Allwissenheit als Ziel - Die Postkontrolle der DDR-Geheimpolizei
Dr. Hanna Labrenz-Weiss
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Als es das Internet noch nicht gab, waren Briefe das wichtigste Kommunikationsmittel. In Postämtern unterhielt das MfS eigene Abteilungen, in denen systematisch Post geöffnet wurde.
Die Postkontrolle des MfS setzte im Gründungsjahr des Ministeriums 1950 ein und wurde im Herbst 1989 beendet - als Folge der Friedlichen Revolution. In eigenen Räumlichkeiten des MfS in den 15 Briefverteilämtern der DDR, "Stelle 12" genannt, sortierten Hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter nach bestimmten Vorgaben Briefe aus. Über einen Kurierdienst gelangten die aussortierten Sendungen in die Dienstgebäude des MfS, wo sie mit Wasserdampf befeuchtet und geöffnet wurden. Verdächtige Inhalte wurden gegebenenfalls kopiert oder sogar im Original zu den Akten genommen und Westgeld-Scheine entnommen. Auf diese Weise erwirtschaftete das MfS auch Devisen: Allein zwischen Januar 1984 und November 1989 ergab dies eine Summe von 32,8 Millionen DM. Das Geld wurde entwendet und der betroffene Brief vernichtet.
Postkarten, beispielsweise an Rundfunk-Ratequizsendungen im Westen, wurden aus dem Verkehr gezogen. Beschlagnahmte Briefpost wurde in der Regel den Akten der Staatssicherheit über die jeweiligen Absender oder Empfänger beigefügt, auch heute finden sich noch Originalbriefe als Bestandteil von Stasiakten. Bei heimlich geöffneter Post, die auch vor Gericht gegen den Absender oder Empfänger genutzt werden sollte, wurde eine Art Scheinlegalität hergestellt. Den Betroffenen wurde in einem fiktiven Brief der Deutschen Post erklärt, dass ihre Briefe aufgrund eines angeblichen Verstoßes gegen die Postordnung einbehalten wurden.
Mit Unterstützung des Zolls und dort arbeitenden MfS-Angehörigen wurden auch Paketsendungen inspiziert und teilweise Gegenstände konfisziert, darunter bespielte Musik- oder Hörspielcassetten - sie wurden entsichert und mitunter zur Aufzeichnung abgehörter Telefongespräche genutzt.
Für die Postuntersuchung stand in der Regel ein Verzögerungs-Zeitraum von zwölf Stunden zur Verfügung. Erst danach konnte die Deutsche Post mit der regulären Briefzustellung beginnen. Bei erheblich verzögerten Sendungen wurde das Datum im Poststempel unkenntlich gemacht. Die Mitarbeiter der Abteilung M verschlossen die geöffneten Briefe sorgfältig und ersetzten gegebenenfalls die Umschläge inklusive Frankierung. Dafür gab es eine eigens angelegte internationale Briefmarkensammlung.
Konkrete Fahndungsaufträge sprach die für das Nachrichten- und Fernmeldewesen zuständige Hauptabteilung XIX aus. Dafür existierten große Fahndungstafeln, die mit Namen, Adressen und ggf. Schriftproben bestückt waren. Die Mitarbeiter der Abteilung M glichen die durchlaufenden Briefe mit diesen Daten ab. Gleichzeitig entstand bei dieser Arbeit die sogenannte M-Kartei. Die bei der Kontrolle festgestellten Verbindungen zwischen Absender und Adressat wurden alphabetisch nach Namen abgelegt und zusätzlich mit Hilfe des polizeilichen Melderegisters ergänzt.
"Jede Feindtätigkeit aufspüren"
Verfügte die Stasi am Anfang über drei dafür zuständige Referate, so an ihrem Ende über zehn Abteilungen. Die Entwicklung zeigt, welchen Bedeutungszuwachs die Postkontrolle im Laufe von 40 Jahren DDR erfuhr. Sie wurde durch die politischen Rahmenbedingungen und den Willen des MfS bestimmt, "alles zu wissen" und unter Kontrolle zu halten. In diesem Kontext fiel der Abteilung M die Aufgabe zu, die postalischen Briefverbindungen mit dem Ziel zu kontrollieren, "jede Feindtätigkeit aufzuspüren und gefährliche Auswirkungen zu unterbinden".
