War der Sturm auf die Stasi am 15. Januar wirklich ein Erfolg der Bürgerbewegung? Nein, sagt der Historiker Klaus Bästlein, ein Erfolg der SED und ihrer Geheimpolizei.
Gemeinhin heißt es über den 15. Januar 1990, Bürger hätten die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße "gestürmt", die Akten-Vernichtung gestoppt und die Auflösung der SED-Geheimpolizei herbeigeführt. Doch der 15. Januar 1990 war vor allem ein Erfolg der SED und ihrer Staatssicherheit. Denn beide konnten sich die letztendliche Kontrolle über die Stasi-Zentrale sichern und 1990 mehr Unterlagen vernichten als im Herbst 1989 - trotz anwesender Bürgerrechtsvertreter. Stasi-Seilschaften spielten auch in der 1990 geschaffenen Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen eine wichtige Rolle. Die Folgen sind bis heute spürbar.
Stasi-Auflösung und Akten-Vernichtung bis Januar 1990
Ende Oktober 1989 befahl Stasi-Chef Erich Mielke die Vernichtung von Unterlagen der Stasi-Kreisdienststellen. Es folgten zahlreiche weitere Vernichtungs-Anweisungen. Als aber die Reißwölfe der Stasi versagten, weil sie heiß liefen, wurden die Unterlagen mit den Händen zerrissen. Der Zentrale Runde Tisch beschloss schon bei der ersten Sitzung am 7. Dezember 1989, die Stasi aufzulösen. Nur Rechtsanwalt Gregor Gysi, der die SED vertrat, warb noch ganz offen für "notwendige Dienste im Sicherheitsbereich".
Wegen der fortschreitenden Vernichtungsaktionen wurden die Stasi-Bezirksdienststellen ab 4. Dezember 1989 von der DDR-Opposition besetzt. SED und Stasi sah darin eine Chance. Sie propagierten nun "Sicherheitspartnerschaften" von Bürgern, Volkspolizei und Staatsanwälten. Es bildeten sich "Bürgerkomitees". Doch auch dort konnte die Stasi ihre Leute platzieren. Für eine echte Kontrolle waren die Komitees zu schwach. Wenn Bürger zur Arbeit oder nach Hause mussten, ging die Vernichtung weiter.
Der damals amtierende Ministerpräsident Hans Modrow teilte daraufhin am 14. Dezember 1989 die Bildung eines "Verfassungsschutzes" und eines "Nachrichtendienstes der DDR" mit. Der zentrale Runde Tisch hielt dagegen. Martin Gutzeit (SDP/SPD) erklärte, "dass eine Schlange immer wieder ihre Haut wechselt, aber das Tier das darunter ist, immer das gleiche bleibt." Am 8. Januar 1990 folgte ein Eklat. Der zuständige Staatssekretär und der Regierungsbeauftragte konnten Fragen zur Stasi nicht beantworten. Der Runde Tisch verlangte das Erscheinen Modrows, der auch zur nächsten Sitzung erschien, wohlvorbereitet mit Hilfe der Stasi.
Die Besetzung der Normannenstraße am 15. Januar 1990
Das Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) als Nachfolgeinstitution des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in der Berliner Normannenstraße setzte derweil seine Tätigkeit unkontrolliert fort. Akten, Karteien und Datenträger wurden systematisch vernichtet, trotz offiziell anderer Befehle. Die Situation war unhaltbar. Das Neue Forum rief für den 15. Januar 1990 zu einer Demonstration vor der Stasi-Zentrale auf. Modrow-Regierung und Stasi-Generalität sahen die Chance, den Runden Tisch mit seinen Bemühungen zur Stasi-Auflösung ins Leere laufen zu lassen. Ein Täuschungsmanöver hob an.
Die Volkspolizei hatte im Dezember 1989 die Außensicherung der Stasi-Zentrale übernommen. Die Entwaffnung der Stasi-Mitarbeiter war Anfang Januar 1990 erfolgt. Zum Objektkommandanten der Stasi-Zentrale war Volkspolizei (VP)-Major Rögner ernannt worden. In Hinblick auf die angemeldete Demonstration am 15. Januar 1990 verfügte er über insgesamt 250 Mann – eine Kompanie Bereitschaftspolizei, eine Kompanie Offiziersschüler der Polizei-Hochschule und drei Züge Schutzpolizei.
