Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der bpb-Publikation Auf Zeit. Für immer., Oktober 2011.
Salih Güldiken, heute 74, hat in Istanbul als Elektriker in einem kleinen Unternehmen gearbeitet, bevor er 1962 nach Köln kam. In Deutschland wollte er eigentlich nur so lange bleiben, bis er genug Geld verdient hatte, um dort ein Auto zu kaufen. Das konnte er für seine Arbeit in Istanbul gut gebrauchen. Knapp fünf Jahrzehnte später – mit Stationen am Fließband, als Dolmetscher und schließlich als Betriebs- und Aufsichtsrat bei Ford – ist Salih Güldiken immer noch in Köln. Den Ford-Werken ist er, bis er vor elf Jahren in Rente ging, treu geblieben, in guten wie in schlechten Zeiten.
Am Freitag, dem 24. August 1973, legen 10.000 Arbeiterinnen und Arbeiter im Betrieb der Ford-Werke AG in Köln-Niehl die Arbeit nieder; die meisten sind Gastarbeiter aus der Türkei. Als "Türken-Streik" wird die Aktion in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingehen. Salih Güldiken, elf Jahre zuvor über das Anwerbeverfahren aus Istanbul zu Ford nach Köln gekommen, ist wenige Wochen vor dem Streik in den Betriebsrat gewählt worden.
"Zwei Nächte habe ich auf einem Stuhl in meinem Büro übernachtet, zusammen mit einem deutschen Kollegen. Von den anderen ist auch kaum einer mehr nach Hause gegangen. Ich habe zu den deutschen Kollegen gesagt: 'Ich bleibe bei meinen Leuten, ich kann sie nicht alleine lassen. Die Firma soll aber nicht meinen, dass ich dort mitmache! Ich kenne die Gesetze. Als Betriebsrat darf ich das nicht. Ich bleibe einige Tage mit den anderen hier, ich muss dabei sein, damit das nicht in eine falsche Richtung geht. Das soll aber niemand falsch verstehen! Ich helfe der Firma Ford – nicht mir selbst und nicht nur den Leuten.' Der Betriebsrat spielte also auch eine Rolle, aber nicht offiziell, das durfte er nicht." Auslöser für den Streik war die Ankündigung des damaligen Ford-Personalvorstands Horst Bergemann, 300 Arbeiter aus der Türkei fristlos zu entlassen, weil sie bereits zum wiederholten Mal verspätet und ohne ärztliche Krankschreibung aus den Werksferien an ihre Arbeitsplätze in den Ford- Hallen zurückgekehrt waren. Die Streikenden fordern, dass die Kollegen weiterbeschäftigt werden. Die angedrohte Entlassung ist jedoch nur der Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt.
Anfang der 70er-Jahre stammen 38 Prozent der Gesamtbelegschaft bei dem Kölner Automobilhersteller aus der Türkei; am Fließband sind es sogar neun von zehn. Die türkischen Arbeiter werden für die unbeliebteren, monotonen und schmutzigeren Tätigkeiten eingesetzt, die häufig weniger gut bezahlt sind und für die es keine Zulagen gibt. Zeitzeugen, deutsche wie türkische, berichten, dass die Arbeiter aus der Türkei sich über ihre Lage nie beschwert hätten. Im Gegenteil – die türkischen Kollegen stehen in dem Ruf, besonders fleißig, schnell und genügsam zu sein. Was damit zu tun haben mag, dass sie angesichts der strikten Aufenthaltsregelungen davon ausgehen müssen, durch Beschwerden oder Aufbegehren ihre Ausweisung zu riskieren. Auch deshalb kommt der Streik in den Ford-Werken für die deutsche Öffentlichkeit, aber wohl auch für viele türkische Arbeiter selbst überraschend. Erstmals wird ihr zuvor lange ungehörter Wunsch nach besseren Arbeitsbedingungen laut. Über die Betriebsräte, die IG Metall und deren Vertrauensleute hatten die türkischen Arbeiter bereits seit längerer Zeit die Gleichstellung mit deutschen Arbeitern, mehr Lohn und eine Reduzierung der Fließbandgeschwindigkeit gefordert – vergeblich. Den Unmut seiner türkischen Kollegen kann Güldiken nachvollziehen. Die Härten der Fließbandarbeit hat der gelernte Elektriker in den ersten Jahren bei Ford selbst erfahren.