Wesentliche Einschnitte ihrer Arbeit erfolgten nach dem Volksaufstand 1953 und dem Mauerbau 1961 in Ostberlin sowie infolge der Entspannungspolitik seit Ende der sechziger Jahre. In den fünfziger Jahren standen zunächst drei Ziele im Mittelpunkt der Arbeit der Postkontrolle durch die Abteilung M: die Suche nach DDR-kritischen Schriften aus Westberlin und der Bundesrepublik, das Erfassen der allgemeinen Stimmungslage der DDR-Bevölkerung und das Aufdecken von Fluchtversuchen aus der DDR. In den sechziger Jahren gewannen der Aufbau technischer Hilfsmittel, nachrichtendienstliche Überprüfungen sowie operative Tätigkeiten an Bedeutung. In den siebziger Jahren bestimmten die zunehmenden Ost-West-Kontakte die Arbeit der Abteilung M. Die Postkontrolle konzentrierte sich auf das Aufspüren "negativer" bzw. "feindlicher" Einflüsse aus dem Westen, wozu im Besonderen auch die Flucht- und Ausreisebewegung gehörte. Die Effizienz des Kontrollsystems wurde durch neue technische Mittel weiter vorangetrieben. In den achtziger Jahren rückten die Perfektionierung und durch die Übernahme der Postzollfahndung die komplexe Postkontrolle auf die Tagesordnung der Arbeit der Abteilung M. Ihre gewachsene Rolle schlug sich auch darin nieder, dass die Abteilung seit dem Jahre 1982 einem Verantwortungsbereich unterstand, der von Minister Erich Mielke selbst geleitet wurde.
An der Spitze der Abteilung M standen von Anfang an bis zu ihrem Ende im Jahre 1989 vier Offiziere, deren berufliche Laufbahn 1950 bzw. 1951 beim MfS begann. Geprägt wurde die Abteilung M durch Generalmajor Rudi Strobel, der die Abteilung fast 25 Jahre, und zwar von 1965 bis 1989, leitete.
Der Strukturwandel sowie die Ausdehnung und Intensivierung der Postkontrolle zwischen 1950 und 1989 lässt sich auch an der Entwicklung der Mitarbeiterzahl ablesen.
Landesweit 2.200 Postkontrolleure
Die Anzahl der vom MfS eingesetzten Mitarbeiter für die Postkontrolle stieg von einigen Dutzend im Jahre 1950 bis DDR-weit auf knapp 2.200 im Jahre 1989. Bereits 1953 beschäftigten die Abteilung M und ihre nachgeordneten Diensteinheiten 639 Mitarbeiter. Anfang der siebziger Jahre war der Bestand auf über 900 und knapp zehn Jahre später auf über 1.200 Mitarbeiter angestiegen. Der höchste Zuwachs erfolgte von 1983 zu 1984 als Folge der Integration der Postzollfahndung in die Abteilung M.
Außergewöhnlich hoch war der Anteil der Frauen in der Abteilung M. Während das gesamte MfS im Jahre 1989 anteilig knapp 16 Prozent Frauen auswies, so lag die Zahl bei der Abteilung M bei über 20 Prozent.
Die Perfektionierung des Kontroll- und Fahndungssystems verlangte eine fortlaufende Qualifizierung und Spezialisierung der Mitarbeiter. Die Betriebsschule der Bezirksdirektion Berlin der Deutschen Post vermittelte an Mitarbeiter der Abteilung M auch Kenntnisse zum Führen eines Post-Kraftfahrzeuges, im Fernschreibdienst und für die Tätigkeit als Postfacharbeiter. Andere Mitarbeiter legten die Facharbeiterprüfung für Betrieb und Verkehr des Post- und Zeitungswesens ab oder wurden Elektronikfacharbeiter.
Für die Entwicklung und Wartung der in der Abteilung M vorhandenen technischen Einrichtungen und deren Verbesserungen studierten die Mitarbeiter an verschiedenen Fachschulen. In Altenburg wurden Ingenieure für Papiertechnik und in Glauchau Ingenieure für Luft- und Kältetechnik ausgebildet. Die Deutsche Post hatte eine Fachschule in Leipzig, die auch MfS-Mitarbeiter zu Ingenieuren für Post- und Zeitungswesen ausbildete. Weitere Studiengänge wurden an verschiedenen Hochschulen und Universitäten belegt, so in Dresden an der Ingenieurhochschule für Gerätetechnik, an der Humboldt-Universität zu Berlin für Kriminalistik, an der Karl-Marx-Universität Leipzig für Physik, an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst oder am Institut für Zollverwaltung der DDR "Heinrich Rau" in Berlin. Zum Lesen der Post aus dem Ausland erwartete man unter anderem Kenntnisse in Russisch, Englisch, Französisch und ab 1980 auch in Polnisch. Post aus Polen, die über die dortige Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc informierte und Post von Unterstützern aus der DDR nach Polen sollte abgefangen werden.
