturz Honeckers aufgezeigt werden sollten, so Schürers Vorstellung, sollten auf drei Pfeilern beruhen: 1. einer neuen Stufe der Kooperation mit Moskau, 2. einer neuen Politik und Wirtschaftspolitik in der DDR und 3. einer neuen Form der Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik.
Verschuldung bei 400 Banken
Wirtschaftspolitische Entscheidungen fielen im Politbüro der SED, verantwortlich war der Parteifunktionär Günter Mittag. Dass seine Linie und Schuldenpolitik stark umstritten war, belegt die persönliche Erklärung eines anderen Politbüromitglieds, Werner Krolikowski.
Er gab sein Statement 1991 anstelle eines Interviews zum Teil handschriftlich dem ZDF-Magazin Kennzeichen D: Interner Link: Persönliche Erklärung von Werner Krolikowski
Nachdem Egon Krenz nach dem Sturz von Honecker, Mittag und Hermann am 18. Oktober in seiner Antrittsrede als Generalsekretär vorsichtig die Bereitschaft zu einer erweiterten Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik signalisiert hatte, arbeitete Schürer seine Vorstellungen weiter aus. Die Umrisse seines „Geheimkonzepts“, das nun die Überschrift „Vorschläge zur Ausarbeitung eines Programms der ökonomischen Zusammenarbeit mit der BRD“ trug, verbunden mit einer Reihe von Fragen, die nochmals mit den übrigen Mitgliedern der Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz (Schalck, Beil, König und Polze) beraten werden müssten, landeten auf dem Tisch des Leiters der HA XVIII, der sie am 22. Oktober an Mielkes Stellvertreter Mittig weiterreichte. „Die DDR ist daran interessiert, der BRD ein umfassendes Programm der ökonomischen Zusammenarbeit vorzuschlagen“, konnten die Generäle der Staatssicherheit darin lesen. „Dabei wird davon ausgegangen, dass neue Bedingungen und neue Formen zur Stärkung der Leistungskraft und der Exportfähigkeit der DDR ausgenutzt werden können. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft der BRD zum Einsatz eines Finanzierungsvolumens von mindestens 8 – 10 Mrd. VM zu Vorzugsbedingungen im Zusammenhang mit politischen Entscheidungen. Dieses Finanzierungsvolumen muss der DDR für einen langfristigen Zeitraum von mindestens 7 – 8 Jahren zur Verfügung stehen. Das setzt voraus, dass die Unternehmen und Banken über mehrere Jahre aus dem Bundeshaushalt refinanziert werden.“ Das Geld solle ausschließlich für die Errichtung bzw. Erweiterung konkreter Objekte, also für die produktive Akkumulation, eingesetzt werden. Eine Reaktion der Stasi-Generäle auf diesen Vorschlag ist bislang nicht aktenkundig.
"Wir haben eine explosive Lage"
Freilich hatte die Staatssicherheit zu diesem Zeitpunkt bereits wesentlich andere Sorgen. Schon seit den Sommermonaten des Jahres 1989 schlugen die wachsenden äußeren und inneren politischen Probleme der DDR auch auf die HA XVIII durch. „Verantwortung aller DE [Diensteinheiten, d. Vf.] des MfS: immer im Bilde sein, rechtzeitig erfahren, ob wir eine Situation, wie [wir sie] z.B. [im] Juni 53 hatten, sich wieder entwickelt“, schrieb ein Mitarbeiter stichwortartig aus der Diskussion einer Leitungsversammlung der HA XVIII am 19. September mit. Auf einer Versammlung am 4. Oktober 1989 beklagte General Kleine die „Hetzangriffe des Gegners der letzten Monate“, die schlimmer seien „als zu Zeiten des Faschismus“. Die Mitarbeiter müssten „stabil gemacht werden“, Standhaftigkeit sei gefragt. Man dürfe sich keinen Illusionen hingeben, es werde in den nächsten Tagen eine weitere Eskalation geben: „Wir haben [eine] explosive Lage.“ Auch für die HA XVIII galten seit dem 6. Oktober, dem Beginn der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR, die Befehle „Dienst bis auf Widerruf“ und „volle Dienstbereitschaft“. Die Waffe war am Mann zu tragen.