"Die Arbeit am Band ist nicht kompliziert, aber anstrengend. Du darfst keine Pausen machen, das Band läuft einfach immer weiter. Es ist sehr schwer, so zu arbeiten. Man muss sich daran gewöhnen. Ich war der erste Mann am Band, ich musste die Kabel im Motorraum der Autos anbringen. Hätte ich einen Fehler gemacht, wäre es übel gewesen, es hätte mich erwischt. Das Band läuft weiter; ein Kollege macht den nächsten Schritt. Aber er kann nur arbeiten, wenn ich meine Sachen schon gemacht habe. Die deutschen Kollegen haben zu uns gesagt: 'Wenn ihr so weiterarbeitet, wird der Meister immer mehr Leute vom Band abziehen.' Weil wir so schnell gearbeitet haben. Wir hätten dann also weniger Leute gebraucht. Einmal kam einer der deutschen Kollegen mit einer Stoppuhr zu einem von uns, zeigte ihm, wie viel Zeit der eine und wie viel Zeit der andere brauchte. 'Ich verstehe das nicht', sagte der türkische Kollege zu mir, 'ich habe alles richtig gemacht, meine Arbeit ist fertig und sie beschweren sich.'" In der Endmontagehalle Y, für die Güldiken in seiner Funktion als Vertrauensmann im Betriebsrat zuständig ist, arbeiten 5.000 Menschen, mehrheitlich Türken. Er ist einer von ihnen – und gleichzeitig der Firma verpflichtet, die ihm berufliche Perspektiven bietet. Als Mitglied des Betriebsrats steht er zwischen den Fronten. Dass die türkischen Arbeitnehmer – rechtlich und sozial ohnehin benachteiligt – sich durch den Streik mehr Rechte erkämpfen würden, kann er sich nicht vorstellen. Er selbst, so sagt er auch im Rückblick, wäre dieses Risiko lieber nicht eingegangen. Zumal sich die Stimmung im Land gegenüber den türkischen Gastarbeitern, verglichen mit den 60er-Jahren, deutlich gewandelt hatte. Ein zentraler Vorwurf gegen sie lautete, sie trügen mit ihren geringen Ansprüchen dazu bei, das Lohnniveau in Deutschland zu drücken.
Über eine Dekade nach der Ankunft der ersten Gastarbeiter in Deutschland findet jedoch nun auch bei den türkischen Arbeitskräften ein Bewusstseinswandel statt: Sie haben im Laufe der Jahre erkannt, dass sie für die deutschen Unternehmen wichtig, zum Teil unentbehrlich sind, was ihnen möglicherweise ein neues Selbstbewusstsein beschert. Gleichzeitig erkennen immer mehr von ihnen, dass sie wohl so bald nicht in die Türkei zurückkehren werden. Zum Teil haben sie ihre Frauen und Kinder bereits nachgeholt oder in Deutschland Familien gegründet. Auch deshalb wachsen ihre Ansprüche auf eine angemessene Entlohnung; aber auch weil sie in Deutschland und anderen europäischen Ländern miterlebt haben, dass Forderungen dieser Art in einer Demokratie Gehör finden.
In der deutschen Öffentlichkeit ist zu der Zeit zunehmend von den sozialen Problemen der aus der Türkei zugewanderten Menschen die Rede, von den Folgen ihrer "Ghettoisierung" in den Städten. Und erstmals stellt sich die Frage, was diese Entwicklung für die deutsche Gesellschaft bedeutet. Die offenen Arme, mit denen die türkischen Arbeitskräfte in den 60er- Jahren willkommen geheißen wurden, verschränken sich zunehmend. Misstrauen, zum Teil feindlich gesinnt, macht sich breit in einer Zeit, in der der Wirtschaftsaufschwung in der Bundesrepublik deutlich an Fahrt verloren hat.