Intensiv stand auch die Bekämpfung westlicher Geheimdienste auf dem Programm: Es sollten Postverbindungen zu fremden Geheimdiensten aufgedeckt und verhindert werden. Die Grundlage für eine ausgeweitete Fahndung nach geheimdienstlichen Briefsendungen – vor allem aus den NATO-Staaten – bildete ein im März 1989 vom Leiter erarbeitetes Papier unter dem Titel "Aktuelle Erkenntnisse über die Arbeitsweise imperialistischer Geheimdienste im postalischen Verbindungssystem".
Um vermutete Angriffe westlicher Geheimdienste auf das MfS zu verhindern, wurde intensiv nach Materialien gefahndet, die mit der inneren Sicherheit des MfS und anderer bewaffneter Organe der DDR zu tun hatten. Aber nicht nur das MfS sollte "geschützt" werden, sondern auch die führenden Repräsentanten des Staates, vor allem vor Droh- und Sprengstoffbriefen.
Konspirativ in Postämtern eingesetzt
Von den Mitarbeitern der Abteilung M wurde ein hohes Maß an Konspiration und Geheimhaltung besonders gegenüber den Mitarbeitern der Deutschen Post abverlangt. Das führte beispielsweise dazu, dass sie in einer geschlossenen Gruppe in der Kantine zusammen saßen, um möglichst einen direkten Kontakt mit 'normalen' Postmitarbeitern zu umgehen. Offizielle Kontakte zu den Dienststellenleitern des Bahnpostamtes am Ostbahnhof in Ostberlin, das beim MfS als konspiratives Objekt "Cäsar" geführt wurde, bestanden zu den Referats- und Schichtleitern. Zum konspirativen System der Postkontrolle gehörte auch der Einsatz von Offizieren im besonderen Einsatz (OibE).
1989 verstärkte Suche nach Briefpost der Opposition
Die Aufgabenstellung der Abteilung M wurde im Jahre 1989 durch die besonderen politischen Rahmenbedingungen bestimmt, die sich bereits 1988 abzeichneten und im Jahre 1989 eine neue Dimension erlangten. Außenpolitisch gab die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow im Frühjahr 1988 endgültig die Breshnew-Doktrin preis. Sie proklamierte das "unverzichtbare Recht" jedes sozialistischen Staates, "eine selbstständige Wahl der Wege der gesellschaftlichen Entwicklung zu treffen". Ein Jahr später nutzten die polnischen und ungarischen Kommunisten dieses Angebot. In Polen wurde die einst unterdrückte Bewegung "Solidarnosc" legalisiert, und die ungarische politische Führung begann mit dem Abbau des "Eisernen Vorhanges" an der ungarisch-österreichischen Grenze. In der DDR erreichte 1988 die Flucht- und Ausreisebewegung einen neuen Höhepunkt und die Opposition zeigte sich zunehmend couragierter.
Der Arbeitsplan der Abteilung M für das Jahr 1989 spiegelt diese Entwicklung wider. Vornehmlich wurde er ausgerichtet auf die Bekämpfung und das Abfangen von Materialien der "politisch-ideologischen Diversion" (PID), was unter anderem mit den aktuellen "Ereignissen in der Sowjetunion und einigen anderen sozialistischen Staaten" begründet wurde, auf Erscheinungen der politischen Untergrundtätigkeit (PUT) und deren hauptsächlichen "Exponenten", also auf die Oppositionsszene und deren Wortführern sowie auf die Flucht- und Ausreisebewegung.