Am 9. Oktober 1989, dem „Tag der Entscheidung“ in Leipzig, orientierte der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung im MfS, Generalmajor Felber, die Parteiorganisation des Ministeriums zwar einerseits darauf, dass „Personen, die die Macht angreifen, (...) keine Chance haben“ dürften, fügte aber sofort hinzu: „Bei uns darf es kein China geben.“
Ziel Streikvermeidung
Zwei Tage später wusste Felber zu berichten, dass nur ein kleiner Teil der Demonstranten in Leipzig „echte Feinde“ gewesen wären: Der „Masse der Menschen in Leipzig geht es um die ungelösten inneren Probleme (echte Sorgen).“ In dem Maße, in dem in der zweiten Oktoberhälfte die Demonstrationen überall im Lande zunahmen, verstärkte sich der Appell – nicht zuletzt des Ministers – an die HA XVIII, dazu beizutragen, dass Ruhe und Ordnung in der Volkswirtschaft erhalten blieben, es nach Möglichkeit insbesondere nicht zu Arbeitsniederlegungen und Streiks kommen zu lassen und in die neuen Gruppierungen mit inoffiziellen Mitarbeitern so einzudringen, dass die Stasi die Kontrolle über sie behalte.
Auf allen Ebenen des MfS breitete sich Verunsicherung aus, wie es zu der nun eingetretenen Lage hatte kommen können. Der Minister sah sich auf einer Dienstkonferenz am 21. Oktober veranlasst zu versichern, „dass unser Ministerium im Auftrag der Partei alles getan hat, um die Parteiführung über die reale Lage zu informieren.“ Drei Tage später tat es ihm der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung nach: Immer habe das MfS alles getan, um über die reale Lage, einschließlich der ökonomischen, zu informieren; auch Lösungsvorschläge seien unterbreitet worden. Gleichwohl stehe jetzt „unser Organ“ im Mittelpunkt aller Angriffe.
Die Ausarbeitung von Schürers Geheimplan hatte unterdessen Fortschritte gemacht. Am 24. Oktober 1989 wurde dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission im Politbüro aufgetragen, im Rahmen einer Arbeitsgruppe, der Außenhandelsminister Gerhard Beil, dessen Staatssekretär, der Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung, Alexander Schalck, der Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Arno Donda, sowie der Finanzminister Ernst Höfner angehörten, eine Analyse der tatsächlichen volkswirtschaftlichen Situation auszuarbeiten.
Letzter Ausweg: Die Mauer als Tauschmittel?
Am 31. Oktober 1989 stand das Papier, das später als „Schürers Krisen-Papier“ bekannt werden sollte, auf der Tagesordnung des Politbüros. Die Verschuldungslage der DDR hatte sich so zugespitzt, dass sie nach Ansicht der führenden Ökonomen nunmehr eine einschneidende Korrektur der Wirtschafts- und Sozialpolitik, verbunden mit einer Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent, erforderlich machte, die jedoch aus Gründen des Machterhalts für undurchführbar gehalten wurde.
Der letzte Ausweg, den die Ökonomen am 31. Oktober 1989 im Politbüro vorschlugen, lief entsprechend der ersten Überlegungen zum Geheimkonzept darauf hinaus, der Bundesregierung für neue Kredite und eine erweiterte wirtschaftliche Kooperation die Mauer als letztes Tauschmittel anzubieten. In der Begründung seiner Vorlage hob Planungschef Gerhard Schürer seine Tauschüberlegungen im Politbüro ausdrücklich hervor: „Auf der letzten Seite sind wir bis zur großen Politik der Form der Staatsgrenze gegangen. Wir wollen deutlich machen, wie weit Überlegungen angestellt werden sollen. Diese Gedanken sollen aufmerksam machen, dass wir jetzt vielleicht für solche Ideen noch ökonomisches Entgegenkommen der BRD erreichen können.“ Und warnend fuhr er fort: „Wenn die Forderungen erst von der Straße oder gar aus Betrieben gestellt werden, wäre die Möglichkeit einer Initiative von uns wieder aus der Hand genommen.“
Interner Link: Analysepapier zur "ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen" vom 30.10.1989. Darin heißt es: "Um der BRD den ernsthaften Willen der DDR zu unseren Vorschlägen bewusst zu machen, ist zu erklären... dass... noch in diesem Jahrhundert solche Bedingungen geschaffen werden, die heute existierende Form der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten überflüssig zu machen".
