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Populäre Irrtümer rund um die Reformation | Reformation: Luthers Thesen und die Folgen | bpb.de

Reformation: Luthers Thesen und die Folgen Ideen- und mentalitätsgeschichtliche Voraussetzungen Frömmigkeit um 1500 Kirche im ausgehenden Mittelalter Luthers Kernanliegen Stationen der deutschen Reformationsgeschichte Schlaglicht 1517: der sogenannte Thesenanschlag Schlaglicht 1521: Luther und Karl V. in Worms Schlaglicht 1526: Impuls fürs landesherrliche Kirchenregiment Schlaglicht 1529: die "Protestation" Schlaglicht 1530: die "Confessio Augustana" Schlaglicht 1546: der erste deutsche Konfessionskrieg Schlaglicht 1555: der Erste Religionsfrieden Wie funktionierte das Alte Reich? Ausblicke: Wirkungen und Fernwirkungen der Reformation Es gibt nicht "den" Protestantismus Konfession und Kultur Konfession und Landespolitik Konfession und Reichspolitik Deutschlands großer Konfessionskrieg Exkurs: Johannes Kepler, oder: wie die Zeitumstände einen Lebenslauf prägen Populäre Irrtümer rund um die Reformation Ausgewählte Literatur Redaktion

Populäre Irrtümer rund um die Reformation

Axel Gotthard

/ 7 Minuten zu lesen

War die Reformation eine Bewegung für Glaubens- und Meinungsfreiheit? Hat Luther die Bibel als erster ins Deutsche übersetzt? Und förderte die Reformation den "kapitalistischen Erwerbsgeist"?

Luther-Bibel aus dem Jahr 1534, zu sehen am 26.10.2016 in der St. Gertraud-Kirche in Frankfurt (Oder). (© picture-alliance, ZB)

Nein, "ein Thesenanschlag fand nicht statt" (Volker Leppin) – ziemlich sicher nicht am 31. Oktober 1517, sehr wahrscheinlich hat nie Martin Luther persönlich gehämmert oder geheftet, vermutlich wurden die Thesen überhaupt nie ausgehängt. Und "hier stehe ich, ich kann nicht anders"? Das ist immerhin gut erfunden (vgl. Interner Link: Schlaglicht 1517 und Interner Link: Schlaglicht 1521). Es nimmt einem historischen Ereignis wenig von seinem Rang, wenn es Mythen und Legenden umranken – vielleicht im Gegenteil! Mit der von Martin Luther angestoßenen Reformation sind eine Reihe volkstümlicher Vorstellungen verknüpft, deren Stichhaltigkeit wir im Folgenden prüfen wollen:

Martin Luther hat als erster die Bibel ins Deutsche übersetzt?

Falsch! Leihen wir uns die Worte von einem der besten Kenner des späten Mittelalters, Ernst Schubert: "Im 14. Jahrhundert begannen an die Stelle der älteren Bibeldichtungen Übersetzungen zu treten ... In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wird dann die gewerbsmäßige Anfertigung von verdeutschten Bibelhandschriften faßbar." Bald kamen gedruckte Übersetzungen hinzu, bereits 1466 erschien der erste deutschsprachige Bibeldruck. Insgesamt sind für die Jahre zwischen 1466 und 1522 allein 22 Gesamtausgaben der Bibel in deutscher Übersetzung belegt, noch verbreiteter waren Teildrucke, etwa des Neuen Testaments. Einer der führenden Schriftsteller und Gelehrten des ausgehenden Mittelalters, Sebastian Brant, seufzte: "All landt syndt yetz voll heyliger geschrifft." Freilich stellte der Verkaufserfolg von Luthers Bibelübersetzungen rasch den aller anderen in den Schatten, und die sprachschöpferische Kraft des Reformators überstieg die seiner Vorgänger weit.

Martin Luther ist der Schöpfer der neuhochdeutschen Schriftsprache?