In diesem Zusammenhang galt ein besonderes Augenmerk der Abteilung M galt den so genannten "legalen Basen des Feindes". Als solche wurden zum Beispiel westliche Botschaften und Konsulate, aber auch Pressebüros der in der DDR akkreditierten westlichen Korrespondenten, vor allem aus den NATO-Staaten, bezeichnet. Durch die Postkontrolle dieser Einrichtungen sollten eventuelle "feindliche Aktivitäten" gegenüber der DDR aufgedeckt und werden. Dazu zählten zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich das Abschöpfen von Informationen über die politische und ökonomische Lage in der DDR, die Inspiration von Flucht und Übersiedlung sowie die Verhinderung öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten, die aus Sicht der Stasi gegen die DDR gerichtet waren.
Angestrebte Öffnungsrate von 90 Prozent der Inlandspost
Für den Fall des Verteidigungszustandes sah eine Instruktion der Abteilung M vor, dass die Nationale Volksarmee die so genannte Feldpost übernehmen und sie ohne Konspiration, also offiziell, kontrollieren sollte. Zentrale Feldpostsammelstellen waren in Neubrandenburg, Ludwigsfelde, Halle und Dresden vorgesehen.
Schließlich verlangte die Aufgabenstellung, dass die technischen Untersuchungsmethoden der Postkontrolle weiter verbessert werden. Es war vorgesehen, durch die Automatisierung der Heißdampföffnung eine Öffnungsrate von 90 Prozent der Postsendungen "Inland" und "Abgang" und von 50 bis 60 Prozent aller Post der Verkehrsrichtung "Eingang" zu erreichen. Ein konsequenter Grundrechtsbruch. Denn auch die Verfassung der DDR garantierte ihren Bürgern in Artikel 31 eigentlich: "Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzbar."
Zur angestrebten Perfektionierung kam es aber nicht mehr. In der Berliner Stasi-Zentrale hält am 31. Januar 1990 ein Protokoll fest, wie das Dienstgebäude in der Gotlindestraße, Haus 47 durch 17 ständige Mitarbeiter und 10 Helfer "vom Keller bis einschließlich 10. Etage" aufzulösen sei. Schwerpunkt sei der "Speicher M" mit rund "15 Tonnen Karteikarten und einliegender Fotonegative" und zwei Tonnen weiteres VS-Schriftgut. Dabei ging es auch um Spurenvernichtung. Am 31. März 1990 wurde eine Abschluss-Bilanz erstellt. Sie erwähnt neben 100 eingelagerten Karteischränken und etlichen Papierbündeln unter anderem "583 Papiersäcke zerrissenes Schriftgut zum Verbrennen" und "1830 Papiersäcke vernichtetes Schriftgut zum Verkollern", die im Haus 7 "konzentriert abgelagert" wurden. Allein im Berliner Raum seien zuvor 509 Mitarbeiter in der Abteilung M eingesetzt gewesen, außerdem 44 IM, mit denen Treffs in elf konspirativen Wohnungen stattgefunden hätten.
Bereits am 8. November 1989 hatte die Abteilung ihre konspirativen Objekte namens "Anton" im Bahnpostamt am Nordbahnhof und "Cäsar" im Bahnpostamt in der Straße der Pariser Kommune 88/10 an die Bezirksdirektion der Deutschen Post übergeben, außerdem wurde eine konspirative Wohnung "Heller" im Binnenzollamt und "Dora" im Diplomatenzollamt aufgelöst. Auch Diplomaten waren demzufolge vor den Postkontrolleuren nicht sicher - angeblich zu deren "Schutz".
Regelmäßig ausgetauscht wurde sich mit entsprechenden Abteilungen für Postkontrolle der "Bruderorgane", sei es in der Tschechoslowakei, Polen oder der Sowjetunion. Bei diesen Treffen wurden nicht nur neue technische Methoden zur heimlichen Brieföffnung und Auswertung erörtert, sondern auch Adressen und beschlagnahmte Post ausgetauscht. So interessierte sich die Stasi für Briefe, die DDR-Bürger extra in der CSSR einwarfen oder einwerfen ließen, um Verwandte in der Bundesrepublik zu erreichen. Absender und Empfänger hofften auf diese Weise, die Stasi-Postkontrolle zu umgehen. Ein Irrtum, insbesondere Auslandspost wurde auch dort lückenlos überwacht.
Die deutsch-polnische Historikerin Hanna Labrenz-Weiss ist Verfasserin des Externer Link: BStU-Handbuchs Abteilung M (Postkontrolle) Berlin 2005 (MfS-Handbuch, III/19).