Das quantitative Ausmaß der im „Geheimkonzept“ als erforderlich betrachteten Hilfe aus der Bundesrepublik war in der Politbürovorlage so weit verschleiert, dass sich deren Tragweite nichteingeweihten Politbüromitgliedern nicht unbedingt erschloss. Hinter allgemeinen Formulierungen zum Ausbau der ökonomischen Kooperation auf verschiedenen Ebenen tauchte die anvisierte Höhe der zu vereinbarenden Investitionskredite (8-10 Mrd. VM) als Zahl nicht auf; zusätzlich dagegen waren nun auch noch Verhandlungen über Finanzkredite in Höhe von 2-3 Mrd. VM vorgesehen. In ihrer Stellungnahme zu dieser Vorlage für den Minister berief sich die HA XVIII auf die Ansicht von Experten, derzufolge die Schlussfolgerungen der Analyse „der einzig gangbare Weg [sind], um die vorhandene äußerst komplizierte wirtschaftliche Lage positiv zu beeinflussen.“ „Richtig“ sei es, die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion auf eine neue Stufe zu heben, „problematisch“ dagegen, von der Bundesrepublik einen neuen Finanzkredit in Höhe von 2-3 Mrd. VM zu erhalten, der vermutlich erstens an die ökonomischen Bedingungen der Kapitalverwertung geknüpft werde „und sicher mit Forderungen nach weitergehenden Reformen in der DDR verbunden“ sein werde.
Indirekt wurde jedoch dem Minister zu verstehen gegeben, dass dies der anderenfalls erforderlichen Absenkung des Lebensstandards um 25-30 Prozent vorzuziehen sei. Die gleiche HA XVIII, die gut sieben Jahre zuvor die DDR ökonomisch an die Sowjetunion angliedern und die Handelsbeziehungen zum Westen einfrieren wollte (siehe im nachstehenden Text), wusste keinen anderen Rat mehr als dem Stasi-Minister zu empfehlen, der Vorlage zuzustimmen – und die DDR, im Falle erfolgreicher Verhandlungen, in der letzten Konsequenz in einem bis dahin nicht vorstellbaren Ausmaß in ökonomische und politische Abhängigkeit zur Bundesrepublik zu bringen.
Kreditwünsche an Bonn: 12 bis 13 Milliarden
Anfang November 1989 brachte Krenz nach einem Gespräch mit Michail Gorbatschow, dem er die ausweglose Lage der DDR-Wirtschaft vorgetragen hatte, aus Moskau die sichere Erkenntnis mit, dass sich die Sowjetunion zu einem wirtschaftlichen Sonderbonus für die DDR außerstande sah. So wurde Alexander Schalck-Golodkowski am 6. November mit dem Auftrag nach Bonn geschickt, mit dem Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters (beide CDU) informell über einen umfassenden Ausbau der innerdeutschen Beziehungen zu verhandeln. Im Mittelpunkt standen dabei die umfassenden Kreditwünsche der DDR mit einem Gesamtvolumen von 12 bis 13 Milliarden DM. Die dringlichste Bitte von Schalck war zudem, dass sich die Bundesregierung kurzfristig an der Finanzierung des mit dem beabsichtigten Reisegesetz zu erwartenden erweiterten Reiseverkehrs beteiligen sollte, wobei es um eine zusätzliche Größenordnung von 3,8 Milliarden DM ging (300 DM für – angenommene – 12,5 Millionen Reisende pro Jahr).