Salih Güldiken ist damals der Meinung, dass die türkischen Arbeitnehmer der negativen Stimmung und der schlechteren wirtschaftlichen Lage mit Vorsicht und unvermindertem Arbeitseinsatz begegnen sollten. Dass seine Kollegen ihre Chancen – und ihren guten Ruf – in Deutschland aufs Spiel setzen könnten, bereitet ihm Sorge.
"Wenn etwas Schlimmes passiert wäre, hätten nachher alle gesagt: 'Das haben die Türken bei Ford gemacht.' Davor hatte ich große Angst. Ich habe zu meiner Frau gesagt: 'Ich komme nicht nach Hause, ich bleibe im Betrieb, bis es vorbei ist.' Für mich war es sehr schwer, ich war ja verantwortlich. Wenn etwas passiert wäre, wäre ich verantwortlich gewesen. Die türkischen Kollegen haben angefangen, das stimmt, aber es waren auch deutsche und italienische Kollegen dabei." Nach kurzer Zeit bekommt der Streik eine andere, politisch angefachte Dynamik. Längst sind nicht mehr nur Werkskollegen auf dem Gelände, sondern linke, prokommunistische Gruppierungen. Von anfangs 60 Kollegen steigt die Zahl im Laufe von nur einem Tag auf etwa 2.000. Zu den Wortführern gehört der Deutsch sprechende Ford-Mitarbeiter Baha Targün.
"Am zweiten Tag kam eine Gruppe von außen dazu. Sie hatten sich außerhalb von Ford organisiert und besetzten die Werktore. Man kam nur noch durch, wenn man seinen Ausweis zeigte. Das war ein Zustand! Die Türken hatten die Kontrolle übernommen, Anhänger türkischer kommunistischer Gruppierungen! Sie wollten Unruhe stiften gegen die Kapitalisten. Wir hatten richtig Angst. Wir hatten das nicht mehr im Griff.
Baha Targün hatte sich zum Anführer gemacht. Er lief ständig mit einem Megafon herum: 'Wir müssen aufpassen! Von draußen dürfen keine Leute reinkommen.' Er wollte die Kontrolle behalten. Es hätten ja noch ganz andere Gruppen hereinkommen können. Als einer der Chefs einmal kam, seinen Namen nannte und hineinwollte, ließen sie ihn nicht durch. 'Wir kennen Sie nicht', sagten die Männer zu ihm, 'zeigen Sie uns Ihren Ausweis!' Baha Targün – den Namen vergesse ich nicht." Den Betriebsrat Güldiken stört vor allem, dass die Arbeitsniederlegung als "wilder Streik" vollzogen wird, ohne Ankündigung und unabhängig von den Gewerkschaften. Zu wilden Streiks großen Ausmaßes kam es Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre auch in anderen europäischen Ländern; nach deutscher Rechtsauffassung sind sie rechtswidrig. Die Alternative: ein Warnstreik im Einvernehmen mit der Betriebsleitung.
"Man kann ja streiken, manchmal muss man das sogar. Wir haben das häufiger gemacht. Aber vorher habe ich immer mit unserem Meister gesprochen. 20, 30 Minuten haben wir die Bänder angehalten, mit den Arbeitgebern für mehr Geld verhandelt oder bessere Arbeitsbedingungen gefordert. Manchmal haben wir die Bänder nur 10 Minuten angehalten. Was wäre sonst passiert? Die Autos wären ohne Dach in die Lackierung gefahren und hätten gebrannt, oder solche Dinge. Was das für einen Schaden verursacht hätte! Die ganze Firma wäre kaputtgegangen. Wir haben dem Meister immer gesagt: 'Halten Sie die Bänder an, 10 Minuten.' Anders geht das nicht. Das ist das System. Wenn man das nicht anmeldet, richtet man Schaden an; wenn jemand eine Woche oder zehn Tage länger in der Türkei bleibt, ohne der Firma Bescheid zu geben, laufen die Bänder nicht.
