Ihr Buch "Die Altersrevolution" vertritt die These, dass die 68er-Generation das Alter revolutionieren wird. Wie soll diese Revolution konkret aussehen?
Rainer Böhme: Das Leben im Alter befindet sich seit kurzem in einem dramatischen Wandel. In Deutschland geht nunmehr eine Generation in Rente, die sich nicht – wie bisher üblich – in Schrebergärten, Schützenvereine und Seniorenheime zurückzieht, die weder sparsam, genügsam und angepasst die verbleibenden Jahre ihres Lebens "verbringen" will und deren Leben im Alter von Rückzug und zunehmender Isolation bestimmt wird. Vielmehr wird sich diese Generation der neuen Alten daran machen, das Alter als einen überaus aktiven, selbstbestimmten und sogar zukunftsorientierten Lebensabschnitt zu revolutionieren. Dabei profitieren sie natürlich vom medizinischen Fortschritt.
Anzeichen für diese Veränderung gibt es genug – man muss nur einmal genauer hinschauen. Was früher der Tanztee war, ist heute die Ü-30-Party – dort treffen Sie diese Generation. Das Tabu-Thema "Sex im Alter" wird gerade gebrochen, nicht zuletzt dank Viagra und der Filmindustrie, die die neuen Alten gerade für sich entdeckt hat. Deutschlands Metropolen erleben derzeit einen deutlichen Zuzug durch die neuen Alten – weil sie gerade dort – und nicht im Häuschen auf dem Lande – im Alter das finden, was sie für diesen Lebensabschnitt suchen: ein möglichst großes Angebot an Bildung, Kultur, Gastronomie, Sport, Konsum und neuen Wohnformen wie Alters-WG und Mehrgenerationenhäuser. Aber das sind nur die Vorboten.
Wir werden erleben, wie sich in den kommenden Jahren die Diskussion um die körperliche wie geistige Leistungsfähigkeit älterer Menschen deutlich verstärken wird. Wir werden erleben, wie sich eine neue Wertediskussion entwickeln wird über die Diskriminierung von Alter in der Gesellschaft. Wir werden erleben, dass das Thema Generationengerechtigkeit immer stärker in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion schieben wird, Beispiele wie jüngst die ZDF-Serie "2030 – Aufstand der Alter" war da nur die Vormusik.
Als Jugendliche machten die 68er lautstark auf ihre Interessen aufmerksam. Warum sollten sie damit im Alter aufhören? (© AP)
Als Jugendliche machten die 68er lautstark auf ihre Interessen aufmerksam. Warum sollten sie damit im Alter aufhören? (© AP)
Und wir werden erleben, wie die neuen Alten sich verstärkt zu Wort melden werden in Parteien, Bürgerinitiativen und Aktivgruppen, wie sie Wert legen werden auf die Weitergabe ihres Wissens und ihrer Erfahrung, und, nicht zu vergessen, immer stärker ins Blickfeld von Werbung und Konsum geraten werden. Und das alles hat zu tun mit dem Selbstverständnis dieser Generation, der Generation der 68er.
Warum soll gerade die 68er Generation das Alter revolutionieren?
Rainer Böhme: Die Generation der 68er definieren wir als die Jahrgänge zwischen 1940 und 1950. Rund acht Millionen Menschen gehören dieser Altersgruppe an, die nunmehr in den Ruhestand vorrückt. Nun, nach fast vierzig Jahren, soll diese Generation die Institutionen verlassen, durch die zu marschieren sie angetreten war und in denen sie mal mehr, mal weniger erfolgreich gewirkt hat: Politik, Wirtschaft, Justiz, Bildung, Kultur. Stets und ständig wollte sie "die Gesellschaft" verändern – und wer glaubt, sie würden im Alter von diesem Vorsatz lassen, der dürfte sich einer Illusion hingeben.
Die 68er haben es geschafft, gegenüber anderen Generationen eine Führungsrolle zu übernehmen. Sie haben das kulturelle, politische und soziale Deutschland mehr verändert als andere Altersgruppen. Denn sie bilden eine Generationen- und Erinnerungsgemeinschaft. Der Soziologe Helmut Schelsky hat bei der Definition einer Generationengestalt auf das Zusammenwirken von Generationenelite und Generationenmasse hingewiesen. Werden die Deutungsmuster und Lebensvorstellungen von vielen geteilt, entsteht eine Generation mit einem stark verinnerlichten Zeitgeist. Dies ist bei den 68ern im Unterschied zu Pseudo-Generationengemeinschaften wie der "Generation Golf" ganz klar der Fall.
Entscheidend ist dabei, dass diese Generation so etwas wie einen kollektiven Habitus – eine Art Kollektiv- oder Gemeinschaftsseele – entwickelt hat, der ermöglicht wurde durch gemeinschaftliche Wert- und Normvorstellungen, einen ähnlichen Mode-, Musik-, Kunst- und Literaturgeschmack. Und dieser Habitus steht in krassem Gegensatz zum bisherigen Altersbild der Gesellschaft. Diese Generation wird sich genau gegen dieses antiquierte Altersbild zur Wehr setzen und den bisherigen Altersbegriff aktiv abschaffen.
Müssen wir mit einer "aufmüpfigen" Rentnergeneration rechnen, die sich stärker als bisherige Rentnergenerationen in das öffentliche Leben einmischt und ihre Anliegen lauter vorträgt - eventuell auch gegen die Interessen der Jüngeren?