Die Bundesregierung zeigte sich gesprächs- und verhandlungsbereit, knüpfte ökonomisches Entgegenkommen jedoch an politische Bedingungen. Wenn die SED auf ihr Machtmonopol verzichte, unabhängige Parteien zulasse und freie Wahlen verbindlich zusichere, gab Bundeskanzler Helmut Kohl am Morgen des 8. November in der Debatte des Bundestages zur Lage der Nation bekannt, sei er bereit, „über eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen.“ Durch einen Staatsbesuch des Kanzlers in Polen war die Bonner Verhandlungsschiene jedoch für die SED bis zum 14. November blockiert.
Als in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 die Mauer fiel, sah sich Hans Modrow als frischgewählter Vorsitzender des Ministerrates der wichtigsten Verhandlungsmasse für Milliardenbeträge zur ökonomischen Stabilisierung der DDR beraubt; mit dem Mauerdurchbruch hatte das Volk der Partei- und Staatsführung das letzte Faustpfand für gleichberechtigte Verhandlungen aus der Hand geschlagen.
Alexander Schalck: "Das Volk ist praktisch der Führung zuvorgekommen"
Mit ihrer geheimen Orientierung auf die Bundesrepublik waren SED-Spitze und Staatssicherheit ihrem Volk voraus; die Rufe „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland - einig Vaterland“ sollten erst ab der zweiten Novemberhälfte das Bild der Demonstrationen bestimmen. Die Zielrichtung freilich war entgegengesetzt: Ging es den Demonstranten um die Beseitigung des SED-Staates und die Herstellung der deutschen Einheit unter demokratischen Vorzeichen, so beabsichtigten die SED-Führung und die Staatssicherheit, ihre Herrschaft mit Bonner Hilfe für einen absehbaren Zeitraum zu stabilisieren. Der Fall der Mauer machte diese Absichten zunichte. „Das Volk“, so der nüchterne Kommentar von Alexander Schalck zehn Jahre später, „ist praktisch der Führung zuvorgekommen.“
Die anhaltende Massenausreise und die Massendemonstrationen, die auch in der zweiten Novemberhälfte fortgesetzt wurden, erzwangen den Verzicht auf den Führungsanspruch der SED in der DDR-Verfassung sowie die Gewährung freier Wahlen. Innerhalb weniger Wochen zerfielen die zentralen Parteistrukturen; Politbüro, ZK-Sekretariat und Zentralkomitee lösten sich selbst auf.
Ohne die Steuerungszentrale der Partei zerbröselten die staatlichen Machtstrukturen, an erster Stelle die Staatssicherheit. Ab dem 4. Dezember 1989 besetzten Bürgerrechtler die Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit, die Kreisdienststellen mussten ihre Arbeit einstellen. Am 13. Januar 1990 leitete ein vom Runden Tisch erzwungener Beschluss des DDR-Ministerrates das staatsrechtliche, am 15. Januar 1990 die Besetzung der MfS-Zentrale in der Berliner Normannenstraße, das politische Ende der Staatssicherheit ein.
Mehr verbraucht als produziert
Charakteristisch für die Ära Honecker insgesamt war, dass mehr verbraucht als produziert wurde. In den 1970er Jahren wurde diese Überkonsumtion vornehmlich mit Hilfe von Krediten finanziert; eine steigende Verschuldung im Westen war die Folge. In den 1980er Jahren ging der Konsumsozialismus überwiegend zu Lasten der Investitionstätigkeit und führte zum Zerfall des Kapitalstocks. Gegenüber der Verrottung ganzer Industriezweige und der Infrastruktur, dem baulichen Verfall der Städte und Dörfer und gigantischen ökologischen Schäden und Entsorgungsproblemen erwies sich nach dem Ende der DDR das für die SED-Führung schier unlösbare Problem der Westverschuldung noch als das geringste aller Probleme im vereinten Deutschland. Die Überwindung des verheerenden ökonomischen Erbes der SED-Diktatur, der Aufbau wettbewerbsfähiger industrieller Strukturen und damit auch die Angleichung der Lebensverhältnisse in den alten und neuen Bundesländern ist dagegen auch nach mehr als 25 Jahren noch nicht abgeschlossen.