Das mit dem großen Streik war jedenfalls nicht meine Idee, und zum Glück haben wir so etwas nie wieder erlebt. Gott sei Dank ist nichts passiert. Vor den Werkstoren kamen sie am Ende nochmal zusammen. Dann war es vorbei. Der berühmte Streik von 1973..." Als die Polizei den Ausstand sechs Tage später beendet, scheinen sich Güldikens schlimmste Befürchtungen zu bewahrheiten. Von den Medien wird die Auseinandersetzung weniger als Arbeitskampf betrachtet, sondern vielmehr als ein gesellschaftlicher oder kultureller Konf likt – mit ungleich starken Akteuren. Die Bild-Zeitung hetzt Ende August 1973: "Gastarbeiter, dieses Wort kommt von Gast. Ein Gast, der sich nicht so beträgt, gehört vor die Tür gesetzt!" Güldiken erinnert sich an eine Reihe ähnlicher Schlagzeilen, einige Artikel hat er aufbewahrt. Wörtlich zitieren möchte er sie lieber nicht mehr.
"In den Zeitungen haben sie alle über die Türken geschimpft, niemand hat über die Italiener geschimpft oder über die Deutschen, die haben ja auch mitgemacht. Die Leute von draußen haben die Arbeiter beeinflusst. Aber in den Augen der Öffentlichkeit war es ein 'Türken-Streik'." Die Forderungen nach Gleichstellung und mehr Lohn bleiben unerfüllt, hunderte von Entlassungen folgen. Der Streik fällt zudem in eine Zeit, in der eine neue Phase der deutsch-türkischen Beziehungen beginnt. Kurz nach Beendigung des Streiks tritt – nach wochenlangen Vorbereitungen – am 23. November 1973 der Anwerbestopp in Kraft. Ein Ende 1973 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichter Kommentar bezeichnet dies als Endpunkt einer "ohnehin wünschenswerten Entwicklung".
In den folgenden Jahren gehen viele Türken dahin zurück, wohin sie nach Meinung vieler Deutscher gehören – in ihr Herkunftsland die Türkei. Güldiken bleibt – und er wird sich immer wieder gegen ausländerfeindliche Aussagen und Übergriffe zur Wehr setzen. Seine einflussreiche Stellung als Betriebs- und Aufsichtsrat kommt ihm dabei zugute – und bringt ihm immer wieder Kritik aus den Reihen der türkischen Arbeiter ein. Er sitzt zwischen den Stühlen: als Vermittler zwischen der Macht, den Entscheidungsträgern, und der Basis. 1986 überreicht er Richard von Weizsäcker bei einem Empfang einen Brief, in dem er die Probleme seiner Landsleute konkret benennt. Zuvor hatte er den Brief an den Bundespräsidenten in Kopie an die anwesenden Medienvertreter verteilt, damit diese sein Anliegen kannten und publizieren konnten.
Auch richtet Güldiken zahllose Briefe an offizielle Vertreter der Stadt Köln, des Landes NRW, der Bundesregierung, der türkischen Regierung, an Sendeanstalten und auch Wohnungsbaugesellschaften. Wenn in den Medien falsch, nachteilig oder herabsetzend über in Deutschland lebende Türken berichtet wird, verfasst Güldiken Leserbriefe. Nach den gezielt türkenfeindlichen Anschlägen in Solingen, Mölln und anderen deutschen Städten in den 90er-Jahren, bei denen mehrere Angehörige türkischer Familien getötet werden, ruft Güldiken die Vertreter der Politik und der Gewerkschaften, aber auch die deutsche Öffentlichkeit dazu auf, sich an Aktionen gegen Ausländerfeindlichkeit zu beteiligen.