Rainer Böhme: Aber unbedingt! In ihrer Jugend haben die 68er das Alter bekämpf, nun, im Alter, werden sie den Jugendwahn bekämpfen. Unbequem, aufmüpfig, theoriebeladen, konfliktbesessen, rebellisch: So haben sie die Republik geprägt, und so werden sie auch dem Alter ihren Stempel aufdrücken. Sie werden einen Mentalitätsbruch herbeiführen durch den Protest gegen die bisherigen, für sie überkommenen Vorstellungen von diesem Lebensabschnitt. Und sie werden sich und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, allein schon eingedenk ihrer Lieblingsvokabel "selbstbestimmt". Wir erleben dies ganz aktuell bei der zunehmenden Debatte über einen selbstbestimmten Tod. Die Mittel für diese Revolution werden sie besitzen.
Da wäre das ökonomische Kapital aus Eigentum an Bar- und Sachvermögen, Einkünften aus Abfindungen und Pensionen und nicht zuletzt Erbschaften. Diese Generationen, so schätzen Experten des Statistischen Bundesamtes, erben in den nächsten Jahren rund eine Billion Euro – das entspricht dem Dreifachen des Bruttosozialproduktes der Schweiz und dem jährlichen Bruttosozialprodukt von Dubai. Und sie ist bereits heute die Alterskohorte mit einem der höchsten verfügbaren Einkommen.
Weiterhin verfügen sie über das kulturelle Kapital für die beschriebene Veränderung durch ihre Gruppen- und Protesterfahrung aus Studentengremien, Versammlungen, Vorständen und Aufsichtsräten, Konflikterfahrungen aus Partei, Bürgerbewegungen, Demonstrationen, Hausbesetzungen, Elternbeiräten, Parlamenten und Synoden. Und schließlich verfügen sie über das soziale Kapital durch ihre Netzwerke aus Alt-68er-Weggefährten und Kampfgenossen, aus Verbands- und Parteizugehörigkeiten, Medienzirkeln, Rotary- und Lions-Clubs. Unter Einsatz dieser Ressourcen werden sich die neuen Alten daran machen, die Kategorien Jugend und Alter aufzulösen und ein Klima zu erzeugen, in dem die daraus resultierenden Gegensätze in einem altersübergreifenden Zeitgeist untergehen – und die demographische Entwicklung wird ihnen dabei in die Karten spielen.
Schon in den 60er Jahren nahm nur ein Bruchteil der 68er-Generation aktiv an den Protesten teil. Wird nur ein elitärer Teil der Rentner, das Alter revolutionieren?
Rainer Böhme: Wir unterscheiden vier Typen von 68er-Rentnern: die vitalen Genießer, die Aufmüpfigen oder Renitenten, die Deprimierten und die Traditionellen. Unter den vitalen Genießern werden sich rund ein Viertel der 68er-Rentner einordnen lassen. Sie lassen sich durch Ausgeglichenheit, Zufriedenheit, Aktivität, Kontaktfreudigkeit und eine positive Einstellung gegenüber dem Alter charakterisieren. Sie demonstrieren auch im Alter eine hohe Risikobereitschaft, sind qualitätsorientiert und blicken auf eine lange Lebenserfahrung zurück. Sie haben kräftig konsumiert und mindestens eine Scheidung hinter sich. Im aktiven Leben zählten sie zur deutschen Elite, kennen die Welt und sind ausgesprochen selbstbewusst.
Der zweiten Gruppe, den Aufmüpfigen oder Renitenten, gehören knapp zehn Prozent dieser Altersgruppe an. Sie sind Ich-bezogen, auf den eigenen Vorteil und Geltung bedacht und neigen zur Rebellion. Ihr Markenzeichen ist eine besondere Form von Jugendlich- und Sportlichkeit (Forever-Young-Syndrom) und haben "die Unfähigkeit zu altern". Sie treffen sie heute u.a. bei Attac und bei der Linkspartei in Westdeutschland.
Der dritten Gruppe, den Deprimierten, werden sich knapp 20 Prozent der 68er-Ruheständler zugehörig fühlen. Sie empfinden das Alter als Last und haben eine tendenziell negative Einstellung zu ihrem Körper. Außerdem zeichnet sie ein Preisbewusstsein aus, das aber, wenn es die Gesundheit betrifft, einer Qualitäts- und Markenorientierung weicht. Sie kaufen ihre Produkte nicht im Bioladen, sondern bei Aldi und Lidl, und verbringen den Urlaub im eigenen Garten oder auf dem Balkon. Das Politikinteresse richtet sich auf "Tagesschau", den "Monitor", "Aspekte" und die Regionalzeitung.
Die vierte Gruppe schließlich, die Traditionellen, stellen fast die Hälfte der 68er-Senioren. Sie werden nach der Devise leben: "Ich bin so alt, wie ich mich fühle." Zu diesem Typus zählen alle, die damals modische Mitläufer waren oder auf der anderen Seite standen oder sich später distanzierten. Sie strebten damals nicht den langen Marsch an, sondern widmeten ihre Lebenszeit gleich ihrer Karriere.
Wir haben es also mit vier unterschiedlichen Typen und Lebensweisen zu tun. Mit dem bisherigen Bild vom Alter freilich wird ihre jeweilige Lebensweise nichts mehr zu tun haben.
Die Fragen stellte Stephan Trinius (Volontär im Fachbereich Multimedia der bpb).