Mehr falsch als richtig! Schon seit dem ausgehenden Mittelalter setzte sich, freilich zögerlich, eine überall wenigstens von den Eliten verstandene deutsche Schriftsprache durch. Wir dürfen es als Indikator für die Intensivierung der schriftlichen Kommunikation, besonders auf dem Gebiet der sich ungemein professionalisierenden Politik nehmen, doch sind alle sprachgeschichtlichen Einzelheiten sehr umstritten. Es gibt keinen Erfinder, nicht den einen Sprachschöpfer, den großen Vereinheitlicher; die Ratskanzleien von Eger und insbesondere Nürnberg scheinen stilbildend gewirkt zu haben, noch deutlicher ist die offenbar wichtige Rolle der Kanzlei Kaiser Friedrichs III. (1440-93). Die im Bairischen, Ostfränkischen und Ostmitteldeutschen üblichen Schreibsprachen näherten sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts merklich einander an, offenbar unter der Dominanz südlicher Einflüsse.

Die früher gern in diesem Zusammenhang genannte Bibelübersetzung Martin Luthers hat für solche Ausgleichs- und Vereinheitlichungsprozesse keine Rolle mehr gespielt, wohl aber, neben anderen Bestsellern dieses frühen Erfolgsautors, zur Popularisierung des sprachgeschichtlichen Ergebnisses und damit auch zu einer Überwindung des im ausgehenden Mittelalter breit klaffenden Spalts zwischen Nieder- und Hochdeutsch beigetragen. Der niederdeutsche Sprachraum, zuletzt unter lübischer Dominanz an sich geschlossener als der mittel- und oberdeutsche, wechselte im ersten neuzeitlichen Jahrhundert schreibsprachlich zum Hochdeutschen. Die Reformation gehört zum Ursachenbündel, wichtig waren sicher auch die Schreibusancen der Reichskanzlei, und der wirtschaftliche Niedergang der Hanse zeichnete sich früher ab als der der oberdeutschen Handelsmetropolen. Die ostmitteldeutsche und oberdeutsche, obersächsische und bairische Elemente verbindende Sprache Luthers galt schon für viele Zeitgenossen als vorbildlich.

Doch blieb die individuelle und landschaftliche Variationsbreite beträchtlich. Endlich eine allgemeinverbindliche deutsche Literatursprache zu schaffen: dieses Anliegen wird noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts den bedeutenden Sprach- und Literaturkritiker Johann Christoph Gottsched ("Sprachkunst", 1748) umtreiben. Gesprochen haben die allermeisten Menschen sowieso weiterhin Dialekt; ein schwäbischer oder fränkischer Bauer des späten 17., noch des 18. Jahrhunderts, den eine Streitsache des Kammergerichts wegen nach Wetzlar führte, stieß dort mit seinem vermeintlichen Gestammel auf blankes Unverständnis.

Die Reformation war eine Bewegung für Glaubens-, gar Meinungsfreiheit?

Falsch! Schon in den Augen vieler Aufklärer, vollends für den Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts, war die Reformation eine einzige große Freiheitsbewegung, und allemal, so eine unerschütterliche innerevangelische Gewissheit, hätten die Protagonisten der Reformation für Glaubensfreiheit gekämpft. Selbstverständlich sei auch das Auswanderungsrecht des Augsburger Religionsfriedens eine evangelische Errungenschaft. Tatsächlich taucht das "Ius emigrandi" zum ersten Mal in einem katholischen Textentwurf auf, es war am Reichstag von 1555 nie strittig.