Die Familie von Salih Güldiken stammt aus Ortaköy, einem Istanbuler Viertel, in dem vor allem in der osmanischen Zeit viele Juden, Griechen und Armenier lebten. Bis heute stehen dort Kirchen, Synagogen und Moscheen nah beieinander. Von sieben Geschwistern ist er der Einzige, der sich für eine Arbeitsstelle in Deutschland bewarb. Seiner Mutter musste er versprechen, sie mindestens einmal im Jahr zu besuchen, was er fast immer geschafft hat, bis zu ihrem Tod in den 90er-Jahren. Als er 1962 seine Heimat verlässt, ist Salih Güldiken noch nicht verheiratet. Deshalb habe ihn auch nicht so großes Heimweh geplagt, wie viele andere seiner Kollegen.
"Wer zu Hause eine Familie hatte, Kinder, eine Frau, für den war es besonders schwer. Ich habe Leute gekannt, die Tag und Nacht geweint haben. So großes Heimweh hatten sie. Viele sind nach ein paar Wochen wieder nach Hause gefahren, sie haben es nicht ausgehalten. Sie waren ja zum ersten Mal in einem fremden Land, konnten kein Wort Deutsch. Sie konnten beim Einkaufen nicht erklären, was sie wollten. Das hatten sie sich vorher nicht vorgestellt. Sie haben also zwei, drei Wochen oder zwei, drei Monate gearbeitet, geweint und sind wieder in die Türkei gegangen. Ford hat diesen Kollegen die Heimreise bezahlt. Das war kein Problem. Vielleicht konnten sie die Männer verstehen." Der Zusammenhalt unter den türkischen Kollegen ist stark. An den Wochenenden verbringen die Männer ihre freie Zeit gemeinsam. Wenn sie am Rhein oder durch Köln spazieren gehen, tragen die jungen Unverheirateten schicke Anzüge. Ohne Krawatte wären sie nie losgegangen, erzählt Güldiken. Viele dieser Ausflüge hat er mit einer Zeiss Ikon festgehalten, die er sich von seinem ersten Geld gekauft hat. Ein deutscher Kollege hatte ihm den Apparat empfohlen. "Schauen Sie sich diese türkischen Casanovas an!", sagt er beim Anblick der Fotos, die ihn zusammen mit damaligen Arbeitskollegen zeigen. Die meisten seiner Freunde stammten, wie er selbst, aus den großen Städten in der Türkei. Aber es waren auch Italiener, Spanier und Deutsche darunter, und einige aus den dörflichen Regionen in Anatolien.
"Der Treffpunkt war immer der Hauptbahnhof. Wir haben einen Tag und eine Uhrzeit ausgemacht, wann wir uns wieder im Bahnhof treffen würden. Darum sagten die Leute: 'Die Türken gehen immer zum Bahnhof.' Der Bahnhof war die wichtigste Ecke für uns. Meistens waren wir nur eine kleine Gruppe, fünf oder sechs Leute. Aber jeder brachte auch mal andere mit, auch deutsche Kollegen, die neugierig waren, was wir da machten. Zu mir haben sie immer gesagt: 'Was, du bist Türke? Einen blonden Türken habe ich noch nie gesehen!' Mein Bruder und meine Schwester hatten auch helle Haare." Der Kölner Hauptbahnhof ist ein idealer Treffpunkt, weil er zentral liegt und es im Winter dort warm ist, anders als in den Mehrbettzimmern der häufig heruntergekommenen Wohnheime, in denen die meisten Gastarbeiter, zumindest in den ersten Jahren, untergebracht sind.
"Als wir mit dem Zug aus München in Köln ankamen, war es mitten in der Nacht. Das Deutsche Rote Kreuz war da, sie haben alles vorbereitet. Ein Mann hat unsere Namen von einer Liste abgelesen. Wir wurden in Gruppen aufgeteilt. Unsere Gruppe wurde in Häuser gebracht, die im Ersten Weltkrieg gebaut worden waren. Ford hatte sie für die Türken, die als Gastarbeiter kamen, gemietet.