Ausgerechnet der DDR-Staatssicherheitsdienst zeigte in dieser Frage schon im Oktober 1989 Weitsicht. Am 27. Oktober 1989, vier Tage vor der Behandlung von Schürers Krisen-Papier im Politbüro, trafen sich die Bilanz- und Planexperten der Stasi zu einer Lagebesprechung. Der kurz vor dem Untergang der DDR noch zum Generaloberst beförderte Alfred Kleine, dem Schürers Krisen-Papier bereits vorlag, beklagte vor seinen Mitarbeitern die zu niedrige Arbeitsproduktivität, den Rückgang der produktiven Akkumulation und die hohe Verschleißquote der Ausrüstungen in Industrie und Landwirtschaft, das katastrophal hohe Kostenniveau der Mikroelektronik, die hohen Arbeitsausfallzeiten und die ungenügende Durchsetzung des Leistungsprinzips.
Um die Industrie zu modernisieren, so Kleine, bestehe ein dringender Investitionsbedarf von nicht weniger als 500 Mrd. Mark, was der Höhe von zwei jährlichen Nationaleinkommen der DDR entspräche: „Ich möchte noch einmal wiederholen, der Investitionsbedarf für die produktiven Grundfonds entspricht der Höhe von zwei jährlichen Nationaleinkommen!! Jeder von uns hat so viel ökonomische Kenntnisse, um einschätzen zu können, dass die Überwindung dieses Zustandes nicht in einem, nicht in zwei und auch nicht in fünf Jahren erfolgen kann, sondern einen langen Zeitraum einnehmen wird. Schnelle Erfolge sind deshalb nicht zu erwarten.“
Der Vorschlag der HA XVIII des Staatssicherheitsdienstes vom Januar 1982, der Sowjetunion die Gesamtschuldnerhaft für die DDR anzutragen, gehört sicher zu den ernstgemeinten und deshalb besonders skurrilen und wirklichkeitsfremden strategischen Ideen des MfS jener Zeit. Dass die gleiche Stasi-Hauptabteilung sieben Jahre später, wenige Tage vor dem Mauerfall, das Geheimkonzept einer Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik als letzten Rettungsversuch der DDR fast kommentarlos passieren ließ, mag illustrieren, dass auch der Staatssicherheitsdienst angesichts der sich auftürmenden ökonomischen Probleme – ein Investitionsbedarf in Höhe von zwei DDR-Nationaleinkommen – den Zusammenbruch der DDR anderenfalls für unvermeidbar hielt und keinen anderen Rat mehr wusste. Die intensive Beschäftigung mit ökonomischen Problemen hat auf diese Weise erheblich zur Handlungslähmung der Stasi insgesamt im Herbst 1989 beigetragen.
Mehr zum Thema:Ursachenforschung
Die Pleite der DDR war bereits Anfang der 80er Jahre absehbar, doch das Wissen darüber blieb geheim. Interner Link: Eine Dokumenten-Analyse 1980 - 1983.
Außerdem: Ausgangsdaten der DDR-Wirtschaft im Vergleich mit der Bundesrepublik
Zusammenfassung: Dass MfS und SED im Verlauf der Friedlichen Revolution '89 wie gelähmt reagierten, hatte auch damit zu tun, dass die DDR wirtschaftlich handlungsunfähig geworden war. Die Stasi hatte das vorhergesehen, Als Notlösung galten neue Westkredite - mit einer Maueröffnung als Tauschgeschäft. Doch am 9. November 1989 kamen die eigenen Bürgerinnen und Bürger den politischen Geschäftemachern zuvor.