Wie intensiv die Obrigkeiten des Konfessionellen Zeitalters von ihrem "Ius reformandi" Gebrauch machten, wie viele Andersgläubige also gehen mussten, ist angesichts des unbefriedigenden Forschungsstands (die Reformationsepoche hat bis vor kurzem ungleich mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit genossen als das sich anschließende Konfessionelle Zeitalter) flächendeckend noch nicht zu bilanzieren. Aber davon, dass die Untertanen evangelischer Obrigkeiten so "frei" gewesen wären, katholischen Kultus zu praktizieren, kann offenkundig keine Rede sein. Auch für evangelische Fürsten gab es nur einen wahren, also legitimen Glauben. Erst im 18. Jahrhundert wird die Ansicht an Boden gewinnen, auch andere Weltanschauung könne Teilwahrheiten enthalten, ja, womöglich könne der Mensch überhaupt nur Teilwahrheiten erhaschen. Versuche der Obrigkeiten, mit Hilfe der Kirche Zugriff auf Gehirne und Herzen der Untertanen zu gewinnen (manche Historiker nennen es "Sozialdisziplinierung"), bauten in evangelischen Territorien mit ihrem landesherrlichen Kirchenregiment gewiss nicht weniger Konformitätsdruck auf als in katholischen. Ob die Ablehnung des kirchlichen Lehramts und gemeinschaftsstiftender Massenereignisse (Prozessionen, Wallfahrten) durch Luther langfristig(!), der Moderne zu, doch Individualisierungsprozesse angestoßen hat? Darüber nachzudenken könnte lohnen.

Dass im Zuge der Reformation zahlreiche Klöster aufgehoben wurden, hat die Gesellschaft modernisiert?

Falsch! Klöster hatten in der vormodernen Gesellschaft viele Funktionen, so waren sie abseits der großen Städte oft die einzigen Auftraggeber für anspruchsvolle Bauten und Kunstwerke sowie Bildungszentren. Für viele Landstriche sind deshalb reagrarisierende Effekte des großen Klostersterbens der Reformationszeit plausibler als modernisierende: Sie büßten einen bereits erreichten Stand gewerblicher Differenzierung und kulturellen Reichtums wieder ein. Intensiv hat besagtes Klostersterben zuletzt die Gender Studies beschäftigt. Trug "die reformatorische Polemik gegen das weibliche Religiosentum wesentlich dazu bei, die legitimen Möglichkeiten weiblicher Lebensgestaltung auf die Rolle als Ehefrau und Mutter" einzuschränken (Antje Rüttgardt)? Oder, auf Volkshochschulniveau: "Vom Kloster in die Küche"? Das setzt natürlich voraus, in Klöstern nicht mehr Versorgungsanstalten zu sehen, sondern Horte weiblicher Autonomie und freier Bildung: eine erstaunliche Umwertung, angesichts der meist strengen Klausurvorschriften übrigens eine Romantisierung, die ungefähr so einseitig ist wie das schiefe Verdikt von der bequemen Versorgungsanstalt. Dennoch ist sehr wahrscheinlich, dass viele der damaligen Frauen den Untergang ihres Klosters gar nicht als Befreiung empfunden haben.

Die Reformation hat "kapitalistischen Erwerbsgeist" befördert?

Jein! "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus": so ist eine Studie überschrieben, die der Pionier der Soziologie, Max Weber, 1905 veröffentlicht hat. Luther hatte er nicht primär im Blick, es sei "die vom Kalvinismus geprägte Lebensführung", die entscheidend zur Ausbildung eines asketischen Habitus, zur Entwicklung der modernen Wirtschaftsgesinnung und damit des Kapitalismus beigetragen habe. Das wird seither oft behauptet, scheint auch triftig zu sein, besonders wegen der calvinistischen "Prädestinationslehre": Weil Gott alle irdische Wirklichkeit vor dem Anfang der Zeit geschaffen und vollkommen gekannt, mithin schon immer gewusst habe, was aus allem einmal würde und erwüchse, stehe auch schon immer fest, welche Menschen für das Heil vorgesehen, "prädestiniert" seien und welche verworfen. Zu einem Kernstück "calvinistischen" Glaubens wurde die "Prädestinationslehre" erst nach Calvins Tod, und es verbreitete sich nun die alsbald so typische, aber gegenüber Calvins eigenen Anschauungen doch vergröbernde, veräußerlichende Auffassung, man könne Erwähltheit oder Verdammnis eines Menschen zuverlässig seinem Wohlstand ablesen. Nehmen wir die Genussfeindlichkeit, das unerbittliche Pflichtethos Calvins hinzu, könnte das ja in der Tat eine Manie befördert haben, Gewinne erst zu akkumulieren und dann, anstatt sie gemütlich zu verkonsumieren, ungeschmälert in neue, noch profitablere Unternehmungen zu investieren, um seiner Erwähltheit nur immer gewisser sein zu können.