Morgens mussten wir um vier Uhr aufstehen. Duschen, rasieren, anziehen. Der Bus wartete draußen. Um sechs Uhr ging die Arbeit los. Ich habe das nicht gut ertragen. Wir schliefen in Etagenbetten. Die anderen in meinem Zimmer haben oft in anderen Schichten gearbeitet. Sie kamen also nach Hause, wenn ich gerade schlief. Ich konnte überhaupt nicht mehr ruhig schlafen. Schlimm war auch, dass es im Winter schon wieder dunkel war, wenn wir von der Arbeit kamen. Ein Kollege von mir wohnte in einem neueren Heim in Köln- Deutz. Sie waren zu fünft in ihrem Zimmer, für einen war also noch Platz. Er sprach für mich mit dem Hausmeister, und ich konnte wenig später dort einziehen. Das war besser. Von dort zog ich nach Köln-Mauenheim. Dort hatte Ford neue Häuser gekauft, mit vier oder fünf Etagen." Anfang der 70er-Jahre unterhält das Unternehmen Ford in der Region Köln 30 Wohnheime, in denen die Arbeiter aus der Türkei weitgehend unter sich bleiben. Die Heime liegen meist in Gegenden mit vielen sanierungsbedürftigen Bauten, aus denen die Einheimischen mehr und mehr wegziehen. Auch am Arbeitsplatz bleibt der Kontakt zu den deutschen Kollegen häufig wegen sprachlicher Probleme sehr begrenzt. In den Hallen von Ford arbeiten zeitweise rund 12.000 Türken.
"Wir konnten überall Türkisch reden. Mit dem Deutschen hatten deshalb viele auch nach Jahren noch Probleme. Wegen der Sprache konnten die deutschen und die türkischen Kollegen auch nicht wirklich miteinander befreundet sein. Aber ich wusste: 'Wenn ich nicht am Fließband bleiben will, wenn ich aufsteigen will, muss ich Deutsch können.' In meinem eigentlichen Beruf als Elektriker konnte ich bei Ford nicht arbeiten. Ich hatte zwar alle meine Unterlagen übersetzen lassen, aber sie haben gesagt: 'Hier gibt es keinen Beruf, das ist Fließbandarbeit. Einen Beruf können wir hier nicht gebrauchen.'
Nach einer Woche in Deutschland habe ich mir also gesagt: 'Salih, du musst diese Sprache lernen, und zwar wie ein Deutscher sie beherrscht.' Die deutschen Kollegen haben zu mir gesagt: 'Du musst Nachrichten gucken, jeden Abend! Egal, ob du alles verstehst oder nicht. Dort sprechen sie das beste Deutsch.' Kölsch ist natürlich etwas anderes, da sagt man nicht ich, sondern isch und solche Dinge. Aber ich machte kaum Fortschritte. Da habe ich meinen Arbeitskollegen Hans gefragt, was ich machen soll. Er erzählte mir von der Volkshochschule am Neumarkt, dass dort Deutschkurse angeboten wurden. Drei Monate dauerten sie, dann kam die nächste Stufe. 'Dort gehst du hin und meldest dich an', sagte Hans. So habe ich das gemacht. Mit meiner Wechselschicht passte das zum Glück gut zusammen. Auch bei Ford in den Hallen habe ich viel Deutsch gesprochen. Bei der Arbeit fragte Hans mich immer: 'Was ist das?' – 'Eine Schraube.' – 'Richtig.' Wenn ich etwas Falsches sagte, musste ich weiterüberlegen; er hat mir nicht sofort das richtige Wort gesagt.