Angehörige von "Bürgerkomitees" wurden zum 15. Januar 1990 nach Berlin eingeladen – integre Personen und andere, unbekanntere. Sie trafen sich um 13.45 Uhr in der Stasi-Zentrale und hielten eine Beratung ab. Um jede Konfrontation zu vermeiden, sollten die Stasi-Mitarbeiter bis 15.00 Uhr den Komplex verlassen. Das kontrollierten "Bürgerkomitees" und Volkspolizei. Gegen 16.45 Uhr versammelten sich über 10.000 Demonstranten vor dem MfS.
Gegen 17.00 Uhr wurde in der Ruschestraße rhythmisch gegen das Tor gedrückt. Die Volkspolizei war machtlos. Gegen 17.20 Uhr war das Tor ohne Gefahr für Leib und Leben der Demonstranten nicht länger geschlossen zu halten. Die Situation glich der des 9. November 1989 am Grenzübergang Bornholmer Straße. Nach Rücksprache mit dem katholischen Interner Link: Pfarrer Martin Montag vom "Bürgerkomitee der Bezirke" ließ Objektkommandant VP-Major Rögner das Tor von innen öffnen. Unklar ist nur, ob dies durch über das Tor gekletterten Demonstranten oder die Volkspolizei erfolgte.
Die Menge zog zum beleuchteten Versorgungstrakt. Es kam zu eher geringfügigen Beschädigungen, die allerdings in den parteinahen Medien der DDR am Folgetag und in der Fernsehsendung "Aktuelle Kamera" dramatisiert wurden. Stasi-Mitarbeiter aus der Abteilung Rückwärtige Dienste verfassten am 16.1.1990 sogar eine "Protestresolution" und verurteilten "aufs Schärfste die Ausschreitungen", verknüpft mit durchschaubaren Fragestellungen wie: "Welches Gebäude wird als nächstes gestürmt und demoliert?" oder "Wer gewährleistet vorbeugend staatliche Sicherheit"? (Quelle BStU, MfS, VRD 8753, S.2). Dabei war am Vorabend so viel gar nicht passiert. Westwaren im Supermarkt wurden inspiziert, Büros der Poststelle durchwühlt, einige Räume der sensiblen Abteilung II (Spionageabwehr) wurden aufgebrochen; dort war aber nichts mehr zu holen. Ein Aushang an den Türen zur HVA "Auslandnachrichtendienst der DDR – Betreten verboten!" wurde respektiert. Wer durch den Keller dorthin gelangte, den stoppten HVA-Mitarbeiter. Gegen 19.00 Uhr trafen Politiker vom Zentralen Runden Tisch ein und sprachen zur Menge, darunter auch die prominente Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Gegen 20.00 Uhr zogen die meisten Menschen wieder ab.
Zur Bedeutung der Ereignisse am 15. Januar 1990
SED und Stasi hatten am 15. Januar 1990 ihr wichtigstes Ziel erreicht: Fortan konnten sie behaupten, auch das Ministerium werde in "Sicherheitspartnerschaft" von Staatsanwaltschaft, Volkspolizei und "Bürgerkomitee" bewacht. Der Zentrale Runde Tisch wollte die Stasi-Zentrale durch unabhängige Juristen und ausgewiesene Oppositionelle kontrollieren. Das war nun nicht mehr möglich. Die DDR-Opposition hatte sich erneut als politisch wenig handlungsfähig erweisen: Klare Konzepte fehlten.
Das Stasi-Gelände hätte nämlich dauerhaft besetzt und kontrolliert werden müssen. Die Bewachung des riesigen Areals übernahm nun ein Zug Bereitschaftspolizei mit 21 Mann. Im Drei-Schicht-System waren also sieben Polizisten vor Ort. In dem Komplex arbeiteten aber noch Tausende von Stasi-Kadern. Sie konnten weiter ungehindert kommen und gehen. Selbst ein- und ausfahrende LKW wurden nur sporadisch untersucht.