Plausibel mutet das schon an. Alle evangelischen Bewegungen kehrten sich ja von der "contemplatio" ab, damit von jener dem Mittelalter noch selbstverständlichen Arbeitsteilung, wonach die einen das Bruttosozialprodukt mehren, die anderen, etwa im Kloster, beten, auch für diejenigen, die ihre tägliche Mühsal von rechter Kontemplation abhält. Für den einstigen Mönch Luther verfielen Mönche schlimmster "Werkgerechtigkeit". Hingegen kämen "ein frum magt, so sie ... nach yhrem ampt den hoff keret oder mist außtregt, oder eyn knecht ynn gleycher meynung pflugt ... stracks tzu gen hymel ..., dieweyll ein ander, der ... seyn ampt und werck ligen lestt, stracks tzu tzur hellen geht". Alle Reformatoren predigten ein hohes Arbeits- und Leistungsethos (übrigens kannte die katholisch bleibende Welt ja auch viel mehr arbeitsfreie, sprich Feiertage). Arbeit wurde zum vornehmsten Lebenszweck, im Grunde zu Gottesdienst – nur ein arbeitsreiches Leben sei ein erfülltes und gottgefälliges. Die Überzeugung, Gottes Gnade zeige sich (modern formuliert) im "Lebenserfolg" und zumal in materiellen Gütern: Jene Facette käme so gesehen als calvinistische Spezialität nur noch hinzu.

Freilich, stringent empirisch belegen lassen sich solche Thesen eben nicht. War denn, beispielsweise, die Handelsrepublik Venedig ökonomisch rückständig, war es der Jesuitenstaat in Südamerika? Als viele Augsburger der neuen Glaubenslehre der Wittenberger zuströmten, blieb ausgerechnet der Großunternehmer und Chef des größten Bankhauses seiner Zeit, Jakob Fugger, katholisch. Andererseits kann man nicht leugnen, dass die von Fürstbischöfen regierten geistlichen Territorien (eine deutsche Spezialität) des Reiches mehr durch kulturellen Reichtum glänzten als durch starke innovative Ökonomien. Indes, erneutes Aber: waren denn die durch und durch evangelischen Reichsstädte im 17. oder 18. Jahrhundert Heimstätten ökonomischen Fortschritts? In der Summe wird man das Gegenteil attestieren. Und gilt, um noch einen Ausblick in die Gegenwart anzuschließen, in den heutigen USA mit ihren kräftigen puritanischen Wurzeln, dass, wer geschäftlich scheitert und Bankrott macht, als Sünder verabscheut und ausgegrenzt wird? Ist man dort nicht im Gegenteil auffallend bereit, die zweite und dritte Chance, also Neuanfänge zuzubilligen und zu fördern? Wir kommen über gewisse Plausibilitäten nicht hinaus, die Max-Weber-These wird sich nie 'beweisen' lassen.

Prof. Dr. Axel Gotthard ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören Historische Friedens- und Konfliktforschung, vormoderne Verräumlichungspraktiken, die Bedeutung der Konfession und von Säkularisierungsprozessen für die europäische Geschichte und die politische, Kultur- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen, u.a. "Das Alte Reich 1495-1806, Darmstadt 2003", "Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004", "Der liebe vnd werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2014"; zuletzt erschien (September 2016) "Der Dreißigjährige Krieg. Eine Einführung."