Der Meister hat mich dann immer gerufen: 'Salih, komm mal her! Der Kollege hier versteht nicht, was ich ihm gesagt habe!' Ich sagte zu ihm: 'Aber wer macht in der Zeit meine Arbeit?' Unser Meister sorgte also dafür, dass jemand anders für mich am Fließband stand, wenn ich gerufen wurde. So bin ich Dolmetscher geworden; ich bekam eine Zulage von 25 Pfennig in der Stunde und musste nicht mehr den ganzen Tag am Band stehen."
Seinem Unternehmen leistet er damit eine wertvolle Hilfe. Da die meisten deutschen Betriebe sich keine professionellen Übersetzer leisten, werden überall Arbeiter von der Werkbank für alltägliche Vermittlungsarbeiten rekrutiert. Die "Gastarbeiter-Dolmetscher" sorgen für eine enorme Arbeitserleichterung und Zeitersparnis. Das Geld, das sie dafür zusätzlich bekommen, ist ein spärlicher Betrag. Die meisten fühlen sich aber offenbar ausreichend dadurch belohnt, dass sie auf diese Weise vom Fließband oder anderen monotonen Arbeiten wegkommen. Nebenbei verbessern sie ihre Sprachkenntnisse – und erfahren eine besondere Aufmerksamkeit bei den deutschen Kollegen und den Entscheidungsträgern in den Unternehmen.
"1972 wurde ich zum ersten Mal zum Betriebsrat gewählt. Ein paar Jahre später, 1978, haben sie zu mir gesagt: 'Hier gibt es etwa 7.000 Türken. Wir haben vor, Kollege Güldiken, dich in den Aufsichtsrat zu bringen.' Sechs, sieben andere türkische Kollegen standen außerdem zur Wahl. Ich wurde dann das erste türkische Mitglied im Aufsichtsrat eines deutschen Unternehmens. Es hat mir Spaß gemacht, mit Menschen zu arbeiten, zu helfen. Das war mein Hobby. Anfangs habe ich allerdings häufiger die Nerven verloren. Zehn Mann kamen manchmal gleichzeitig in mein Büro, alle wollten meine Hilfe. Da sagte Hans zu mir: 'Salih, wir holen einen zweiten Mann. Kennst du jemanden, der etwas Deutsch kann?' Ich nannte ihm jemanden, von da an ging es besser. – Viele Kollegen haben gesagt: 'Wenn ich krank bin, zahlt das die Krankenkasse, also melde ich mich krank.' Das ist aber falsch! Das habe ich ihnen auch gesagt. Wenn jeder macht, was er denkt und was er will, können wir keine Autos mehr bauen. Und wir verlieren alle unsere Arbeitsplätze. Das geht doch nicht. – Meine Aufgabe war es, das den Menschen zu erklären, ob sie nun Italiener, Türken oder Deutsche waren: Jeder soll seine Arbeit machen. Wenn einer ein Problem hat, soll er mir das sagen, dann sprechen wir darüber, zusammen mit dem Meister. Aber das ist unsere Arbeit, hier verdienen wir unser Brot. Wenn unsere Autos sich gut verkaufen, bekommen wir auch gutes Geld dafür. Deshalb müssen wir aufpassen.
Anfangs hat jeder Meister seinen Arbeitern das Geld selbst gegeben – in einem Umschlag. 'Salih Güldiken! Mustafa...!' – so ging das. So wurde das Geld verteilt. Auf ein Konto überwiesen wurde das Geld erst später. In den ersten Jahren hatten wir alle kein Konto. Irgendwann mussten wir alle ein Konto eröffnen. Das muss so Ende der 60er-Jahre gewesen sein. Die türkischen und italienischen Arbeiter haben nicht immer das gleiche Geld verdient wie die deutschen Kollegen. Aber das geht auch nicht. Wenn wir aus der Türkei kommen, hier anfangen zu arbeiten, können wir nicht sofort das Gleiche verdienen wie ein deutscher Kollege, der schon seit zehn Jahren hier arbeitet. Das geht erst mit der Zeit. Die IG Metall hat dann jedes Jahr Verhandlungen mit den Arbeitgebern geführt." Mit der Zeit stellen sich die deutschen Unternehmen zunehmend auf die Arbeiter aus der Türkei ein. Dass die religiösen Bedürfnisse der muslimischen Arbeitnehmer eine Rolle spielen, müssen die deutschen Arbeitgeber von Leuten wie Güldiken vermittelt bekommen.