Regierungsbeauftragter für die Stasi-Auflösung wurde am 18. Januar 1990 ein früherer NVA-Generaloberst. Hinzu kam am 8. Februar 1990 das "Staatliche Komitee zur Auflösung", das ein langjähriger IM leitete. Das Komitee zählte bald 261 Mitarbeiter, darunter viele hauptamtliche Stasi-Angehörige. Es beschäftigte zudem bis zu 700 frühere Stasi-Mitarbeiter. Daneben agierte das "Bürgerkomitee", dem IMs angehörten, und die AG Sicherheit des Zentralen Runden Tisches; auch ihr gehörten IMs an.
Die Stasi war also überall dabei. Ihre Generäle Edgar Braun, Heinz Engelhardt, Gerhard Neiber und Günther Möller residierten im Haus 49 auf dem Gelände und erteilten täglich Weisungen. Im Zentralarchiv waren 86 Personen tätig: 78 Stasi-Kader und acht Angehörige der Staatlichen Archivverwaltung, einer Stütze des SED-Regimes. Die Historiker Armin Mitter und Stephan Wolle durften dort nicht forschen, setzten die SED-nahen Kader durch. Nur Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft der DDR entnahmen laufend Akten – unkontrolliert.
Auch Akten zu Einzelfällen verschwanden. Das galt etwa für 30 bis 40 Bände zu Ibrahim Böhme, dem ersten SPD-Fraktionschef in der Volkskammer. Es galt aber auch für Gregor Gysi (SED/PDS/ Linke), Lothar de Maiziere (CDU) und Manfred Stolpe (SPD). Mit Zustimmung des "Bürgerkomitees" lief seit Februar 1990 sogar der "Verkollerungsanlage" genannte Feuchtschredder wieder. Allein 100 LKW-Ladungen Tonbänder und Abschriften davon verließen die Stasi-Zentrale.
Die Folgen des 15. Januar 1990
Zum Streit kam es über die Zerstörung der elektronischen Datenträger, die Angaben zu sechs Millionen Menschen enthielten. Dazu hieß es: "Das sind alles nur Duplikate, die hier erfasst sind." Das war falsch, was aber nur wenige durchschauten. So billigte der Zentrale Runde Tisch am 19. Februar 1990 die Vernichtung. Martin Gutzeit, Konrad Weiß und Margitta Hintze versuchten noch, vor der Vernichtung einen Ausdruck aller Daten durchzusetzen. Doch das scheiterte nach weiteren Lügen von Stasi-Mitarbeitern.
Noch dreister war das Vorgehen in der HVA. Sie ließ es erst gar nicht zu einer Diskussion am Zentralen Runden Tisch kommen. Vielmehr wurde am 23. Februar 1990 ein harmlos anmutender Beschluss der AG Sicherheit herbeigeführt. Da hieß es, dass der Personalbestand der HVA bis zum 15. März auf 250 Mann reduziert werde und ein Umzug erfolge. So legendierte die HVA die Vernichtung ihrer Akten. Bis heute deuten Historiker der Bundesbehörde den Umzugs- zum Vernichtungsbeschluss um.
Der "Koordinator" des Bürgerkomitees, Interner Link: David Gill, ermöglichte mit seiner Unterschrift als Vertreter des Bürgerkomitees Vernichtungen im großen Stil, ob aus eigenem Antrieb, Unwissenheit oder anderweitigem Druck sei dahingestellt. So zeichnete er die "sofortige Vernichtung … der Gesamtregistratur der Kartei F 16" ab. Das war die letzte Kopie der so genannten Rosenholz-Kartei, dem wichtigsten Findmittel zur HVA. Die CIA hatte eine ältere Kopie, die sie der Bundesrepublik 2003 "bereinigt" zurückgab. Gill gestattete die Vernichtung der letzten aktuellen Version. Das geschah zehn Tage nach der Wahl der Volkskammer. Hätte dies also nicht allein das Parlament entscheiden müssen?
"Sturm auf die Stasi"? – Von der Aktualität einer Legende
Der erste Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen stütze sich nach dem 3. Oktober 1990 auf über 100 Stasi-Mitarbeiter. Sie bildeten den Kern der neuen Behörde. Darunter waren sogar Spezialisten zur "Zersetzung" von Oppositionellen wie die Stasi-Offiziere Gerd Bäcker und Bernd Hopfer. Joachim Gauck übertrug ihnen sogar die Überprüfung politisch sensibler Fälle. Seine Nachfolgerin unterschrieb später sogar eine Traueranzeige für Hopfer.