"Ich persönlich brauchte keinen Gebetsraum, aber für viele der Kollegen war das wichtig. Ich habe deshalb zu meinem Meister gesagt: 'Kommen Sie in der Mittagszeit mal runter in die Halle und schauen Sie selbst!' Dort saßen überall die türkischen Kollegen und beteten – zwischen den herumfahrenden Gabelstaplern. Ich erklärte unserem Meister: 'Ich weiß, dass das hier keine Moschee ist. Aber wie kann ich dulden, dass die Menschen sich in Gefahr bringen, wenn sie in der Halle beten müssen, weil sie keinen anderen Raum haben?' – Er hat das sofort verstanden: 'Gott sei Dank, Herr Güldiken, dass Sie das gesehen haben!' Und wir haben gleich etwas unternommen. Ich habe geholfen, in den Umkleideräumen einen Raum zum Beten freizumachen. Viele deutsche Kollegen fanden das nicht gut, vielleicht fühlten sie sich benachteiligt, aber ich habe zu ihnen gesagt: 'Ich habe das nicht gemacht, weil mir das Spaß macht. Ich möchte vermeiden, dass hier jemand zu Tode kommt.'" Nach Vollendung seines 63. Lebensjahrs geht Salih Güldiken im Jahr 2.000 in Rente. Von den Kollegen, mit denen er damals bei Ford angefangen hat, leben heute vielleicht noch zwei, drei in Köln. Die anderen seien entweder in die Türkei zurückgegangen oder gestorben. Auch seine Frau Resmiye, gebürtig aus Ruse in Bulgarien, die er 1970 in Köln heiratete und die als Näherin erst in Mönchengladbach und später bei Ford gearbeitet hat, ist bereits verstorben. Sie ist in Marmaris begraben. Ein Moscheeverein hat den Rücktransport in ihre Geburtsstadt organisiert.
Seinen 1972 geborenen Sohn Levent führte Güldiken schon zu dessen Schulzeiten bei Ford ein, später machte er dort eine Lehre. Er sollte lernen, wie in den Fabriken gearbeitet wird. Aber er sollte auch studieren, um eine höher qualifizierte Position zu erlangen. Die zwei Jahre später geborene Tochter Özlem schickte Salih Güldiken schon als junges Mädchen in die USA zur Verbesserung ihrer Englischkenntnisse. Beide Kinder haben auf diesen Wegen Erfolg gehabt: Özlem lebt seit nunmehr 25 Jahren mit ihrer eigenen Familie in den USA und arbeitet dort in einem internationalen Pharmaunternehmen. Levent setzt die Familientradition fort und arbeitet als Ingenieur für die Ford-Werke – zeitweise auch in Kocaeli bei Istanbul. In den Bäumen vor Salih Güldikens Wohnzimmerfenster sitzen knallgrüne Vögel mit bunten Schnäbeln. Sein Nachbar, erzählt er, habe die Vögel gekauft, dem seien sie aber weggeflogen und kämen nicht mehr zu ihm zurück.
"Manchmal sind zwanzig, dreißig Vögel draußen zusammen. Das ist dann ganz laut. Aber wie ist das möglich? Die Vögel sind doch aus Afrika! Wie können sie hier überleben? Eigentlich kann das nicht sein – aber die Natur macht das irgendwie, sie haben schon den Winter überlebt. Sie bleiben hier, das ist nun ihre Heimat." So wie Salih Güldiken in Köln-Riehl, wo er seit über dreißig Jahren wohnt, eine Heimat gefunden hat.
Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der bpb-Publikation Auf Zeit. Für immer., Oktober 2011.