Manche meinen, Gauck sei mit seinen Stasi-Leuten "in eine selber gestellte Falle gelaufen". Denn die Niederlagen, die er mit seinen Gutachten in den Fällen de Maiziere, Stolpe und Gysi erlitt, gingen auf die Bewertungen "der Schnüffelhunde Mielkes" zurück, also von Bäcker und Hopfer. "Gegen de Maiziere, Stolpe und Gysi (gab es) nur den gut untermauerten, den fast sicheren Verdacht." Gauck hätte sie nicht nach Stasi-Kriterien, sondern davon unabhängig bewerten sollen, wie es 1998 der Bundestag bei Gysi tat.
DDR-Oppositionelle und kritische Historiker hatten in der Gauck-Behörde keine Chance. Vielmehr wurden 1990/91 mindestens 400 Mitarbeiter aus den DDR-Ministerien, die zu den treuen SED-Kadern zählten, übernommen. Etwa ein Viertel der angeblichen "Aufarbeiter" in der Bundesbehörde waren damit Repräsentanten des SED-Regimes. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz bemerkte noch 2011: "In dieser Behörde (der Bundesbeauftragten) ist der Geist der DDR-Bürokratie konserviert".
1991 entstand ein Stasi-Unterlagen-Gesetz, das als Geheimdienstgesetz zu qualifizieren ist und auch so gehandhabt wird. Die Akteneinsicht erfolgt wie beim BND: Es wird nur vorgelegt, was die Behörde freigibt. Die dazu ergangenen behördeninternen Regularien sind so umfangreich und widersprüchlich, dass aus meiner Sicht blanke Willkür herrscht. Manche Entscheidung erweckt den Anschein, als wird Zensur aus politischen Gründen oder wegen fachlicher Inkompetenz geübt. Damit behindert die Bundesbehörde viele Forschungsarbeiten oder macht sie ganz unmöglich.
Bei der Aktenerschließung ist es zu schweren Fehlern und Versäumnissen gekommen. Große Bestände sind bis heute nicht erschlossen, was nach mehr als 25 Jahren skandalös ist. Fast jede Außenstelle hat lange Zeit ein eigenes System zur Verzeichnung der Akten geführt. Es fehlen Findhilfsmittel nach dem Provenienzprinzip. Anfragen werden mit Hilfe von Datenbanken beantwortet, die sich laufend ändern. Das stellt auch die Validität der bisherigen Stasi-Forschung in Frage. Die Problematik wird ignoriert. Gerade im Archiv der Bundesbehörde, das ja ihr Kernbereich ist, fehlt es aus Sicht von Wissenschaftlern nach wie vor an Professionalität.
Heute sind noch 111 Kilometer Stasi-Akten vorhanden – etwas mehr als die Hälfte des ursprünglichen Bestandes. Die genauen Verluste verschweigt die Bundesbehörde, es mag allerdings auch nicht einfach sein, sie exakt zu quantifizieren. Doch ihre Leistungen stehen im krassen Gegensatz zum enormen personellen und sachlichen Aufwand. Ein Drittel der rund 1.600 Behörden-Mitarbeiter ist mit Verwaltungs- und Sicherungsaufgaben befasst. Mythen von der Behörde "als Kind der Friedlichen Revolution" werden gepflegt. Den Anfang dieser Legendierung machte aus meiner Sicht der unverdient heroisierte 15. Januar 1990.
Merkwürdigkeiten
War der Sturm auf die Stasi stasigesteuert? Auch ein Feature des Deutschlandradios vom 14.1.2010 weist auf Merkwürdigkeiten im Lauf des 15. Januars 1990 hin: Externer Link: "Es geschah in Berlin". Der Historiker Christian Booß wiederum beschreibt einen Bürgererfolg, wenn auch Interner Link: "ohne Masterplan". David Gill, der erste Sprecher des Berliner Bürgerkomitees, schildert Interner Link: eine dritte Perspektive - die von Macht und Ohnmacht der Bürgerkomitees zugleich.
Der Jurist und Historiker Klaus Bästlein war bis 2019 Referent für die politisch-historische Aufarbeitung des Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin. Er ist Autor zahlreicher Fachaufsätze zum Thema Stasi-Auflösung, auch bei der bpb.
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